Entscheidungsdatum: 19.05.2011
Die gesetzliche Vermutung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG kommt erst zum Tragen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Betroffene auch ab diesem Zeitpunkt seine geänderte Anschrift nicht mitteilt .
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 18. Zivilkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 27. Dezember 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 16. Dezember 2010 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zweckentsprechenden notwendigen Auslagen der Betroffenen werden dem Regierungsbezirk Mittelfranken auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Die Betroffene, eine russische Staatsangehörige, reiste am 23. Januar 2010 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte erfolglos die Gewährung von Asyl. Das zuständige Bundesamt forderte sie mit seit 15. November 2010 bestandskräftigem Ablehnungsbescheid vom 15. Juni 2010 unter Androhung der Abschiebung in die russische Föderation zur Ausreise auf. In der Folgezeit reiste die Betroffene in die Schweiz aus. Aufgrund eines Wiederaufnahmeersuchens des schweizerischen Bundesamtes für Migration wurde sie am 15. Dezember 2010 nach Deutschland rücküberstellt und auf der Grundlage einer einstweiligen Sicherungshaftanordnung des Amtsgerichts festgenommen. Am 16. Dezember 2010 hat das Amtsgericht auf Antrag der Beteiligten zu 2 die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 15. März 2010 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 27. Dezember 2010 zurückgewiesen.
Die Beschwerdeentscheidung ist der Betroffenen am 10. Januar 2011 zugestellt worden. Hiergegen hat sie mit Schreiben vom 27. Januar 2011 Beschwerde zum Bundesgerichtshof eingelegt. Am 1. Februar 2011 wurde die Betroffene nach Russland abgeschoben. Am 1. März 2011 hat sie Rechtsbeschwerde durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt eingelegt und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsbeschwerde- und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist beantragt. Mit ihrer Rechtsbeschwerde will sie die Feststellung erreichen, dass die Haftanordnung vom 16. Dezember 2010 und die Beschwerdeentscheidung sie in ihren Rechten verletzt haben.
II.
Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen des Haftgrundes nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG seien erfüllt. Die Betroffene habe am 8. Juli 2010 ihren Aufenthaltsort gewechselt und sei seitdem für die Ausländerbehörde nicht mehr greifbar gewesen. Die ihr gesetzte Ausreisefrist sei am 15. Dezember 2010 abgelaufen. Wie das Untertauchen der Betroffenen, ihre Ausreise in die Schweiz und ihre Einlassung vor dem Amtsgericht, sie wolle keinesfalls in ihr Heimatland zurückkehren, belegten, sei davon auszugehen, dass sie sich auch zukünftig der Abschiebung entziehen werde.
III.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Der nach Erledigung der Hauptsache gestellte Feststellungsantrag ist statthaft (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rn. 9) und auch im Übrigen zulässig; insbesondere wahrt die am 1. März 2011 formwirksam eingelegte Rechtsbeschwerde die einmonatige Beschwerdefrist des § 71 Abs. 1 FamFG. Die am 10. Januar 2011 bewirkte Zustellung der Beschwerdeentscheidung an die Betroffene setzte den Lauf der Rechtsbeschwerdefrist nicht in Gang.
a) Die Wirksamkeit der Zustellung der Beschwerdeentscheidung beurteilt sich hier nach den §§ 41 Abs. 1 Satz 2, 15 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. FamFG i.V.m. § 172 ZPO. Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat in einem anhängigen Verfahren die Zustellung ausschließlich an den für diese Instanz bestellten Verfahrensbevollmächtigten zu erfolgen. Diese Vorschrift ist für den Anwendungsbereich des § 15 FamFG jedenfalls dann anwendbar, wenn der Beteiligte einem Rechtsanwalt eine unbeschränkte Verfahrensvollmacht erteilt und dieser dem Gericht seine Bestellung angezeigt hatte (vgl. Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 202/09, Rn. 8, juris; Sternal in Keidel, FamFG, 16. Auflage, § 15 Rn. 24; Bumiller/Harders, FamFG, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 9. Auflage, § 15 Rn. 7). Ein Verstoß gegen § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO führt zur Unwirksamkeit der Zustellung, und die Rechtsmittelfrist beginnt nicht zu laufen (BGH, Urteil vom 5. Dezember 1980 - I ZR 51/80, NJW 1981, 1673, 1674). Jedoch setzt die Pflicht des Gerichts, Zustellungen an den Verfahrensbevollmächtigten zu richten, erst ein mit der Kenntnis des Gerichts von dessen Bestellung. Diese Kenntnis muss dem Gericht bis spätestens zu Beginn der Zustellung vermittelt worden sein. Maßgebend ist danach, ob die Geschäftsstelle in dem Zeitpunkt, in dem sie die gerichtliche Entscheidung zur Post gibt oder dem Gerichtswachtmeister aushändigt, Kenntnis von der Bestellung des Prozessbevollmächtigten hat bzw. haben müsste (BGH, aaO).
b) Hier ging am 3. Januar 2011 beim Landgericht ein Schriftsatz einer Rechtsanwältin vom 29. Dezember 2010 ein, mit dem diese unter Vorlage einer Vollmacht der Betroffenen Beschwerde gegen die Anordnung der Abschiebungshaft einlegte. Der Schriftsatz lag am 4. Januar 2011 der zuständigen Richterin des Landgerichts vor. Am 5. Januar 2011 gab die Geschäftsstelle die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts vom 27. Dezember 2010 zur Post. Die Zustellung hätte daher an die Verfahrensbevollmächtigte der Betroffenen erfolgen müssen.
c) Die mangelhafte Zustellung ist nicht nach § 15 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. FamFG i.V.m. § 189 ZPO geheilt worden. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass der damaligen Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen die Beschwerdeentscheidung zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; insbesondere lässt sich der gerichtlichen Mitteilung vom 24. Januar 2011 an die Verfahrensbevollmächtigte, über die Beschwerde sei bereits entschieden, nicht entnehmen, dass ihr zugleich die Beschwerdeentscheidung zur Kenntnisnahme übersandt wurde.
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
a) Das Amtsgericht und das Beschwerdegericht haben zu Unrecht das Vorliegen des Haftgrundes nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG bejaht.
aa) Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11). Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts lief die Ausreisefrist der Betroffenen am 15. Dezember 2010 ab. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Betroffene aufgrund einer vorläufigen Inhaftierung nach ihrer Rücküberstellung aus der Schweiz bereits in öffentlichem Gewahrsam. Damit war sie für die Ausländerbehörde erreichbar, so dass eine Pflicht der Betroffenen zur Anzeige ihres Aufenthalts nicht bestand.
Soweit das Amtsgericht und das Beschwerdegericht daran anknüpfen, dass die Betroffene vor Ablauf der Ausreisefrist ihren Aufenthaltswechsel nicht angezeigt habe, vermag dies den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht zu begründen. Maßgeblich für die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird, ist der Umstand, dass der Betroffene nach Ablauf der Ausreisefrist für die Durchführung der Abschiebung nicht zur Verfügung steht, weil er die Ausländerbehörde nicht über seinen Aufenthaltsort unterrichtet hat (vgl. OLG München, OLGR 2007, 144, 145, juris Rn. 12; OLG Hamm, OLGR 2002, 332, juris Rn. 14). Wird dem Betroffenen eine Frist zur Ausreise gewährt, muss er vor Ablauf der Frist mit Abschiebungsmaßnahmen nicht rechnen. Daher begründet eine vor Ablauf der Ausreisefrist unterlassene Mitteilung eines Aufenthaltswechsels nicht die Vermutung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, der Betroffene werde für eine Abschiebung nicht zur Verfügung stehen. Die gesetzliche Vermutung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG kommt vielmehr erst dann zum Tragen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Betroffene nun seine geänderte Anschrift nicht mitteilt; denn ab diesem Zeitpunkt muss er sich auf Abschiebungsmaßnahmen einstellen und seine Erreichbarkeit für eine Abschiebung gewährleisten. Geschieht dies nicht, ist allein aufgrund der Nichtanzeige seines Aufenthalts die Vermutung gerechtfertigt, dass er sich dem Zugriff der Ausländerbehörde entziehen will.
bb) Im Übrigen lässt sich weder den Feststellungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts noch den von der Behörde eingereichten Unterlagen entnehmen, dass die Ausländerbehörde die Betroffene über die Folgen einer unterlassenen Mitteilung über den Aufenthalt hingewiesen hat. Angesichts der in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG normierten einschneidenden Folgen einer unterlassenen Anzeige des Wohnortwechsels muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11, vgl. auch OLG Celle, InfAuslR 2004, 118; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rn. 44).
b) Die Feststellungen tragen auch nicht eine Haftanordnung nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG.
Nach dieser Vorschrift ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Dies setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen des Ausländers voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahe legen, dass der Ausländer beabsichtigt, unterzutauchen oder die Abschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, Rn. 15, juris). Aus der Ausreise der Betroffenen in die Schweiz lässt sich nicht ohne Weiteres die Schlussfolgerung ziehen, dass sie sich einer Abschiebung entziehen wollte. Zwar hat die Betroffene, die aufgrund des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Schweizerischen Bundesrat über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt (BGBl. 1996 II S. 945) wieder in das Bundesgebiet rücküberstellt wurde, rückschauend betrachtet ihre Ausreisepflicht nicht erfüllt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 62. Aktual. Februar 2009, § 57 AufenthG Rn. 16). Dies allein rechtfertigt jedoch nicht die Annahme einer Entziehungsabsicht. Weitere Umstände, die den Schluss rechtfertigen, die Betroffene sei allein mit dem Ziel des Untertauchens in die Schweiz ausgereist und nicht, um ihrer Ausreisepflicht nachzukommen, haben weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht festgestellt.
IV.
1. Die Sache ist zur Entscheidung reif, § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die fehlenden Feststellungen noch getroffen werden können. Solche Ergebnisse könnten allerdings nur dann zum Nachteil der Betroffenen verwertet werden, wenn sie hierzu persönlich angehört würde. Dies ist aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Abschiebung nicht mehr möglich.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Regierungsbezirk Mittelfranken, dem die beteiligte Behörde angehört (§ 430 FamFG), zur Erstattung
der notwendigen außergerichtlichen Auslagen der Betroffenen zu verpflichten (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212 f. Rn. 19).
Krüger Stresemann Roth
Brückner Weinland