Entscheidungsdatum: 24.09.2013
1. Wenn Verteidigung und Staatsanwaltschaft in Gegenwart der für die Entscheidung zuständigen Richter Anträge zur Strafart und Strafhöhe nach Teileinstellung des Verfahrens und Ablegung eines Geständnisses erörtern, im Anschluss daran das Gericht nach dem Vortrag eines Formalgeständnisses auf eine - an sich vorgesehene - Beweisaufnahme verzichtet, den übereinstimmenden Anträgen folgt und der Angeklagte Rechtsmittelverzicht erklärt, ist in der Regel von einer konkludent geschlossenen Urteilsabsprache auszugehen, die dem Zweck dient, die Anforderungen und Rechtswirkungen einer Verständigung rechtswidrig zu umgehen. Bloßes Schweigen der Richter bei einem Verständigungsgespräch oder die Erklärung, das Gericht trete den Vorschlägen nicht bei, stehen dem nicht entgegen.
2. Ein Rechtsmittelverzicht ist unwirksam, wenn dem Urteil eine informelle Verständigung vorausgegangen ist.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 25. Februar 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 36 Fällen und wegen Betrugs in 36 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren bei Strafaussetzung zur Bewährung sowie zu einer Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Die Revision ist zulässig. Der in der Hauptverhandlung vom 25. Februar 2013 durch den Verteidiger erklärte Rechtsmittelverzicht ist entsprechend § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO unwirksam, denn dem Urteil lag eine (konkludente) Absprache zugrunde.
1. a) Dem Protokoll der Hauptverhandlung ist Folgendes zu entnehmen:
Nach Verlesung des Anklagesatzes wurde der Angeklagte vernommen. Dieser erklärte, dass er nicht zu einer Äußerung bereit sei. Darauf wurde die Hauptverhandlung von 09.40 Uhr bis 11.10 Uhr unterbrochen. Danach wurde „gem. § 243 Abs. 4 StPO festgestellt, dass Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gem. § 257c StPO gewesen ist, stattgefunden haben, aber ohne konkrete Ergebnisse geblieben sind.“
Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft erklärte, dass ein weiteres Verfahren wegen des Vorwurfs des versuchten Betrugs zum Nachteil der Firma H. gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt werde. Im Anschluss an diese Ankündigung der Staatsanwaltschaft gab der Wahlverteidiger des Angeklagten für diesen eine Erklärung ab, worauf der Angeklagte erklärte: „Die gemachten Angaben meines Verteidigers treffen zu“. Danach wurden „die persönlichen Verhältnisse“ mit dem Angeklagten erörtert, und anhand des Auszugs aus dem Bundeszentralregister wurde festgestellt, dass er nicht vorbestraft sei. Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft beantragte hinsichtlich der Fälle 1 bis 12 und 49 bis 55 der Anklageschrift die Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO. „Nach Beratung am Richtertisch“ beschloss die Strafkammer dies.
Der Vorsitzende erklärte anschließend, dass eine „qualifizierte Absprache gem. § 257c StPO“ nicht stattgefunden habe.
Hierauf wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und der Wahlverteidiger beantragten übereinstimmend die Verurteilung des Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren bei Strafaussetzung zur Bewährung und zu einer Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen zu 30 Euro.
Das Landgericht verurteilte den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung und einer Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 30 Euro. Nach der allgemeinen Rechtsmittelbelehrung erklärten die Verteidiger mit Zustimmung des Angeklagten sowie die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft jeweils Rechtsmittelverzicht.
b) Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte durch einen anderen Verteidiger form- und fristgerecht Revision eingelegt und diese mit der Sachrüge begründet. Er behauptet, der Rechtsmittelverzicht sei wegen einer informellen Urteilsabsprache unwirksam.
Nach der Unterbrechung der Hauptverhandlung habe die Staatsanwältin ihm angekündigt, sie werde im Fall einer geständigen Einlassung eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung und eine Geldstrafe von 360 Tagessätzen beantragen. Dann sei es zu Erörterungen zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und den Verteidigern im Beratungszimmer gekommen. Dort habe die Staatsanwältin ihr Angebot wiederholt. Anschließend sei ihm in der Gerichtskantine von den Verteidigern dazu geraten worden, den Vorschlag anzunehmen, „da auch das Gericht signalisiert habe, diesem Ergebnis nicht entgegen zu treten“. Er habe Bedenken geäußert, sei aber von beiden Verteidigern „relativ harsch“ darauf hingewiesen worden, dass er andernfalls eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe zu erwarten habe. Deshalb habe sein Wahlverteidiger in der Hauptverhandlung für ihn ein „schlankes Geständnis“ formuliert, das er bestätigt habe. Schließlich seien die übereinstimmenden Anträge gestellt worden.
c) Nach der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer haben sich die Richter bei den Erörterungen im Beratungszimmer zu den Strafmaßvorstellungen der Verfahrensbeteiligten nicht geäußert. Die Strafkammer selbst habe weder eine Obergrenze noch eine Untergrenze der im Geständnisfall zu erwartenden Strafen genannt. Zu einer Verständigung im Sinne von § 257c StPO unter Mitwirkung der Strafkammer sei es nicht gekommen. Vielmehr habe er, der Vorsitzende, in der Hauptverhandlung betont, dass die Strafkammer „etwaigen Strafmaßverabredungen anderer Beteiligter“ nicht beitrete.
Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft hat dienstlich erklärt, sie erinnere sich zwar nicht an konkrete Äußerungen der Richter. Jedenfalls habe die Strafkammer aber nicht erklärt, dass sie ihre Einschätzung für fernliegend halte.
2. Die beschriebenen Abläufe in der Hauptverhandlung lassen - auch unter Berücksichtigung der dienstlichen Erklärungen - erkennen, dass zumindest konkludent eine rechtswidrige Urteilsabsprache zustande gekommen ist, die zudem rechtsfehlerhaft nicht dokumentiert wurde.
a) Der Protokollvermerk, dass eine „qualifizierte Absprache“ gemäß § 257c StPO nicht stattgefunden habe, steht der freibeweislichen Feststellung nicht entgegen, dass ein hiervon abweichendes Verfahren stattgefunden hat.
b) Aus der Gesamtschau der vorliegenden Umstände ergibt sich, dass eine konkludente Urteilsabsprache stattgefunden hat:
Hierauf deutet schon die besondere Betonung des Fehlens einer „qualifizierten Absprache“ hin, ebenso die Tatsache, dass die Strafkammer die von der Staatsanwaltschaft beantragte Teileinstellung des Verfahrens hinsichtlich 19 weiterer Fälle nur „am Richtertisch“ abstimmte, bevor der Beschluss erging.
Das Gericht hat sich zwar - folgt man der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden - verbal von den Vorschlägen und Anträgen distanziert, die (in seinem Beisein) im Beratungszimmer zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft zur Verfahrensbeendigung nach einem Geständnis und Teileinstellungen erörtert wurden. Es ist ihnen anschließend aber in der Sache fast vollständig gefolgt, ohne dass eine diesbezügliche Änderung der Sach- und Rechtslage dies erklären könnte. Es hat zudem ein diesen Vorschlägen genau entsprechendes Verfahren gewählt.
Der Angeklagte legte ein Geständnis ab, jedoch nur in der Weise, dass sein Verteidiger für ihn eine Erklärung abgab, deren Inhalt er pauschal als zutreffend bezeichnete. Das Gericht stellte keine Fragen zu den Vorwürfen der Anklage und erhob dazu keine Beweise. Von der ursprünglich vorgesehenen umfangreichen Beweisaufnahme wurde vollständig abgesehen.
Die Anträge von Verteidigung und Staatsanwaltschaft, die nach Abschluss der Beweisaufnahme gestellt wurden, sind in ihrer Übereinstimmung nur damit zu erklären, dass die Antragsteller Grund zu der Annahme hatten, das Gericht werde jedenfalls nicht darüber hinaus gehen. Die Verteidiger hatten keinen Grund, dem Angeklagten zur Befolgung der Vorschläge der Staatsanwaltschaft zu raten, wenn sie nicht ihrerseits davon ausgingen, das Gericht werde im Fall des Geständnisses keine höhere als die von dieser vorgeschlagene Strafe verhängen. Die protokollierte Mitteilung des Vorsitzenden, es hätten Erörterungen „ohne konkrete Ergebnisse“ stattgefunden, traf daher nicht zu.
Ein bloßes Schweigen der Richter zu den in ihrer Anwesenheit erfolgten Erörterungen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigern stand der Annahme einer konkludenten Absprache ebenso wenig entgegen wie eine - von diesem behauptete - Äußerung des Vorsitzenden, er - oder „die Strafkammer“ - trete den Abreden nicht bei. Wenn ein solches Verhalten der Richter für die Beteiligten erkennbar nur den Sinn haben sollte, die formellen Anforderungen an eine Absprache gemäß § 257c StPO und deren Rechtsfolgen zu umgehen, kam es nicht auf ein äußeres Verhalten oder eine ausdrückliche Erklärung, sondern allein darauf an, was nach dem Gesamtzusammenhang und dem Erkenntnishorizont der Beteiligten damit gemeint war. In einer Konstellation wie der vorliegenden, in der die zuvor angeblich nicht getroffenen Absprachen anschließend fast vollständig umgesetzt werden und der Angeklagte Rechtsmittelverzicht erklärt, ist in der Regel von einer konkludenten Einigung der Beteiligten auszugehen, die einerseits Form und Inhalt der Verfahrensbeendigung, andererseits die stillschweigende Verabredung umfasst, das hierfür gesetzlich vorgeschriebene (Protokollierungs-) Verfahren in allseitiger Zustimmung zu umgehen. Eine solche - bewusst rechtswidrige - Verfahrensweise ist von vornherein nicht geeignet, die verfassungsrechtlichen Grenzen des gesetzlich geregelten Verständigungsverfahrens zu Lasten des Beschuldigten zu verschieben.
3. Die informelle Absprache gebietet eine entsprechende Anwendung von § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO.
Nach dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. 2009 I, S. 2353) ist für informelle Absprachen über das Prozessergebnis kein Raum. Nach dem Zweck des gesetzlichen Ausschlusses eines Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO muss diese Regelung für informelle Absprachen erst recht gelten (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 27. September 2011 - 1 Ws 381/11, StV 2012, 141, 142 mit Anm. Meyer-Goßner; OLG München, Beschluss vom 17. Mai 2013 - 2 Ws 1149, 1150/12, StV 2013, 495, 499 f. mit Anm. Meyer-Goßner, StV 2013, 614; SK/Frisch, StPO, 4. Aufl., § 302 Rn. 32d; vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013 offen gelassen von BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2010 - 5 StR 419/10, NStZ 2011, 473; a.A. Niemöller NStZ 2013, 19, 22).
Diese Bewertung der Rechtslage zum Rechtsmittelverzicht nach informellen Urteilsabsprachen steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das von der Rechtswidrigkeit informeller Verfahrenserledigungen ausgeht und die Effektivität der revisionsgerichtlichen Verfahrenskontrolle angemahnt hat (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a., NJW 2013, 1058, 1064 ff.).
Ein Angeklagter, der an Erörterungen der Richter, Verteidiger und Vertreter der Staatsanwaltschaft im Beratungszimmer nicht beteiligt war, dem die für das Verständigungsverfahren vorgesehenen Informationen über den wesentlichen Inhalt der Erörterungen (§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) nicht protokollfest (§ 273 Abs. 1 Nr. 1a StPO) erteilt wurden (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juli 2013 - 2 StR 195/12, NJW 2013, 3046, 3047 f., für BGHSt bestimmt) und der nach der Urteilsverkündung vom Gericht nicht qualifiziert über seine Rechtsmittelmöglichkeit belehrt wurde (§ 35a Satz 3 StPO), ist besonders schutzwürdig. Er kann unmittelbar nach Urteilsverkündung nicht eigenverantwortlich entscheiden, ob eine Rechtsmittelmöglichkeit noch mit Aussicht auf Erfolg genutzt werden kann oder ein Rechtsmittelverzicht erklärt werden soll.
II.
Die Feststellung der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führt nicht zur Rückgabe der Akten an das Landgericht zu einer Ergänzung des „abgekürzt“ verfassten Urteils. Vom Fall der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung oder zur Begründung der Revision abgesehen (§ 267 Abs. 4 Satz 4 StPO), kommt eine nachträgliche Urteilsergänzung grundsätzlich nicht in Betracht. Davon ausgenommen sind nur Fälle, in denen das Gericht bei der Urteilsabsetzung aus anderen Gründen ohne weiteres davon ausgehen konnte, dass § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO anzuwenden sei (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2008 - 5 StR 114/08, NStZ 2008, 646 f.). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, denn dem Gericht war die rechtswidrige Umgehung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO bewusst. Es konnte nicht darauf vertrauen, dass ein hierauf erklärter Rechtsmittelverzicht Bestand haben würde.
III.
Das Urteil ist aufgrund der Sachrüge aufzuheben, denn ihm fehlt eine tragfähige Beweisgrundlage. Das Landgericht hat sich auf die Mitteilung beschränkt: „Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten eingeräumt. An der Richtigkeit des Geständnisses besteht kein Zweifel.“ Dies trägt die Verurteilung nicht.
Aus dem Schuldprinzip folgt die Verpflichtung der Strafgerichte, von Amts wegen den wahren Sachverhalt zu erforschen (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a., NJW 2013, 1058, 1060). Diese Pflicht darf nicht dem Interesse an einer einfachen und schnellstmöglichen Erledigung des Verfahrens geopfert werden. Es ist unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zu Grunde zu legen, der nicht auf einer Überzeugungsbildung unter Ausschöpfung des Beweismaterials beruht. Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte geständig gezeigt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. April 2013 - 3 StR 35/13, StV 2013, 684, vom 6. August 2013 - 3 StR 212/13, StV 2013, 703 f. und vom 5. November 2013 - 2 StR 265/13).
Nach diesem Maßstab ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, denn das Landgericht hat es ausweislich der Urteilsgründe unterlassen, das Geständnis des Angeklagten einer Überprüfung zu unterziehen. Damit beruht seine Überzeugung nicht auf einer tragfähigen Grundlage.
Fischer Krehl Eschelbach
Ott Zeng