Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 19.05.2011


BGH 19.05.2011 - V ZB 36/11

Abschiebungshaft wegen unterlassener Anzeige des Aufenthaltswechsels: Hinweispflichten der Ausländerbehörde; zusätzlicher Haftgrund der Entziehungsabsicht


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
19.05.2011
Aktenzeichen:
V ZB 36/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Heilbronn, 30. November 2010, Az: 1 T 547/10 Ri, Beschlussvorgehend AG Öhringen, 16. November 2010, Az: XIV 4/10
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. Der Haftgrund gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG setzt in der Regel voraus, dass die Ausländerbehörde den Ausländer auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hingewiesen hat .

2. Gründet sich der Verdacht der Entziehungsabsicht allein auf Umstände, die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelt sind, kann die Haft nicht zusätzlich auf § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützt werden .

Tenor

Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen für die Einlegung und die Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn vom 30. November 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zweckentsprechenden außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen werden dem Land Baden-Württemberg auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene ist kasachischer Staatsangehöriger und hält sich seit dem Jahre 2007 im Bundesgebiet auf. Er wurde mit Verfügung vom 25. September 2009 unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet innerhalb eines Monats aufgefordert. Der von dem Betroffenen gegen die Abschiebungsandrohung beantragte einstweilige Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht ist ohne Erfolg geblieben.

2

In der Folgezeit hielt sich der Betroffene nicht mehr in der ihm zugewiesenen Unterkunft auf. Am 15. November 2010 wurde er in Gewahrsam genommen, als er bei der Stadtverwaltung seine Eheschließung anmelden wollte.

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Auf Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 16. November 2010 Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von höchstens zwei Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Nach Beendigung des Beschwerdeverfahrens ist er aus der Haft entlassen worden. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt er, den Beschluss des Landgerichts aufzuheben.

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, die Anordnung der Sicherungshaft sei zu Recht erfolgt. Die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 5 AufenthG seien gegeben. Der Betroffene habe seinen Aufenthaltsort gewechselt, ohne dies der Ausländerbehörde bekannt zu geben, und sei damit untergetaucht, was den Verdacht begründe, er werde sich seiner Abschiebung entziehen. Dieser Annahme stehe die beabsichtigte Eheschließung nicht entgegen. Von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen habe es abgesehen, da aufgrund der anwaltlichen Vertretung des Betroffenen und seiner erst kurz zuvor erfolgten persönlichen Anhörung durch das Amtsgericht keine neuen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien.

III.

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1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.

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a) Der Betroffene hat infolge seiner Bedürftigkeit die Fristen für die Einlegung der Rechtsbeschwerde (§ 71 Abs. 1 Satz 1 FamFG) und ihre Begründung (§ 71 Abs. 2 Satz 1 FamFG) versäumt. Ihm ist daher gegen die Versäumung beider Fristen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 17 Abs. 1 FamFG. Nach Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe hat er die Einlegung und die Begründung der Rechtsbeschwerde fristgerecht nachgeholt (§ 18 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, § 71 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 FamFG).

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b) Der von ihm gestellte Antrag auf Aufhebung der Beschwerdeentscheidung ist dem erkennbar verfolgten Rechtsschutzziel entsprechend in einen Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG hinsichtlich der Beschwerdeentscheidung umzudeuten. Die Auslegung des Rechtsschutzbegehrens lässt jedoch keine Umdeutung dahingehend zu, dass auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Entscheidung des Amtsgerichts beantragt ist. Einen solchen Antrag hat er weder in der Beschwerdeinstanz gestellt noch hat er die Haftanordnung zum Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens gemacht.

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3. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Beschwerdeentscheidung hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.

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a) Die Feststellungen tragen nicht den angenommenen Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG.

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(1) Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2011 – V ZB 16/11 Rn. 8, juris; Beschluss vom 1. Juli 1993 – V ZB 19/93, NJW 1993, 3069, 3070 zu § 57 Abs. 2 AuslG). Wegen dieser einschneidenden Folge muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2011– V ZB 16/11 Rn. 8, juris; OLG Celle, InfAuslR 2004, 118; OLG München, OLGR München 2007, 144, 145; OLG Zweibrücken, InfAuslR 2006, 376; Hailbronner, AuslR, 61. Aktualisierung, § 62 AufenthG Rn. 44 a.E.). Bei der Anwendung der Vorschrift ist zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der in Ausnahmefällen dazu führt, dass die Vermutung widerlegt werden kann (BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344 zu § 57 Abs. 2 AuslG; insoweit unzutreffend Senat, Beschluss vom 9. Februar 2011 – V ZB 16/11 Rn. 8, juris, im Anschluss an den Beschluss vom 1. Juli 1993 – V ZB 19/93, NJW 1993, 3069, 3070 zu § 57 Abs. 2 AuslG). Will sich der Ausländer offensichtlich nicht der Abschiebung entziehen, ist der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel allein kein ausreichender Haftgrund (BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344; Hailbronner, AuslR, 61. Aktualisierung, § 62 AufenthG Rn. 44).

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(2) Der Betroffene hat dem Beteiligten zu 2 seinen Aufenthaltsort im Bundesgebiet zwar nicht mitgeteilt. Dass er auf seine Pflicht zur Mitteilung seines Aufenthalts an die Ausländerbehörde hingewiesen worden ist, lässt sich den Feststellungen des Beschwerdegerichts aber nicht entnehmen.

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b) Der Hinweis auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG ist nicht deshalb entbehrlich, weil das Beschwerdegericht sich zusätzlich auf den Haftgrund der Entziehungsabsicht nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützt hat. § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG enthält eine gegenüber der generalklauselartig formulierten Bestimmung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG speziellere Regelung (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Februar 2005 – V ZB 48/04 zu § 57 Abs. 2 AuslG; a.A. OLG Köln, OLGR Köln 2006, 29, 30). Gründet sich der Verdacht der Entziehungsabsicht allein auf Umstände, die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelt sind, ist ein Rückgriff auf die Generalklausel verwehrt. § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG kommt als zusätzlicher Haftgrund nur dann in Betracht, wenn weitere konkrete Umstände die Feststellung der Entziehungsabsicht tragen. Daran fehlt es hier, weil das Beschwerdegericht die Entziehungsabsicht des Betroffenen nur mit dem nicht angezeigten Aufenthaltswechsel begründet hat. Dieser rechtfertigt allein unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG die Anordnung von Sicherungshaft.

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c) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hat den Betroffenen schließlich in seinen Rechten verletzt, weil er in dem Beschwerdeverfahren– wie von der Rechtsbeschwerde gerügt – nicht persönlich angehört worden ist.

14

Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG und Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GG auch im Beschwerdeverfahren grundsätzlich zwingend vorgeschrieben. Hiervon darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 – V ZB 3/10 Rn. 8, FGPrax 2010, 261; Beschluss vom 4. März 2010 – V ZB 222/09 Rn. 13, BGHZ 184, 323; Beschluss vom 28. Januar 2010 – V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163). An diesen Voraussetzungen fehlte es. Dabei kann dahinstehen, ob eine Anhörung schon im Hinblick auf den möglichen Eingriff in das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK erfolgen musste. Denn jedenfalls musste der Betroffene zu der unterlassenen Anzeige des Aufenthaltswechsels an die Ausländerbehörde angehört werden. Dies war in der Beschwerdeinstanz nicht wegen der in erster Instanz erfolgten Anhörung entbehrlich. Diese Frage ist ausweislich des Protokolls nicht thematisiert worden und die im Anschluss daran ergangene Haftanordnung lässt schon nicht erkennen, auf welchen Haftgrund sich das Amtsgericht gestützt hat.

III.

15

1. Die Sache ist zur Entscheidung reif, § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG. Zwar wäre möglicherweise noch feststellbar, ob die erforderliche Belehrung des Betroffenen erfolgt ist. Dazu ist der Betroffene aber nicht angehört worden. Das Unterlassen der notwendigen persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren drückt wegen deren grundlegender Bedeutung der gleichwohl aufrechterhaltenen Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch die Nachholung der Maßnahme - jedenfalls im Fall der Erledigung der Hauptsache - rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 176/10 Rn. 12, juris; Beschluss vom 4. März 2010– V ZB 184/09 Rn. 12, FGPrax 2010, 152).

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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1, § 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, das Land Baden-Württemberg als derjenigen Körperschaft, der der Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten(vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 – V ZB 28/10 Rn. 18, juris). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger                                      Stresemann                                          Roth

                     Brückner                                             Weinland