Entscheidungsdatum: 22.12.2011
1. Für die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen zu treffenden Feststellungen, ob die Berufungsbegründungsfrist eingehalten ist, gelten die Regeln des Freibeweises. Das gilt auch für den zulässigen Gegenbeweis der Unrichtigkeit einer Datumsangabe in einem Empfangsbekenntnis über die Zustellung der vollstreckbaren Ausfertigung eines erstinstanzlichen Urteils.
2. Trägt der Berufungsführer unter entsprechender eidesstattlicher Versicherung seines Anwalts vor, die Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils sei diesem erst einen Tag nach dem im Empfangsbekenntnis durch handschriftlich eingefügtes Datum bezeichneten Tag zugestellt worden, muss das Berufungsgericht auch ohne einen ausdrücklichen Beweisantritt des Berufungsführers in aller Regel den Anwalt als Zeugen hierzu vernehmen, wenn es die eidesstattliche Versicherung nicht für ausreichend erachtet (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 11. November 2009, XII ZB 174/08, NJW-RR 2010, 217).
Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss des 27. Zivilsenats des Kammergerichts vom 6. April 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 141.563,57 €
I.
Die Kläger nehmen die Beklagte auf Schadensersatz für angeblich mangelhafte ausgeführte Sanierungsarbeiten in Anspruch.
Das Landgericht hat die Klage mit einem am 8. Januar 2009 verkündeten Urteil abgewiesen. Der erstinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Kläger hat mit einem handschriftlich auf den 18. Januar 2008 datierten Empfangsbekenntnis bestätigt, eine Ausfertigung dieses Urteils persönlich zugestellt erhalten zu haben. Mit Schriftsatz vom 12. Februar 2009 haben die Kläger Berufung eingelegt, die sie mit einem am 19. März 2009 per Telefax beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet haben. Das Berufungsgericht hat die Berufung mit Beschluss vom 6. April 2011 wegen der Versäumung der Berufungsbegründungfrist als unzulässig verworfen und ein Wiedereinsetzungsgesuch der Kläger zurückgewiesen. Nach dem Inhalt des von dem Prozessbevollmächtigten der Kläger ausgestellten Empfangsbekenntnisses sei davon auszugehen, dass diesem die erstinstanzliche Entscheidung - unter Korrektur der im Empfangsbekenntnis offensichtlich irrtümlich fehlerhaft angegebenen Jahreszahl - am 18. Januar 2009 zugestellt worden sei. Den ihnen obliegenden Gegenbeweis einer Zustellung des Urteils erst am 19. Januar 2009 hätten die Kläger nicht erbracht. Ihnen sei auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil nicht glaubhaft gemacht sei, dass die Fristversäumung nicht von ihnen oder ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet worden sei.
II.
1. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die auf der unzutreffenden Annahme einer verspäteten Einreichung der Berufungsbegründung beruhende Verwerfung ihrer Berufung als unzulässig verletzt die Kläger in ihren Verfahrensgrundrechten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfG, NJW 1989, 1147; NJW-RR 2002, 1004).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hätte das Rechtsmittel nicht wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verwerfen dürfen (§ 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
a) Die Berufungsbegründungsfrist beginnt gemäß § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, die hier gemäß § 174 Abs. 1 ZPO gegen Empfangsbekenntnis an den Prozessbevollmächtigten des Beklagten erfolgt ist. Das Empfangsbekenntnis erbringt als öffentliche Urkunde (§ 418 ZPO) Beweis nicht nur für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt, sondern auch für den Zeitpunkt der Entgegennahme durch den Unterzeichner und damit der Zustellung (BVerfG, NJW 2001, 1563, 1564, m.w.N.; BGH, Urteil vom 24. April 2001 - VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722, m.w.N.; Urteil vom 18. Januar 2006 - VIII ZR 114/05, NJW 2006, 1206; Beschluss vom 17. April 2007 - VIII ZB 100/05, veröffentlicht bei juris).
b) Nach dem Inhalt des Empfangsbekenntnisses ist die Zustellung des landgerichtlichen Urteils am 18. Januar 2008 bewirkt worden. Dieses Zustellungsdatum ist ersichtlich falsch. Das Urteil ist am 8. Januar 2009 verkündet worden; eine Ausfertigung kann folglich erst danach zwecks Zustellung an den Prozessbevollmächtigten der Kläger versandt worden sein.
c) Das Berufungsgericht hat in Ansehung dieser Zusammenhänge (nur) die Jahresangabe im handschriftlich auf dem Empfangsbekenntnis vermerkten Datum als Schreibfehler behandelt und es nach obigen Grundsätzen als bewiesen angesehen, dass die Urteilsausfertigung dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 18. Januar 2009 zugestellt wurde.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung nicht stand.
aa) Gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufungsbegründungsfrist eingehalten ist. Die hierfür erforderlichen Feststellungen trifft das Gericht im Wege des Freibeweises, für den neben den üblichen Beweismitteln, insbesondere dem Ergebnis von Zeugenvernehmungen, auch eidesstattliche Versicherungen zu berücksichtigen sind. Allerdings bleibt es auch im Rahmen des Freibeweises dabei, dass der dem Rechtsmittelführer obliegende Beweis für die rechtzeitige Einlegung des Rechtsmittels zur vollen, den Anforderungen des § 286 ZPO genügenden Überzeugung des Gerichts geführt sein muss (BGH, Urteil vom 24. April 2001 - VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722; Urteil vom 18. Juni 2002 - VI ZR 448/01, NJW 2002, 3027; Beschluss vom 10. Januar 2006 - VI ZB 61/05, VersR 2006, 568; Beschluss vom 21. Februar 2007 - XII ZB 37/06, veröffentlicht bei juris).
Bei Anwendung dieser Grundsätze erscheint es bereits fraglich, ob die Datumsangabe auf dem Empfangsbekenntnis geeignet ist, Beweis dafür zu erbringen, dass der Prozessbevollmächtigte der Kläger die Urteilsausfertigung am 18. Januar 2009 entgegengenommen hat. Dieses Zustellungsdatum ergibt sich nicht aus der Urkunde. Soweit das Berufungsgericht davon ausgeht, dass lediglich die Jahreszahl in der Datumsangabe irrtümlich falsch, Monat und Tag hingegen zutreffend angegeben seien, beruhen diese Erwägungen auf Feststellungen zu tatsächlichen Vorgängen, die nicht durch die im Empfangsbekenntnis dokumentierte Datumsangabe belegt sind. Ob sie deshalb auch nicht von der Beweiskraft der Urkunde umfasst sind (§ 418 ZPO), kann im Ergebnis dahinstehen. Denn das Berufungsgericht hätte mit Rücksicht auf den entgegenstehenden, durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten Sachvortrag der Kläger, ihr Prozessbevollmächtigter habe die Urteilsausfertigung erst am 19. Januar 2009 zur Kenntnis genommen, ohnehin weitere Sachaufklärung betreiben müssen.
bb) Zur Widerlegung des aus einem Empfangsbekenntnis ersichtlichen Zustellungsdatums ist der Freibeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben zulässig. Dieser Gegenbeweis setzt allerdings voraus, dass die Beweiswirkung des § 174 ZPO vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Datumsangaben im Empfangsbekenntnis richtig sein können; hingegen ist der Gegenbeweis nicht schon dann geführt, wenn lediglich die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist (BGH, Urteil vom 18. Januar 2006 - VIII ZR 114/05, NJW 2006, 1206; Urteil vom 18. Juni 2002 - VI ZR 448/01, NJW 2002, 3027). Deshalb reicht der Beweiswert einer lediglich auf Glaubhaftmachung ausgerichteten eidesstattlichen Versicherung zum Nachweis eines anderen Zustellungsdatums als im Empfangsbekenntnis angegeben regelmäßig nicht aus. Allerdings muss das Gericht dann auf die Vernehmung der in Betracht kommenden Beweispersonen als Zeugen oder auf andere Beweismittel zurückgreifen (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006 - VI ZB 61/05, VersR 2006, 568; Beschluss vom 21. Februar 2007 - XII ZB 37/06, veröffentlicht bei juris).
(1) In diesem Zusammenhang hat das Berufungsgericht übersehen, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehalten war, in der anwaltlichen Versicherung an Eides statt auch ein Angebot zur Vernehmung des Anwalts als Zeugen zu sehen und ihn entsprechend zu vernehmen (BGH, Beschluss vom 11. November 2009 - XII ZB 174/08, NJW-RR 2010, 217, m.w.N.; Beschluss vom 8. Mai 2007 - VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069). Jedenfalls hätte es die Kläger gemäß § 139 Abs. 2 ZPO darauf hinweisen müssen, dass die eidesstattliche Versicherung zum Beweis der Unrichtigkeit der Datumsangabe im Empfangsbekenntnis nicht ausreicht und ihnen Gelegenheit geben müssen, tauglichen Beweis anzutreten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Februar 2007 - XII ZB 37/06, veröffentlicht bei juris, m.w.N.). Beides hat das Berufungsgericht unterlassen und damit den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt.
(2) Die demnach verfahrensfehlerhafte Vorgehensweise des Berufungsgerichts lässt sich nicht damit rechtfertigen, die eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Kläger beziehe sich nur auf Indiztatsachen, die eine Entgegennahme der Urteilsausfertigung bereits am 18. Januar 2009 nicht auszuschließen vermöchten. Dieses Verständnis wird dem Vorbringen der Kläger, dessen Richtigkeit ihr Anwalt an Eides statt versichert hat, nicht gerecht. Ihr Sachvortrag enthält auch die Behauptung, das Schriftstück sei von ihrem Anwalt entgegen der Angaben im Empfangsbekenntnis erst am 19. Januar 2009 entgegengenommen worden; die von ihnen in diesem Zusammenhang angeführten Indiztatsachen dienen erkennbar dazu, gerade diese Behauptung plausibel erscheinen zu lassen. Dass sie allein nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht ausreichen, um das sich aus dem Empfangsbekenntnis ergebende Zustellungsdatum zu widerlegen, durfte es nicht dazu veranlassen, gegebenenfalls nach Hinweis und entsprechendem Beweisantritt, auf die Vernehmung des Anwalts als Zeugen zu verzichten.
3. Da nicht vollständig ausgeschlossen werden kann, dass der angefochtene Beschluss auf diesem Verfahrensfehler beruht, ist die Sache zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
4. Auch soweit das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag der Kläger zurückgewiesen hat, war der Beschluss aufzuheben. Über das Wiedereinsetzungsgesuch darf erst dann entschieden werden, wenn geklärt ist, ob die Berufungsbegründung rechtzeitig bei Gericht eingegangen ist. Diese Klärung steht noch aus.
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