Entscheidungsdatum: 27.10.2011
Die für einen zulässigen Haftantrag notwendigen Angaben zur Durchführbarkeit der Abschiebung müssen sich auf das Land beziehen, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, und müssen erkennen lassen, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in dieses Land üblicherweise möglich sind .
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der Zivilkammer 84 des Landgerichts Berlin vom 18. November 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 8. Oktober 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Das Land Berlin hat dem Betroffenen sämtliche zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen aller Instanzen zu erstatten.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste 2007 erstmals nach Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt. Im März 2010 reiste er aus Deutschland aus. Einen Tag nach seiner mit Hilfe einer Schleuserorganisation im September 2010 erfolgten Wiedereinreise wurde er in Berlin festgenommen.
Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht am 23. September 2010 zunächst eine vorläufige Haftanordnung erlassen. Mit Beschluss vom 8. Oktober 2010 hat es die Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen bis zum 22. Dezember 2010 sowie die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Am 6. Oktober 2010 hat der Betroffene einen Asylfolgeantrag gestellt.
Die Beschwerde des Betroffenen ist ohne Erfolg geblieben. Nach seiner Haftentlassung im Januar 2011 möchte er mit der Rechtsbeschwerde festgestellt wissen, dass die Haftanordnung des Amtsgerichts vom 8. Oktober 2010 und die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.
II.
Das Beschwerdegericht hat den Betroffenen aufgrund unerlaubter Einreise für vollziehbar ausreisepflichtig und den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG für gegeben erachtet. Der Asylfolgeantrag habe die Abschiebungshaft nicht gehindert. Die Passbeschaffung sei am 29. September 2010 und damit unverzüglich eingeleitet worden. Die Beteiligte zu 2 habe das Verfahren auch im Übrigen mit der gebotenen Zügigkeit betrieben; auf die Bearbeitungsgeschwindigkeit der pakistanischen Botschaft und der Behörden in Pakistan habe sie keinen Einfluss gehabt. Haftfristen (§ 62 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 1 AufenthG) seien gewahrt worden.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sowohl die Entscheidung des Amtsgerichts als auch die des Beschwerdegerichts verletzen den Betroffenen in seinen Rechten, weil es an einer den Anforderungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG genügenden Prognose fehlt.
1. a) Für die Anordnung von Sicherungshaft ist nur Raum, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergibt, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder eine zuverlässige Prognose zunächst nicht getroffen werden kann (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 Rn. 22 f.; Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, Rn. 9, juris). Die Prognose muss auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage basieren und sich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660). Dazu zählt, wenn der Betroffene, wie hier, einen Asylfolgeantrag gestellt hat, auch ein mögliches Abschiebungshindernis nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG (vgl. näher Senat, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - V ZB 222/10, InfAuslR 2011, 25, 26, Rn. 6). Erforderlich sind konkrete Feststellungen zu dem Verfahrensablauf und zu dem Zeitraum, in dem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden. Der Tatrichter darf sich dabei nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde beschränken, die Abschiebung werde voraussichtlich innerhalb von drei Monaten stattfinden können. Soweit diese keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es ihm gemäß § 26 FamFG, diese durch Nachfragen zu ermitteln (vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 8, juris; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 22, juris, mwN). Dass Passersatzpapiere beschafft werden müssen, macht die Prognose nicht entbehrlich (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juni 2011 - V ZB 139/11, Rn. 6, juris; Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 8, juris).
b) Den genannten Anforderungen genügt die Haftanordnung des Amtsgerichts offenkundig nicht. Sie beschränkt sich auf den Satz, es stehe nicht fest, dass die Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten habe, nicht durchgeführt werden könne, und auf die Aussage, die Dauer der angeordneten Sicherungshaft sei erforderlich, um die Abschiebung organisatorisch vorzubereiten. Beides lässt nicht erkennen, dass das Gericht eine auf Tatsachen gestützte Prognose für den konkreten Fall getroffen hat. Auch fehlt die notwendige Vergewisserung, dass mit einer Entscheidung des Bundesamts über den Asylfolgeantrag des Betroffenen innerhalb von drei Monaten gerechnet werden konnte (vgl. § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG sowie Senat, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - V ZB 222/10, InfAuslR 2011, 25, 26 Rn. 6).
2. Die unzureichende Prognose des Amtsgerichts ist in der Beschwerdeinstanz nicht nachgeholt worden. Auch ist das Beschwerdegericht - obwohl zwischen der Haftanordnung und der Beschwerdeentscheidung fast fünf Wochen lagen - seiner Verpflichtung nicht nachgekommen zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung erkennbaren Verlaufs des Abschiebungsverfahrens weiterhin gegeben waren, ob also eine Abschiebung noch innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der Sicherungshaft) möglich erschien (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, Rn. 13, juris).
Der lapidare Satz, Haftfristen seien gewahrt, genügt hierzu nicht. Der Hinweis des Beschwerdegerichts, die beteiligte Behörde habe auf die Arbeitsweise und -geschwindigkeit ausländischer Behörden keinen Einfluss, ist im Rahmen des Beschleunigungsgebots relevant (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZA 2/10, Rn. 16, juris), nicht aber für die nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erforderliche Prognose.
3. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, da weitere tatsächliche Feststellungen nicht in Betracht kommen (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG).
a) Zwar ist bei unzureichenden Feststellungen im Zusammenhang mit der nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu treffenden Prognose eine Zurückverweisung der Sache zwecks weiterer Aufklärung möglich, wenn dem Betroffenen hierzu rechtliches Gehör gewährt werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, Rn. 11, juris). Dem steht vorliegend aber entgegen, dass schon der Haftantrag unzulässig war, weil er keine Angaben zu der Durchführbarkeit der Abschiebung des Betroffenen enthielt. Dieser Mangel kann nicht rückwirkend geheilt werden, da es sich bei der ordnungsgemäßen Antragstellung durch die Behörde um eine Verfahrensgarantie handelt, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rn. 19; Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 14, juris; Beschluss vom 24. Februar 2011 - V ZB 202/10 Rn. 26, FGPrax 2011, 146, 148).
b) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rn. 12 und vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rn. 7). Der Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG begründet werden. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Ein Verstoß gegen den Begründungszwang führt zur Unzulässigkeit des Haftantrags (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, aaO, Rn. 14 und vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, aaO, Rn. 8).
aa) Die Begründung des Haftantrags muss auf den konkreten Fall zugeschnitten sein; Leerformeln und Textbausteine genügen nicht. Der Gesetzgeber hat sich nämlich - abweichend von dem Vorschlag der Bundesregierung, die es auch für Abschiebungshaftsachen bei den Anforderungen des § 23 Abs. 1 Satz 2 FamFG bewenden lassen wollte (Entwurfsbegründung zum FGG-ReformG in BT-Drucks. 16/6308 S. 291) - bewusst dafür entschieden, an die Begründung eines Haftantrags strengere Anforderungen zu stellen und der Behörde mit dem heutigen § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorzuschreiben, zu welchen Punkten sich der Haftantrag zu verhalten hat (Beschlussempfehlung zum FGG-ReformG in BT-Drucks. 16/9733 S. 299). Damit will der Gesetzgeber erreichen, dass dem Gericht schon durch den Antrag selbst eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Einleitung weiterer Ermittlungen bzw. für seine Entscheidung zugänglich wird (Beschlussempfehlung zum FGG-ReformG, aaO; Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rn. 14). Auch gibt eine solche Darlegung dem Betroffenen eine Grundlage für seine Verteidigung gegen den Haftantrag (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 – V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rn. 12). Danach bestimmen sich Inhalt und Umfang der notwendigen Darlegungen. Sie dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen (vgl. Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, Rn. 9, juris). Hinsichtlich der Durchführbarkeit der Abschiebung sind auf das Land bezogene Ausführungen erforderlich, in das der Betroffene abgeschoben werden soll. Anzugeben ist, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind.
bb) Diesen Anforderungen genügt der von der Beteiligten zu 2 gestellte Haftantrag nicht. Angaben zu der erfahrungsgemäß notwendigen Vorbereitungsdauer für eine Abschiebung nach Pakistan enthält er nicht. Die Erklärung, der beantragte Haftrahmen sei erforderlich, weil die Vorbereitung der Abschiebung, die Beschaffung der Flugkarte, Bereitstellung von Begleitpersonal usw. erfahrungsgemäß entsprechende Zeit beanspruchen können, ist eine universell einsetzbare Leerformel, die über die Durchführbarkeit der Abschiebung im konkreten Fall nichts aussagt. Der Hinweis, die Passbeschaffung sei bereits eingeleitet, und es sei, da eine Passkopie vorliege, mit der Ausstellung eines neuen Dokuments zu rechnen, betrifft zwar den individuellen Fall, lässt aber nicht erkennen, wann erfahrungsgemäß mit der Ausstellung des Papiers durch die pakistanischen Behörden zu rechnen ist; auch verhält sie sich nicht dazu, ob eine Abschiebung nach Pakistan weitere Formalitäten erfordert und wieviel Zeit diese voraussichtlich beanspruchen werden. Damit fehlen in dem Haftantrag jegliche Tatsachen, anhand derer der Haftrichter die Prognose nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG treffen konnte.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1 Satz 1 und § 430 FamFG (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 363).
Krüger Lemke Stresemann
Czub Brückner