Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 05.04.2016


BGH 05.04.2016 - VI ZR 283/15

Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung: Durchsetzbarkeit der Ansprüche trotz erteilter Restschuldbefreiung


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
05.04.2016
Aktenzeichen:
VI ZR 283/15
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2016:050416UVIZR283.15.0
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend OLG Hamm, 21. April 2015, Az: I-9 U 32/15, Urteilvorgehend LG Bielefeld, 22. Dezember 2014, Az: 1 O 354/13
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Zur Restschuldbefreiung bei Schadensersatzansprüchen wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung.

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. April 2015 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Parteien streiten darüber, ob eine von der Klägerin gegen den Beklagten geltend gemachte Forderung wegen vorsätzlicher Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung aufgrund einer dem Beklagten erteilten Restschuldbefreiung nicht mehr durchsetzbar ist.

2

Der Beklagte wurde 2005 wegen eines Ende 2003 begangenen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zum Nachteil der 1990 geborenen Klägerin zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Im Jahr 2008 wurde über das Vermögen des Beklagten das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet. Die Frist zur Anmeldung der Insolvenzforderungen wurde auf den 1. Dezember 2008 bestimmt. Mit Beschluss vom 19. Oktober 2009 ordnete das Insolvenzgericht Schlusstermin im schriftlichen Verfahren an und setzte eine Frist zur Einreichung von Schriftsätzen bis zum 18. Dezember 2009. Am 22. Dezember 2009 wurde dem Beklagten gemäß § 291 InsO a.F. Restschuldbefreiung angekündigt. Mangels zu verteilender Masse wurde das Insolvenzverfahren am 22. Januar 2010 ohne Schlussverteilung aufgehoben. Die Klägerin forderte den Beklagten im Juni 2013 erstmals zur Zahlung eines Schmerzensgeldes auf, ehe sie im Januar 2014 versuchte, ihre Forderung zur Insolvenztabelle anzumelden. Am 13. November 2014 wurde dem Beklagten Restschuldbefreiung erteilt.

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Die Klägerin ist der Ansicht, dass der mit der Klage geltend gemachte Anspruch von der Restschuldbefreiung nicht erfasst werde. Es handele sich um keine Insolvenzforderung, weil ihre gesundheitlichen Schäden, insbesondere ihre psychischen Beeinträchtigungen, die zu einem Suizidversuch im Juli 2011 geführt hätten, zu einem erheblichen Teil erst nach dem Zeitpunkt entstanden seien, in dem die Forderung spätestens zur Insolvenztabelle hätte angemeldet werden müssen. Zudem gebiete der in der Verjährungsvorschrift des § 208 BGB zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke, dass Minderjährigen bei Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung ein besonderer gesetzlicher Schutz zukomme, eine entsprechende Anwendung des die Wirkungen der Restschuldbefreiung ausschließenden § 302 Nr. 1 InsO auch dann, wenn die Forderung nicht zur Insolvenztabelle angemeldet werde.

4

Das Landgericht hat die Klage auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren in vollem Umfang weiter.

Entscheidungsgründe

I.

5

Das Berufungsgericht, dessen Urteil u.a. in NZI 2015, 714 veröffentlicht ist, hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

6

Die Klägerin habe Ansprüche wegen der Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung zwar schlüssig dargelegt. Diese - weder verjährten noch verwirkten - Ansprüche seien aber wegen der dem Beklagten erteilten Restschuldbefreiung gemäß § 301 InsO nicht durchsetzbar. Die Restschuldbefreiung erfasse die Schadensersatzforderung unabhängig davon, ob wesentliche Gesundheitsfolgen der Tat erst später entstanden seien. Es komme nicht darauf an, ob die Klägerin eine rechtzeitige Anmeldung der Forderung zur Insolvenztabelle schuldhaft unterlassen habe. Im Januar 2014 sei eine nachträgliche Anmeldung nicht mehr möglich gewesen, weil das Insolvenzverfahren bereits rechtskräftig aufgehoben gewesen sei.

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Eine entsprechende Anwendung des Schutzgedankens des § 208 Satz 1 BGB im Rahmen der Auslegung der §§ 301, 302 InsO sei abzulehnen, auch wenn er sich in der Sache durchaus fruchtbar machen ließe. Denn wenn sich Opfer sexuellen Missbrauchs namentlich aus emotionalen Gründen lange Zeit gehindert sähen, Anzeige zu erstatten und Ansprüche geltend zu machen, werde sich dies naturgemäß auch dahin auswirken, dass Ansprüche in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schädigers nicht angemeldet würden. Allerdings müsse es grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, etwaige Einschränkungen der Restschuldbefreiung gesetzlich zu regeln. Für eine Rechtsfortbildung wäre nur Raum, wenn eine bewusste oder unbewusste planwidrige Regelungslücke vorläge. Das sei nicht der Fall. Der Gesetzgeber habe die Einführung des § 208 BGB im Rahmen des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes nicht zum Anlass genommen, entsprechend einschränkende Regelungen zu Gunsten junger Opfer sexueller Gewalttaten in den insolvenzrechtlichen Regelungen über die Restschuldbefreiung aufzunehmen. Dies sei auch nachfolgend in weiteren Reformgesetzen, etwa dem Verjährungsanpassungsgesetz aus dem Jahr 2004 und vor allem dem Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG), bei dem es dem Gesetzgeber um die Schließung noch vereinzelter Schutzlücken gegangen sei, nicht geschehen. Diesen Reformgesetzen einschließlich der Gesetzesmaterialien könne weder entnommen werden, dass der Gesetzgeber diese Frage bewusst der richterlichen Rechtsfortbildung überlassen hätte, noch dass er eine aus seiner Sicht regelungsbedürftige Frage schlicht übersehen habe.

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Abgesehen davon würde eine derartige Rechtsfortbildung konsequenterweise die weitere Frage aufwerfen, ob nicht die mit dem StORMG eingeführte generelle Verlängerung der Verjährungsfristen für Schadensersatzansprüche wegen der vorsätzlichen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit und der sexuellen Selbstbestimmung und der dahinter letztlich stehende ähnliche Schutzgedanke noch weitere Einschränkungen der Restschuldbefreiung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung rechtfertigen könnte.

II.

9

Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.

10

1. Das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob der Klägerin gegen den Beklagten wegen einer vorsätzlichen Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung ein Anspruch auf billige Entschädigung in Geld zusteht (§ 823 Abs. 2 BGB iVm §§ 176, 176a StGB in der bis zum 31. März 2004 geltenden Fassung, § 253 Abs. 2 BGB). Dies ist daher im Revisionsverfahren zu ihren Gunsten zu unterstellen.

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2. Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass dieser Anspruch zwar nicht verjährt, aber gemäß §§ 286, 301 Abs. 1 InsO nicht durchsetzbar ist, da er von der dem Beklagten erteilten Restschuldbefreiung erfasst wird.

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a) Die Verjährung war gemäß § 208 Satz 1 BGB bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres der Klägerin gehemmt, so dass die Verjährungsfrist bei Klagezustellung nicht verstrichen war (§ 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB iVm Art. 229 § 31 EGBGB).

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b) Das Berufungsgericht hat den von der Klägerin geltend gemachten Schadensersatzanspruch zutreffend als grundsätzlich der Restschuldbefreiung unterfallende Insolvenzforderung beurteilt.

14

Die Restschuldbefreiung wirkt gemäß § 286 und § 301 Abs. 1 Satz 1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger, also gegen alle persönlichen Gläubiger des Schuldners, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner hatten. Das bedeutet, dass der anspruchsbegründende Tatbestand bereits vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen sein muss. Begründet in diesem Sinne ist ein Anspruch, wenn das Schuldverhältnis vor Verfahrenseröffnung bestand, selbst wenn sich hieraus eine Forderung erst nach Verfahrenseröffnung ergibt (BGH, Beschlüsse vom 7. April 2005 - IX ZB 129/03, ZinsO 2005, 537, 538 mwN und vom 22. September 2011 - IX ZB 121/11, NZI 2011, 953 Rn. 3; MünchKomm-InsO/Stephan, 3. Aufl., § 301 Rn. 7). Ob Ansprüche aus unerlaubter Handlung Insolvenzforderungen sind, hängt danach davon ab, ob der Schuldner die unerlaubte Handlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begangen hat. Dabei kann dahinstehen, ob es nur auf den Zeitpunkt des schädigenden Verhaltens ankommt (so HambKomm-InsO/Lüdtke, 4. Aufl., § 38 Rn. 49; MünchKomm-InsO/Ehricke, 3. Aufl., § 38 Rn. 26; Uhlenbruck/Sinz, InsO, 14. Aufl., § 38 Rn. 42) oder ob auch die haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung bereits eingetreten sein muss (so Jaeger/Henckel, InsO, 2004, § 38 Rn. 169; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl., Rn. 16.15), da dies hier der Fall ist. Der anspruchsbegründende Tatbestand war nach dem mangels abweichender Feststellungen zu unterstellenden Vortrag der Klägerin bereits im Dezember 2003 abgeschlossen, als der Beklagte die sexuelle Selbstbestimmung der Klägerin verletzt hat.

15

Die Ansicht der Revision, dass die geltend gemachte Forderung ganz oder teilweise keine der Restschuldbefreiung unterfallende Insolvenzforderung sei, da diejenigen Gesundheitsfolgen, für die das Schmerzensgeld verlangt werde, erst nach dem Zeitpunkt entstanden seien, in dem die Forderung spätestens zur Insolvenztabelle hätte angemeldet werden müssen, trifft nicht zu. Treten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens neue schädigende Folgen zu den bereits zuvor entstandenen hinzu, so ist für das Insolvenzverfahren eine einheitliche Behandlung geboten, soweit die Fortentwicklung des Schadens zu erwarten war (Jaeger/Henckel, InsO, 2004, § 38 Rn. 169; MünchKomm-InsO/Ehricke, 3. Aufl., § 38 Rn. 26). Der gesamte aus einer unerlaubten Handlung entspringende Schaden stellt sich verjährungsrechtlich nicht als Summe einzelner selbständiger, nicht zusammenhängender Schäden, sondern als Einheit dar, die alle Folgezustände umfasst, die im Zeitpunkt der Erlangung allgemeinen Wissens um den Schaden überhaupt nur als möglich vorauszusehen waren (Senatsurteile vom 20. Oktober 1959 - VI ZR 166/58, NJW 1960, 380; vom 15. März 2011 - VI ZR 162/10, VersR 2011, 682 Rn. 8, jeweils mwN). Dieser Grundsatz gilt auch für die insolvenzrechtliche Beurteilung. Andernfalls könnte es im Belieben des Gläubigers stehen, sich wegen des nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandenen Schadens am Verfahren zu beteiligen oder dessen Folgen zu entgehen (Henckel, aaO; Ahrens, NZI 2013, 721, 725). Bei der durch den Suizidversuch im Jahr 2011 entstandenen Gesundheitsverletzung handelt es sich in diesem Sinne entgegen der Revision um einen Folgeschaden, da psychische Beeinträchtigungen im Gefolge eines schweren sexuellen Missbrauchs, selbst wenn sie zu einem Suizidversuch führen, als möglich vorauszusehen waren. Der Einwand der Revision, die Klägerin habe in diesem Fall überhaupt keine Möglichkeit gehabt, ihre Forderung durchzusetzen, weil sie hinsichtlich der im Zusammenhang mit dem Suizidversuch stehenden psychischen Beeinträchtigungen keinen bezifferten Schmerzensgeldanspruch zur Insolvenztabelle habe anmelden können, ist unbegründet. Denn gerade mit Rücksicht auf eine solche Ungewissheit sieht § 45 InsO eine Schätzung des Umfangs der Insolvenzforderung vor (Henckel, aaO; MünchKomm-InsO/Ehricke, 3. Aufl., § 38 Rn. 26; Uhlenbruck/Sinz, InsO, 14. Aufl., § 38 Rn. 42).

16

c) Das Berufungsgericht hat ebenfalls zutreffend das Vorliegen einer Bereichsausnahme gemäß § 302 Nr. 1 InsO verneint.

17

Nach dieser Norm unterfallen Verbindlichkeiten aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen dann nicht der Restschuldbefreiung, wenn die entsprechenden Forderungen gemäß § 174 Abs. 2 InsO innerhalb der Anmeldefrist oder unter den Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 InsO noch nachträglich unter Angabe dieses Rechtsgrundes zur Insolvenztabelle angemeldet werden, wobei offenbleiben kann, ob dies nur bis zum Schlusstermin oder bis zur Aufhebung des Insolvenzverfahrens möglich ist (ebenfalls offen gelassen von BGH, Urteil vom 16. Dezember 2010 - IX ZR 24/10, WM 2011, 271 Rn. 17 mN zu beiden Ansichten). Denn die Klägerin hat die Forderung vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht angemeldet. Ob sie schuldlos an der Anmeldung ihrer Forderung gehindert war, spielt dabei keine Rolle (BGH, Urteile vom 16. Dezember 2010 - IX ZR 24/10, WM 2011, 271 Rn. 19 ff.; vom 7. Mai 2013 - IX ZR 151/12, BGHZ 197, 186 Rn. 17). Könnte sich ein Gläubiger nachträglich mit Erfolg darauf berufen, ohne Verschulden an der Forderungsanmeldung gehindert gewesen zu sein, wäre dies der mit der Regelung des § 301 Abs. 1 Satz 2, § 302 Nr. 1 InsO bezweckten Rechtssicherheit in hohem Maße abträglich (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2010 - IX ZR 24/10, WM 2011, 271 Rn. 20; HK-InsO/Waltenberger, 7. Aufl., § 301 InsO a.F. Rn. 7; Wenzel in Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 302 Rn. 13 [Stand: April 2014]).

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d) Eine rechtsfortbildende Analogie aufgrund des der Regelung des § 208 BGB zugrundeliegenden Rechtsgedankens dahingehend, dass bei vorsätzlicher Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung die Restschuldbefreiung auch dann nicht greift, wenn die Schadensersatzforderung nicht zur Insolvenztabelle angemeldet wird, kommt entgegen der Ansicht der Revision nicht in Betracht (gegen eine Analogie auch BeckOGK-BGB/Meller-Hannich, § 208 Rn. 5 [Stand: 1. November 2015]; Heicke, VIA 2015, 59 f.; vgl. ferner jurisPK-BGB/Lakkis, § 208 Rn. 3.1 [Stand: 1. Juni 2015]).

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aa) Allerdings ist der Revision einzuräumen, dass die Restschuldbefreiung, soweit sie auch die nicht zur Insolvenztabelle angemeldeten Forderungen aus vorsätzlicher Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung erfasst, in Konflikt steht zu dem mit § 208 Satz 1 BGB verfolgten Ziel.

20

Mit der Einführung der inhaltlich neuen, der Verfolgungsverjährung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nachgebildeten Vorschrift des § 208 BGB durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. November 2001 (BGBl. I S. 3138) strebte der Gesetzgeber einen breiten Opferschutz bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung an. Es ging ihm dabei vor allem um Fälle, in denen die zur Vertretung der Kinder berufenen Eltern aus vielfältigen Motiven - zum Schutz der Kinder vor den mit der Rechtsverfolgung einhergehenden, insbesondere seelischen Belastungen, bis hin zur "Rücksichtnahme" auf den Täter oder der Angst vor einem "Skandal" - die zivilrechtlichen Ansprüche der Kinder nicht geltend machen mit der Folge, dass Ansprüche noch während der Minderjährigkeit des Opfers verjähren (vgl. BT-Drucks. 14/6040, S. 119). Auf Empfehlung des Rechtsausschusses wurde die Altersgrenze von 18 auf 21 Jahre erhöht, weil Opfer von Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung häufig auch nach Erlangung der vollen Geschäftsfähigkeit emotional nicht in der Lage sind, ihre Ansprüche wegen solcher Taten selbst zu verfolgen (BT-Drucks. 14/7052, S. 181).

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Das mit der Regelung des § 208 BGB verfolgte Ziel wird nur unvollständig erreicht, wenn Ansprüche wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung in einem nachfolgenden Insolvenzverfahren über das Vermögen des Täters zur Insolvenztabelle angemeldet werden müssen, damit sie nicht aufgrund einer Restschuldbefreiung ihre Durchsetzbarkeit verlieren. Denn ebenso wie die emotionale Zwangslage dazu führen kann, dass berechtigte Ansprüche ohne die mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz geschaffene Regelung des § 208 BGB vor Verjährungseintritt nicht geltend gemacht werden, kann die Notwendigkeit, Forderungen innerhalb der Anmeldefrist zur Insolvenztabelle anzumelden, dazu führen, dass berechtigte Ansprüche wegen einer dem Schädiger während einer andauernden emotionalen Zwangslage erteilten Restschuldbefreiung nicht durchgesetzt werden können.

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bb) Eine entsprechende Anwendung des § 208 BGB - hier die Einschränkung der §§ 301 Abs. 1, 302 Nr. 1 InsO - ist jedoch nur zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (st. Rspr., vgl. nur Senatsurteile vom 1. Juli 2014 - VI ZR 345/13, BGHZ 201, 380 Rn. 14; vom 11. Juni 2013 - VI ZR 150/12, VersR 2013, 1013 Rn. 14; BGH, Beschluss vom 29. September 2015 - II ZB 23/14, WM 2016, 157 Rn. 23 mwN; Urteil vom 3. Februar 2015 - II ZR 105/13, NJW 2015, 2261 Rn. 11). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Selbst wenn man eine Regelungslücke bejahen würde, könnte nicht mit der erforderlichen Sicherheit (vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Aufl., Rn. 960) davon ausgegangen werden, dass diese als planwidrig zu beurteilen wäre und die Interessenabwägung ergäbe, dass die Restschuldbefreiung nicht angemeldete Forderungen aus vorsätzlich begangenen Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung entgegen dem Wortlaut von § 302 Nr. 1 InsO nicht erfassen soll.

23

(1) Bedenken hinsichtlich einer Regelungslücke bestehen, weil der Gesetzgeber im Anschluss an die Beratungen des von der Bundesregierung eingesetzten Runden Tisches "Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" (vgl. dessen Abschlussbericht vom 30. November 2011, BT-Drucks. 17/8117) mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1805) "noch vereinzelte Schutzlücken" zu schließen beabsichtigte (vgl. BT-Drucks. 17/6261, S. 8, auch S. 1), ohne dabei § 302 Nr. 1 InsO einzuschränken. Allerdings wird weder im Abschlussbericht des Runden Tisches noch in den Gesetzesmaterialien die Restschuldbefreiung erwähnt, so dass unklar bleibt, ob dem Gesetzgeber bewusst war, dass Opfer sexueller Gewalt ihre ursprünglichen Ansprüche nicht mehr durchsetzen können, wenn sie sie nicht rechtzeitig zur Insolvenztabelle anmelden.

24

(2) Selbst wenn man eine Regelungslücke bejahen würde, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit angenommen werden, dass diese planwidrig war und der Gesetzgeber eine Rückausnahme zu § 302 Nr. 1 InsO geschaffen hätte.

25

(a) Das Interesse, Opfer sexuellen Missbrauchs zu schützen, steht im Spannungsverhältnis zu den Interessen, die durch das Anmeldeerfordernis geschützt werden sollen. Während der Gesetzgeber die Restschuldbefreiung in der bis zum 30. November 2001 geltenden Fassung der Insolvenzordnung generell nicht auf Ansprüche aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung erstreckt hatte, führte er mit dem nur einen Monat vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz verabschiedeten Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze vom 26. Oktober 2001 (BGBl. I S. 2710) das Erfordernis ein, solche Forderungen unter Angabe dieses Rechtsgrundes zur Insolvenztabelle anzumelden. Zur Begründung stellte er auf Berichte aus der Praxis ab, einzelne Gläubiger würden ohne zureichende Anhaltspunkte behaupten, der betreffenden Forderung liege eine unerlaubte Handlung seitens des Schuldners zugrunde. Um zu verhindern, dass der Schuldner nach erfolgreichem Durchlaufen der mehrjährigen Wohlverhaltensperiode unvorbereitet mit der Behauptung konfrontiert wird, eine Forderung beruhe auf einer unerlaubten Handlung und sei deshalb von der Restschuldbefreiung ausgeschlossen, wurde das Anmeldeerfordernis geschaffen. Damit sollte dem Interesse des Schuldners Rechnung getragen werden, möglichst frühzeitig darüber informiert zu werden, welche Forderungen nicht von der Restschuldbefreiung erfasst werden, damit er frühzeitig einschätzen kann, ob er sich einem Insolvenzverfahren mit anschließender Restschuldbefreiung überhaupt unterwerfen will (BT-Drucks. 14/5680, S. 16, 27, 29). Mit Hilfe der Regelung des § 301 Abs. 1 Satz 2, § 302 Nr. 1 InsO soll jedoch nicht nur dem Schuldner, sondern auch seinen Gläubigern möglichst schnell Gewissheit über die Reichweite der Restschuldbefreiung zuteil werden (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2010 - IX ZR 24/10, WM 2011, 271 Rn. 24; HK-InsO/Landfermann, 6. Aufl., § 302 Rn. 4; vgl. auch FK-InsO/Ahrens, 8. Aufl., § 302 Rn. 7). Auf der Grundlage der ihm zustehenden normativen Gestaltungsfreiheit gibt der Gesetzgeber insoweit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG den Vorrang gegenüber Erwägungen der materiellen Gerechtigkeit (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2010 - IX ZR 24/10, aaO; vgl. auch HK-InsO/Waltenberger, 7. Aufl., § 301 InsO a.F. Rn. 7; Wenzel in Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 302 Rn. 13 [Stand: April 2014]).

26

(b) Unterstellt, der Gesetzgeber hätte diesen Interessengegensatz bei der Verbesserung der Rechte von Opfern sexueller Gewalt nicht gesehen, so mögen durchaus Gründe dafür sprechen, § 302 Nr. 1 InsO einzuschränken. Das ist aber jedenfalls nicht zwingend, da auch Gründe - namentlich die Interessen der Allgemeinheit an Rechtssicherheit - für die wortlautgetreue Anwendung der Norm, die bereits Resultat einer differenzierten gesetzgeberischen Interessenabwägung ist (vgl. Rinjes, DZWIR 2002, 415; HK-InsO/Waltenberger, 7. Aufl., § 302 InsO n.F. Rn. 1), sprechen, so dass das Ergebnis der Interessenabwägung zwischen Opferschutz einerseits und Schuldner- und Gläubigerschutz andererseits nicht rechtlich - oder wie die Revision meint: verfassungsrechtlich - vorgegeben ist. Diese Interessenabwägung ist vielmehr dem Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers vorbehalten (vgl. BVerfGE 60, 253, 268) und damit einer richterlichen Rechtsfortbildung entzogen. Das gilt umso mehr, als die für eine Analogie sprechenden Gründe auch hinsichtlich anderer höchstpersönlicher Rechtsgüter greifen (aa), das Argument der fehlenden Schutzbedürftigkeit des Schuldners die Norm insgesamt gegenstandslos zu machen droht (bb) und Opfer sexueller Gewalt auch im Falle der Restschuldbefreiung über § 826 BGB einen zumindest begrenzten Schutz erfahren können (cc).

27

(aa) Eine Ausdehnung der Bereichsausnahme des § 302 Nr. 1 InsO bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung würde, worauf das Berufungsgericht zutreffend hinweist, die Frage aufwerfen, ob vom Anmeldeerfordernis nicht auch bei anderen vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen abzusehen wäre. So hat der Gesetzgeber im Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) die Verjährungsfrist nicht nur für Schadensersatzansprüche wegen der vorsätzlichen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, sondern auch wegen der vorsätzlichen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit von drei auf 30 Jahre ausgedehnt und dabei sogar erwogen, § 208 BGB ganz zu streichen (so noch der Regierungsentwurf vom 22. Juni 2011, BT-Drucks. 17/6261, S. 6, 20; zur Empfehlung des Rechtsausschusses, § 208 BGB beizubehalten, BT-Drucks. 17/12735, S. 10, 18; vgl. auch Erman/Schmidt-Räntsch, BGB, 14. Aufl., § 208 Rn. 1; MünchKomm-BGB/Grothe, 7. Aufl., § 208 Rn. 1). Zur Begründung hat er darauf abgestellt, diese Ansprüche seien verjährungsrechtlich im Wesentlichen gleich zu behandeln, da die Geschädigten und Hinterbliebenen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche vielfach vor den gleichen Problemen stünden, die sie hinderten, ihre Ansprüche rechtzeitig geltend zu machen (vgl. BT-Drucks. 17/6261, S. 19, 27). Deshalb stellte sich bei einer Einschränkung des § 302 Nr. 1 InsO im Hinblick auf die vorsätzliche Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung die Frage, ob dieselbe Einschränkung nicht gleichermaßen im Hinblick auf jene höchstpersönlichen Rechtsgüter geboten wäre. Weiter stellte sich die Frage auch mit Blick auf andere Hemmungstatbestände, die wie § 207 BGB, der die Verjährung aus familiären und ähnlichen Gründen hemmt, ebenfalls unter anderem deshalb geschaffen wurden, um zu verhindern, dass Ansprüche aus emotionalen Gründen vor ihrer Verjährung nicht geltend gemacht werden. Entgegen der bewussten Entscheidung des Gesetzgebers, im Rahmen des § 302 Nr. 1 InsO die Ausnahme von der Restschuldbefreiung an eine Anmeldung unter Angabe des Rechtsgrundes zu binden, könnte - dieser Entscheidung zuwider - auf diese Weise ein nicht unbedeutender Teil dieser Ansprüche von diesem Erfordernis befreit sein.

28

(bb) Soweit sich die Revision allgemein auf die fehlende Schutzbedürftigkeit des Schuldners stützt, ist ihr einzuräumen, dass der Gesetzgeber die mit dem StORMG eingeführte Verlängerung der Verjährungsfrist damit begründet hat, der Schuldner sei sich seiner Schadensersatzverpflichtung wohl bewusst. Er müsse aufgrund seines Verhaltens damit rechnen, dass Schadensersatzansprüche gegen ihn geltend gemacht werden könnten und müsste sich darauf einstellen (BT-Drucks. 17/6261, S. 19 f., 27). Dieses Argument berührt aber von vornherein nicht das durch das Anmeldeerfordernis geschützte Interesse der Rechtssicherheit. Darüber hinaus steht es, soweit die Behauptung einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung zutrifft, dem Erfordernis einer Forderungsanmeldung derartiger Ansprüche typischerweise entgegen.

29

(cc) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Opfer sexueller Gewalt, die ihre ursprüngliche Forderung mangels Anmeldung zur Insolvenztabelle infolge einer Restschuldbefreiung nicht mehr durchsetzen können, nicht völlig schutzlos gestellt sind. Der Bundesgerichtshof hat bereits mehrfach betont, dass dann, wenn der Schuldner einen Anspruch bewusst zwecks Erreichung der Restschuldbefreiung verschweigt, eine unerlaubte Handlung im Sinne des § 826 BGB vorliegen kann, die eine eigenständige neue Schadensersatzforderung des Gläubigers begründet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Oktober 2008 - IX ZB 16/08, ZinsO 2009, 52; vom 6. November 2008 - IX ZB 34/08, NZI 2009, 66 Rn. 11; Urteil vom 16. Dezember 2010 - IX ZR 24/10, WM 2011, 271 Rn. 26; Beschluss vom 20. November 2014 - IX ZB 56/13, NZI 2015, 132 Rn. 9, 11; OLG Saarbrücken, NZI 2015, 712; Ahrens, NZI 2013, 721, 725 ff.; ders., NZI 2015, 687 f.; Heicke, VIA 2015, 59 f.).

Galke                         Wellner                        Stöhr

              von Pentz                        Müller