Entscheidungsdatum: 29.09.2011
Ein der Ausländerbehörde nicht mitgeteilter Wechsel des Aufenthaltsorts vor Ablauf der Ausreisefrist begründet für sich genommen nicht den Verdacht, der Ausländer werde sich der Abschiebung entziehen .
Der Antrag der Betroffenen auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 2. Dezember 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Bingen am Rhein vom 27. Oktober 2010 sie in ihren Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen aller Instanzen werden der Stadt Mainz auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Die Betroffene, eine kamerunische Staatsangehörige, reiste im August 2007 mit einem Visum zu Studienzwecken in die Bundesrepublik Deutschland ein und erhielt einen Aufenthaltstitel, welcher nach einer Verlängerung bis zum 11. August 2009 galt. Eine weitere Verlängerung wurde durch Bescheid vom 11. Mai 2010 abgelehnt; zugleich wurde die Betroffene unter Androhung einer Abschiebung nach Kamerun aufgefordert, bis zum 31. Juli 2010 freiwillig aus dem Bundesgebiet auszureisen.
Am 27. Juni 2010 gab die Betroffene, die ihre Miete nicht mehr zahlen konnte, ihre Wohnung in Mainz auf und zog zu Freunden in eine Studentenwohnung. Die Ausländerbehörde benachrichtigte sie hiervon nicht.
Am 14. Oktober 2010 wurde die Betroffene festgenommen. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 ordnete das Amtsgericht Mainz am selben Tag die Haft zur Sicherung der Abschiebung und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung an; über die Fortdauer der Haft war vor dem 28. Oktober 2010 zu entscheiden.
Mit Beschluss vom 27. Oktober 2010 hat das Amtsgericht Bingen am Rhein die Sicherungshaft bis zum 27. Dezember 2010 verlängert. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde möchte die am 17. Dezember 2010 nach Kamerun abgeschobene Betroffene festgestellt wissen, dass der Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Oktober 2010 und die Entscheidung des Beschwerdegerichts sie in ihren Rechten verletzt haben.
II.
Das Beschwerdegericht hält den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG für gegeben. Die Betroffene habe in Kenntnis des Umstands, dass ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert worden sei, ihre Wohnung im Juni 2010 aufgegeben, ohne die Ausländerbehörde von ihrem neuen Aufenthaltsort zu benachrichtigen. Da sie über keinen Wohnsitz, keinerlei finanzielle Mittel und keine familiären Bindungen im Bundesgebiet verfüge und ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht nachgekommen sei, bestehe in der Gesamtschau die Befürchtung, dass sie sich im Falle ihrer Haftentlassung der Abschiebung durch erneutes Untertauchen entziehen werde.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig (vgl. nur Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 10 f., juris) und begründet. Die tatsächlichen Feststellungen in den angefochtenen Entscheidungen tragen nicht den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, nämlich den Verdacht, dass sich der Ausländer der Abschiebung entziehen will.
1. Wie sich aus § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ergibt, begründet der Umstand, dass der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift mitzuteilen, unter der er erreichbar ist, für sich genommen nur dann einen Haftgrund, wenn der Aufenthaltswechsel zeitlich nach dem Ablauf der Ausreisefrist liegt (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 15/11, InfAuslR 2011, 361). Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass aus einem der Behörde nicht mitgeteilten Aufenthaltswechsel vor Ablauf der Ausreisefrist allein nicht gefolgert werden kann, der Ausländer wolle sich der Abschiebung entziehen und sei daher gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG in Haft zu nehmen. Die Entziehungsabsicht muss sich in einem solchen Fall aus anderen Umständen ergeben, die - gegebenenfalls auch in einer Gesamtschau - mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahe legen, dass der Ausländer beabsichtigt, unterzutauchen oder die Abschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann.
2. a) Danach durfte das Beschwerdegericht den Verdacht, die Betroffene werde sich der Abschiebung entziehen, nicht maßgeblich auf die unterlassene Mitteilung über den Aufenthaltswechsel stützen. Da dieser einen Monat vor Ablauf der Ausreisefrist erfolgt war, rechtfertigte allein die unterbliebene Benachrichtigung der Ausländerbehörde insbesondere nicht die Annahme, die Betroffene sei Ende Juni 2010 untergetaucht. Die zusätzlich angeführten Umstände - die Betroffene verfüge über keinen festen Wohnsitz, keinerlei finanzielle Mittel und keine familiären Bindungen im Bundesgebiet und sei ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht nachgekommen - tragen die Annahme der Entziehungsabsicht weder für sich genommen noch in einer Gesamtschau. Dass die Betroffene nicht freiwillig ausgereist ist, stellt die notwendige Voraussetzung für eine Abschiebung dar und kann daher nicht Grund sein, sie in Haft zu nehmen. Fehlende persönliche Bindungen in Deutschland können auch dafür sprechen, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehren möchte, und aus dem Fehlen finanzieller Mittel mag sich erklären, warum er seiner Ausreisepflicht nicht freiwillig nachgekommen ist. Beide Möglichkeiten sind von dem Beschwerdegericht nicht erwogen worden. Ebenso wenig konnte es aus dem Fehlen eines festen Wohnsitzes auf die Absicht, sich der Abschiebung zu entziehen, schließen, ohne die Betroffene danach gefragt zu haben, ob und wo sie im Falle einer Haftentlassung vorübergehend eine Unterkunft finden könne, oder hierzu anderweit Feststellungen zu treffen.
b) Das Amtsgericht hat in seinem Beschluss vom 27. Oktober 2010 den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ausschließlich mit der unterlassenen Mitteilung über den Aufenthaltswechsel begründet und damit ebenfalls die Rechte der Betroffenen verletzt. Daran vermag auch die Feststellung in dem Beschluss nichts zu ändern, die Betroffene sei „nach Ablauf der Ausreisefrist“ untergetaucht. Zum einen ist schon nicht erkennbar, auf welchen Tatsachen diese - dem im Beschwerdeverfahren ermittelten Sachverhalt widersprechende - Feststellung beruht. Zum anderen wäre die Haftanordnung auch nicht nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG rechtmäßig gewesen, wenn das Amtsgericht von einem Wohnungswechsel nach Ablauf der Ausreisefrist hätte ausgehen dürfen. Zwar begründet der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel nach Ablauf der Ausreisefrist die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird und damit den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Wegen dieser einschneidenden Folge kommt eine Inhaftierung gemäß dieser Vorschrift grundsätzlich aber nur dann in Betracht, wenn die Ausländerbehörde den Betroffenen zuvor auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige verbundenen Folgen hingewiesen hatte (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11, Rn. 10 juris). Hierzu enthält der Beschluss des Amtsgerichts keine Feststellungen.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1, § 430FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, der Stadt Mainz als derjenigen Körperschaft, der die Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, FGPrax 2010, 316, 317). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
V.
Dem Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ist nicht zu entsprechen, weil es an einer aktuellen Erklärung der Betroffenen über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (§ 114 Satz 1 ZPO i.V.m. § 76 Abs. 1 FGG) fehlt. Eine solche Erklärung muss grundsätzlich auch nach einer Abschiebung vorgelegt werden (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010- V ZB 214/10, FG Prax 2011, 41). Die Bezugnahme der Betroffenen auf ihre in der Beschwerdeinstanz eingereichte Erklärung ist nicht ausreichend, weil sich ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Kamerun geändert haben können. Allein auf der Grundlage des Hinweises ihres Bevollmächtigten, dass selbst ein durchschnittlicher Verdienst in Kamerun nicht ausreichen würde, um das Rechtsbeschwerdeverfahren zu finanzieren, kann Verfahrenskostenhilfe nicht bewilligt werden.
Krüger Stresemann Roth
Brückner Weinland