Entscheidungsdatum: 10.05.2012
Ein Haftantrag ist nach § 417 Abs. 2 FamFG nur zulässig, wenn er die beantragte Haftdauer unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgebots nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der EU-Richtlinie 2008/115/EG) erläutert.
Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt; ihm wird Rechtsanwältin Dr. Ackermann beigeordnet.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Wiesbaden vom 10. September 2011 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 17. Oktober 2011 ihn in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in den Rechtsmittelverfahren werden dem Beteiligten zu 2 auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger und reiste nach eigenen Angaben am 7. September 2011 nach Deutschland ein, ohne im Besitz eines Passes und Aufenthaltstitels zu sein. Er wurde am 9. September 2011 in Wiesbaden festgenommen.
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 10. September 2011 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung in die Türkei bis einschließlich 9. Dezember 2011 angeordnet. Während des Beschwerdeverfahrens hat der Betroffene einen Asylantrag gestellt, gegen dessen Zurückweisung am 13. Oktober 2011 bei dem Verwaltungsgericht Klage erhoben und beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Mit Beschluss vom 17. Oktober 2011 hat das Landgericht die Beschwerde gegen die Haftanordnung zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Zurückweisung des Asylantrags durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 8. November 2011 und seiner Entlassung aus der Haft mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung und ihrer Aufrechterhaltung durch das Landgericht festzustellen.
II.
Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Aufgrund der illegalen Einreise unter der entgeltlichen Zuhilfenahme von Schleusern bestehe der begründete Verdacht, dass er sich der Abschiebung entziehen werde. Damit sei der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF erfüllt. Die Haftdauer von drei Monaten sei verhältnismäßig. Aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden türkischen Personalausweises (Nüfus) könne er innerhalb der angeordneten Haftdauer in die Türkei "zurückgeschoben" werden.
III.
Das zulässige Rechtsmittel ist begründet. Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.
1. Das Amtsgericht hätte die Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht anordnen dürfen, weil es an einem zulässigen Haftantrag fehlte.
a) Dessen Vorliegen ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rn. 12 und vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rn. 7).
b) An dieser Voraussetzung fehlt es.
aa) Ein Haftantrag, der den Anforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG nicht genügt, ist unzulässig und keine Grundlage für die Anordnung von Abschiebungshaft (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, aaO, Rn. 14 und vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, aaO, Rn. 8).
bb) In dem Haftantrag müssen nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG unter anderem die zweifelsfreie Ausreisepflicht des Betroffenen, die Abschiebungsvoraussetzungen, die Erforderlichkeit der Haft, die Durchführbarkeit der Abschiebung und die notwendige Haftdauer dargelegt werden. Die Darlegungen dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen (vgl. Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 f. Rn. 9). Sie müssen auf den konkreten Fall zugeschnitten sein; Leerformeln und Textbausteine genügen nicht (Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82, 83 Rn. 13). Die Durchführbarkeit der Abschiebung muss mit konkretem Bezug auf das Land, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, dargelegt werden. Anzugeben ist dazu, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen Voraussetzungen dies abhängt und ob diese im konkreten Fall vorliegen. Daran fehlt es hier.
cc) Die beteiligte Behörde hat zwar dargelegt, dass der Betroffene unerlaubt eingereist und deshalb kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig war. Sie hat auch die Notwendigkeit der Abschiebung erläutert. Den gesetzlichen Anforderungen genügen aber ihre Darlegungen zu der Durchführbarkeit der Abschiebung nicht. Hier hat sie sich auf austauschbare formelhafte Ausführungen beschränkt. Ihren Ausführungen ist weder zu entnehmen, wie lange die Behörden der Türkei, in welche der Betroffene abgeschoben werden sollte, für die Ausstellung von Ersatzpapieren üblicherweise benötigen, noch, ob das davon abhängt, dass sich der Betroffene zu seiner Identität wahrheitsgemäß äußert, oder ob die Angaben des Betroffenen etwa durch eine Nachfrage bei den türkischen Behörden überprüft worden sind. Weshalb eine Haft von drei Monaten erforderlich erschien und eine Haft von kürzerer Dauer nicht ausreichte, wird nicht erläutert. Eine solche Erläuterung ist indessen unverzichtbarer Bestandteil eines zulässigen Haftantrags, weil die Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken ist und die Frist von drei Monaten vorbehaltlich des § 62 Abs. 4 AufenthG die obere Grenze der möglichen Haft und nicht deren Normaldauer bestimmt. § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist zwar nach Art. 13 des Gesetzes vom 22. November 2011 (BGBl. I S. 2258) erst am 26. November 2011 in Kraft getreten. Die Vorschrift setzt aber nahezu wörtlich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 (ABl. EG Nr. L 348 S. 98) um, die seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist am 24. Dezember 2010 (Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie) auch schon vor dem Inkrafttreten der Umsetzungsvorschriften zu beachten war. Außerdem formuliert sie eine Anforderung, die sich schon aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384, 387 Rn. 27 zu beiden Gesichtspunkten für Art. 17 der Richtlinie).
2. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist im Hinblick auf die vorgenommene Prognose nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG aF zu beanstanden. Nach dieser Vorschrift ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.
a) Für die Anordnung und Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft ist damit erst Raum, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergeben haben, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder zunächst eine zuverlässige Prognose nicht getroffen werden kann (Senat, Beschluss vom 7. April 2011 - V ZB 211/10, juris Rn. 11; BVerfG NJW 2009, 2659, 2660 Rn. 22). Vor der Zurückweisung einer Beschwerde, die sich gegen eine Sicherungshaftanordnung richtet, müssen deshalb die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG aF (heute § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG) unter Berücksichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung erkennbaren Verlaufs des Abschiebungsverfahrens erneut geprüft werden (Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris Rn. 13). Erscheint eine Abschiebung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, nicht mehr innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der Sicherungshaft) möglich, darf die Haft nicht aufrechterhalten werden (Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris Rn. 13). Die erforderliche Prognose darf nur auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage getroffen werden (Senat, Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, juris, Rn. 9; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 17) und hat sich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29 Rn. 22; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 89/10, juris Rn. 8). Die Entscheidung ist im Rechtsbeschwerdeverfahren zwar nur darauf zu prüfen, ob das Beschwerdegericht die der Prognose zugrunde liegenden Wertungsmaßstäbe erkannt und alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und vollständig gewürdigt hat (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 261/10, InfAuslR 2011, 26 Rn. 12; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 17).
b) In diesem Umfang ist sie jedoch zu beanstanden. Das Beschwerdegericht hat den Umfang seiner Pflichten bei der Prüfung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG aF (heute § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG) verkannt.
aa) Zwar sind für Entscheidungen, ob Zurückschiebungen von Asylsuchenden durch Grenzbehörden (§ 18 Abs. 3 AsylVfG) oder Ausländerbehörden (§ 19 Abs. 3 AsylVfG) oder Abschiebungsanordnungen des zuständigen Bundesamtes (§ 34a AsylVfG) rechtmäßig sind und ob von den Betroffenen wegen der durch einen sofortigen Vollzug drohenden Nachteile vorläufiger Rechtsschutz beansprucht und nach den Umständen gewährt werden kann, die Verwaltungsgerichte zuständig. Der Haftrichter ist nicht befugt, über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen zu befinden (Senat, Beschlüsse vom 12. Juni 1986 - V ZB 9/86, BGHZ 98, 109, 112 und vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 728 Rn. 23). Das Beschwerdegericht hat jedoch nicht hinreichend beachtet, dass sich der Haftrichter bei der von ihm nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG aF (heute § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG) abverlangten Prognose, ob die Abschiebung in den kommenden drei Monaten durchgeführt werden kann, nicht mit einem Verweis auf die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte begnügen darf. Er muss in diesem Rahmen eigene Ermittlungen anstellen und den Stand und den voraussichtlichen Fortgang eines bereits anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bei seiner Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer der Haft berücksichtigen und sich dazu bei dem zuständigen Verwaltungsgericht erkundigen (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660 Rn. 23; Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 728 Rn. 24).
bb) Dem ist das Beschwerdegericht nicht gerecht geworden. Der Betroffene hat schon bei der Anhörung vor dem Amtsgericht erklärt, er wolle Asyl beantragen, weil die PKK ihn davor gewarnt habe, den Militärdienst abzuleisten. Diesen - später förmlich gestellten - Antrag hat das zuständige Bundesamt zwar als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Dem ausführlich begründeten Bescheid, der dem Beschwerdegericht in Kopie vorgelegt worden ist, ist aber zu entnehmen, dass sich in dem Fall des Betroffenen neben einer Würdigung seines Verhaltens die von dem Bundesamt eingehend behandelte Frage stellte, ob die Verpflichtung zur Ableistung des Militärdienstes generell und im Fall einer Bedrohung durch die PKK eine politische Verfolgung darstellt. Es war deshalb nicht ohne weiteres damit zu rechnen, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen diesen Bescheid innerhalb der restlichen Haftdauer zurückgewiesen und die Abschiebung weiterhin durchführbar sein würde. Es drängte sich vielmehr auf, bei dem Verwaltungsgericht nach dem Stand der Angelegenheit und dem möglichen Ausgang der Prüfung nachzufragen.
cc) Anhaltspunkte dafür, dass die gebotene, aber unterlassene Nachfrage bei dem Verwaltungsgericht Gesichtspunkte erbracht hätte, die die Prognose gerechtfertigt hätten, der Eilantrag werde innerhalb der angeordneten Haftdauer zurückgewiesen und das mit seinem Erfolg eintretende Abschiebungs- und Hafthindernis (vgl. Senat, Beschluss vom 18. November 2010 - V ZB 121/10, juris Rn. 10) werde nicht eintreten, sind nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat knapp einen Monat nach der Beschwerdeentscheidung über den Eilantrag entschieden. Es hat ihm entsprochen und die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Krüger Schmidt-Räntsch Roth
Brückner Weinland