Entscheidungsdatum: 08.05.2018
1. Nach dem im Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verankerten Grundsatz, dass der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden darf, ist der Bürger berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen auszuschöpfen. Dieser Grundsatz darf nicht dadurch ausgehebelt werden, dass der Rechtsuchende sich für die Ausschöpfung der Frist rechtfertigen muss, um einen Wiedereinsetzungsgrund gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist glaubhaft zu machen.
2. Eröffnet ein Gericht die Möglichkeit der Weiterleitung von Schriftstücken an das zuständige Gericht, so genügt der Anwalt seinen Sorgfaltspflichten bereits dann, wenn er einen fristgebundenen Schriftsatz so rechtzeitig abgibt, dass er einen fristgemäßen Eingang beim zuständigen Gericht mit Sicherheit erwarten darf (Anschluss an BGH, Beschluss vom 29. März 2017, XII ZB 567/16, NJW-RR 2017, 687 Rn. 10 mwN).
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 29. Dezember 2016 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 23. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg vom 2. Juni 2016 als unzulässig verworfen worden ist.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Beschwerdewert wird auf bis zu 350.000 € festgesetzt.
I.
Die Klägerin nimmt die beklagte Krankenhausträgerin wegen ärztlicher Behandlungsfehler auf Schadensersatz in Anspruch.
Das klageabweisende Urteil des Landgerichts wurde der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 6. Juni 2016 zugestellt. Die Klägerin legte rechtzeitig Berufung ein. Die Berufungsbegründungsfrist wurde antragsgemäß bis zum 5. September 2016 verlängert. Eine Berufungsbegründung ging bis zum Ablauf dieser Frist nicht ein. Mit Beschluss vom 13. September 2016 wies das Berufungsgericht die Klägerin darauf hin, dass beabsichtigt sei, die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Dieser Beschluss wurde der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 21. September 2016 zugestellt. Am 5. Oktober 2016 beantragte die Klägerin, ihr Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist zu gewähren, am 18. Oktober 2016 legte sie dem Oberlandesgericht eine auf den 1. September 2016 datierte Berufungsbegründung vor.
Die Klägerin macht geltend, ihre Prozessbevollmächtigte, die dies anwaltlich versichert, habe die an das Oberlandesgericht adressierte Berufungsbegründung am 1. September 2016, einem Donnerstag, gegen 18 Uhr persönlich in den Außenbriefkasten des Amtsgerichts Hamburg-Altona eingeworfen. Es habe der bisherigen jahrelangen Übung dieses Amtsgerichts entsprochen, die eingehende Post spätestens am Folgetag zu sortieren und die an die Gerichte am Sievekingplatz, nämlich Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht Hamburg, adressierten Sendungen noch am gleichen Tag zur gemeinsamen Annahmestelle dieser Gerichte beim Amtsgericht Hamburg zu bringen. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe deshalb davon ausgehen können, dass die Berufungsbegründung am 2. September, spätestens aber am 5. September 2016 beim Oberlandesgericht eingehen werde. Tatsächlich sei der Schriftsatz im gerichtsinternen Ablauf verloren gegangen.
Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages als unzulässig verworfen, nachdem es zuvor auf seine Zweifel an dem im Wiedereinsetzungsantrag geschilderten Geschehensablauf hingewiesen hatte.
Zur Begründung führt es aus, die Klägerin habe nicht mit dem für die Glaubhaftmachung erforderlichen Grad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit dargelegt, dass die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht auf einem ihr nach § 85 ZPO zuzurechnenden Versäumnis ihrer Prozessbevollmächtigten beruhe. Verbleibende Zweifel gingen zu Lasten der Klägerin. Die vorliegenden dienstlichen Äußerungen enthielten keine Anhaltspunkte dafür, dass die Berufungsbegründung im Gerichtsbereich verloren gegangen sein könnte. Der Mitarbeiter der Gemeinsamen Annahmestelle habe in seiner dienstlichen Stellungnahme erklärt, der Schriftsatz vom 1. September 2016 befinde sich nicht in der Gemeinsamen Postannahmestelle. Weitere Angaben über dessen Verbleib könnten nicht getroffen werden. Der stellvertretende Geschäftsleiter des Amtsgerichts Hamburg-Altona habe in seiner dienstlichen Stellungnahme den Einwurf der Berufungsbegründung am 1. September 2016 in den Außenbriefkasten des Amtsgerichts Hamburg-Altona weder bestätigen noch ausschließen können. Fehler oder Defekte der Briefkastenanlage hätten nicht vorgelegen. Obwohl zugleich die von der Prozessbevollmächtigen der Klägerin geschilderte Praxis des Amtsgerichts Hamburg-Altona der Weiterreichung eingehender Post u.a. an das Oberlandesgericht durch die dienstlichen Stellungnahmen bestätigt worden sei, könne nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Schluss gezogen werden, die Berufungsbegründungsschrift sei zwar fristgerecht eingeworfen, dann aber gerichtsintern verloren worden. Vielmehr bleibe es trotz der anderslautenden anwaltlichen Versicherung offen, ob die Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Berufungsbegründungsschrift tatsächlich am 1. September 2016 beim Amtsgericht Hamburg-Altona eingeworfen habe. Dagegen spreche, dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin weder auf den Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts vom 13. September 2016 hin noch direkt mit dem Wiedereinsetzungsverlangen die angeblich bereits abgefasste Berufungsbegründung erneut eingereicht habe, sondern stattdessen die Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO annähernd voll ausgeschöpft habe, obwohl für einen bereits abgefassten Schriftsatz in der Sache eine weitere Frist nicht erforderlich sei. Weitere Anzeichen, die den von der Klägerin geschilderten Ablauf glaubhaft machten, fehlten. Die Anwältin habe trotz entsprechender Anregung des Berufungsgerichts in der Hinweisverfügung vom 18. November 2016 auch keine eidesstattliche Versicherung eines mit der Abfassung des Schriftsatzes betrauten Kanzleimitarbeiters vorgelegt. Das mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2016 in Kopie zur Akte gereichte Handaktenblatt, auf dem für den 1. und den 5. September 2016 notierte Fristen abgehakt seien, sei nicht erläutert worden und stütze deshalb den Vortrag der Klägerin zur fristgerechten Absendung nicht. Mit ihrer Rechtsbeschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Verwerfung ihrer Berufung als unzulässig.
II.
1. Die nach § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat durch seine Entscheidung das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt, welches es den Gerichten verbietet, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (Senatsbeschlüsse vom 19. September 2017 - VI ZB 40/16, juris Rn. 6, insoweit nicht abgedruckt in MDR 2017, 1380; vom 12. April 2016 - VI ZB 7/15, VersR 2016, 1073 Rn. 8; vom 5. Juni 2012 - VI ZB 76/11, VersR 2013, 645 Rn. 5 und vom 12. Juni 2007 - VI ZB 76/06, juris Rn. 3; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 227; BVerfGE 41, 323, 326 f.; 41, 332, 334 ff.; 69, 381, 385; BVerfG NJW 1999, 3701, 3702; NJW 2001, 2161, 2162).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Klägerin hat zwar die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Die Begründung des Berufungsgerichts, mit der es den Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen hat, ist jedoch nicht frei von Rechtsfehlern.
a) Da die Klägerin nicht die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründungsschrift beim zuständigen Gericht geltend macht (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Januar 2007 - VIII ZB 75/06, NJW 2007, 1457; vom 9. Juli 1987 - VII ZB 10/86, NJW 1987, 2875), sondern den ausreichend frühen Einwurf bei einem unzuständigen, aber die Weiterleitung übernehmenden Gericht, ist das Berufungsgericht zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass für dieses Vorbringen lediglich Glaubhaftmachung gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderlich ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2015 - II ZB 7/15, NJOZ 2016, 588 Rn. 13).
b) Die Begründung des Berufungsgerichts trägt die Versagung der Wiedereinsetzung nicht.
Wenn - wie hier von der Klägerin anwaltlich versichert - ein fristgebundener Schriftsatz verloren gegangen ist, ist eine Glaubhaftmachung, wo und auf welche Weise es zum Verlust des Schriftstücks gekommen ist, nicht erforderlich (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 11. Juli 2017 - VIII ZB 20/17, BeckRS 2017, 120196 Rn. 11; zuvor bereits Senatsbeschluss vom 16. August 2016 - VI ZB 40/15, NJW-RR 2016, 1402 Rn. 8 sowie BGH, Beschlüsse vom 2. Februar 2017 - VII ZB 41/16, NJW-RR 2017, 627 Rn. 14 und vom 10. September 2015 - III ZB 56/14, WM 2015, 2161 Rn. 14). Es kann vielmehr nur eine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe bis zur rechtzeitigen Aufgabe zur Post bzw. zum rechtzeitigen Einwurf bei Gericht verlangt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2015 - III ZB 56/14, WM 2015, 2161 Rn. 14) als Grundlage für die Glaubhaftmachung, dass der Verlust nicht im Verantwortungsbereich der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten eingetreten ist (BGH, Beschluss vom 2. Februar 2017 - VII ZB 41/16, NJW-RR 2017, 627 Rn. 14 mwN). Den Verlust des Schriftstücks bei der Post oder bei Gericht kann die Partei regelmäßig nicht anders glaubhaft machen als durch die Glaubhaftmachung der rechtzeitigen Aufgabe oder Einreichung.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht der Glaubhaftmachung dieses Geschehensablaufes nicht entgegen, dass die Klägerin den Schriftsatz mit der Berufungsbegründung nicht sogleich mit dem Wiedereinsetzungsantrag, sondern erst wenige Tage vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist eingereicht hat. Die Ansicht des Berufungsgerichts trägt dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht hinreichend Rechnung; sie ist insbesondere mit dem Grundsatz, dass der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden darf, nicht vereinbar. Nach diesem Grundsatz ist der Bürger berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen (vgl. BVerfGE 69, 381, 385; BVerfGE 40, 42, 44; BVerfG NJW 1991, 2076; BGH, Beschluss vom 25. November 2004 - VII ZR 320/03, NJW 2005, 678). Dieser Grundsatz darf nicht dadurch ausgehebelt werden, dass der Rechtsuchende sich für die Ausschöpfung der Frist rechtfertigen muss, um einen Wiedereinsetzungsgrund glaubhaft zu machen. Die Klägerin hätte ohne Rechtsverlust auch ihren Wiedereinsetzungsantrag mit Vorlage der Berufungsbegründung erst zum Ende der Wiedereinsetzungsfrist stellen dürfen.
c) Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat anwaltlich versichert, den Schriftsatz mit der Berufungsbegründung persönlich am 1. September 2016 in den Außenbriefkasten des Amtsgerichts Hamburg-Altona eingeworfen zu haben. Von der Richtigkeit einer anwaltlichen Versicherung ist grundsätzlich auszugehen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2014 - XII ZB 289/14, NJW 2015, 349 Rn. 14). Dies gilt dann nicht, wenn konkrete Anhaltspunkte es ausschließen, den geschilderten Sachverhalt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als zutreffend zu erachten (BGH, Beschlüsse vom 12. November 2014 - XII ZB 289/14, NJW 2015, 349 Rn. 14; vom 1. Dezember 2015 - II ZB 7/15, NJOZ 2016, 588 Rn. 13 mwN). Die Feststellung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit unterliegt dem Grundsatz der freien Würdigung des gesamten Vorbringens, die grundsätzlich Sache des Tatrichters ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2015 - II ZB 7/15, NJOZ 2016, 588 Rn. 17). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil noch weitere Feststellungen möglich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2016 - V ZB 226/12, juris Rn. 15). Wer eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, kann sich nach § 294 Abs. 1 ZPO aller Beweismittel bedienen. In der anwaltlichen Versicherung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist auch ein Angebot zur Vernehmung der Anwältin als Zeugin für den Geschehensablauf zu sehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Dezember 2011 - VII ZB 35/11, NJW-RR 2012, 509, 510; vom 11. November 2009 - XII ZB 174/08, NJW-RR 2010, 217, 218, jeweils mwN).
III.
Das Berufungsgericht wird zu prüfen haben, ob es unter Berücksichtigung der obigen Gesichtspunkte den vorgetragenen Geschehensablauf für überwiegend wahrscheinlich hält. Die Sache ist daher gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Bei der Prüfung wird zu beachten sein, dass ein Einwurf in den Außenbriefkasten des Amtsgerichts Hamburg-Altona am 1. September 2016 grundsätzlich ausreichend sein könnte, um angesichts der bestätigten Gepflogenheiten in der Hamburger Justiz den Eingang beim zuständigen Gericht innerhalb der am 5. September 2016 ablaufenden Frist für die Berufungsbegründung zu gewährleisten. Eröffnet ein Gericht die Möglichkeit der Weiterleitung von Schriftstücken an das zuständige Gericht, so genügt der Anwalt seinen Sorgfaltspflichten bereits dann, wenn er einen fristgebundenen Schriftsatz so rechtzeitig abgibt, dass er einen fristgemäßen Eingang beim zuständigen Gericht mit Sicherheit erwarten darf (BGH, Beschluss vom 29. März 2017 - XII ZB 567/16, NJW-RR 2017, 687 Rn. 10 mwN). Eine indizielle Wirkung der Diktatzeichen für den Zeitpunkt der Anfertigung der Berufungsbegründungsfrist ist fraglich. Die Diktatzeichen der Schriftsätze der Prozessbevollmächtigten der Klägerin wechseln. Selbst wenn die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Schriftsatz nicht selbst diktiert hätte, böte dies für sich genommen kein Indiz dafür, dass der Schriftsatz erst nach dem Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erstellt worden wäre. Aus den Endnummern der Schriftsätze lässt sich auch nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht auf eine chronologische Abfolge der Schriftsätze schließen.
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