Entscheidungsdatum: 06.12.2012
1. Eine Beistandsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seiner aufenthaltsberechtigten Lebensgefährtin oder mit deren minderjährigen Kindern kann dazu führen, dass sich eine Anordnung oder eine Verlängerung der Abschiebungshaft als unverhältnismäßig darstellt.
2. Das Gericht hat vor dem Hintergrund der Pflicht zur Amtsermittlung zu prüfen, ob es erforderlich ist, die Lebensgefährtin des Ausländers zu dessen Vorbringen zum Bestehen einer Beistandsgemeinschaft anzuhören oder als Zeugin zu vernehmen.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Beschlüsse der 8. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 23. September 2011 und des Amtsgerichts Hannover vom 15. September 2011 ihn in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Goslar auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Der Betroffene ist ein in Deutschland geborener türkischer Staatsangehöriger. Er wurde nach Begehung von Straftaten 1994 aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und in die Türkei abgeschoben.
Spätestens im November 2010 reiste der Betroffene illegal und ohne Ausweispapiere in das Bundesgebiet ein. Er hielt sich danach im Kreis Goslar bei seiner Lebensgefährtin auf, eine mit einem anderen Mann verheiratete Mutter von drei Kindern. Die Lebensgefährtin erwartete von dem Betroffenen ein Kind. Den Antrag des Betroffenen, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, lehnte die Beteiligte zu 2 (Ausländerbehörde) ab und forderte ihn auf, binnen sieben Tagen auszureisen. Danach war der Betroffene zunächst nicht auffindbar. Die Beteiligte zu 2 beantragte im März 2011 bei dem Amtsgericht Goslar einen Haftbeschluss zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen, erließ gegen ihn im Mai 2011 eine Ausweisungsverfügung und begründete ergänzend ihren Haftantrag gegenüber dem Amtsgericht im Juni 2011. Nach dem Aufgreifen des Betroffenen am 15. Juli 2011 ordnete das Amtsgericht Goslar auf den Antrag der Beteiligten zu 2 Haft zur Sicherung der Abschiebung für sechs Wochen an.
Nach der Inhaftierung beantragte der Betroffene unter Hinweis auf die Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin erneut erfolglos eine Aufenthaltserlaubnis. Seinen Eilantrag auf Aussetzung der Abschiebung wies das Verwaltungsgericht zurück; die dagegen erhobene Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht blieb ohne Erfolg.
Im Hinblick auf das damals noch schwebende Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und den Umstand, dass eine Vorführung des Betroffenen bei dem türkischen Generalkonsulat erst Anfang September 2011 erfolgen konnte, ordnete das Amtsgericht Hannover auf Antrag der Beteiligten zu 2 am 8. August 2011 die Verlängerung der Haft bis einschließlich 15. September 2011 an. Den Antrag des Betroffenen auf Feststellung der Rechtsverletzung durch die Haftverlängerung wies das Landgericht Hannover zurück; diese Entscheidung ist Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens V ZB 224/11.
Auf Grund eines von dem Betroffenen aus der Haft gestellten Asylantrags, der nachfolgend durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, hat die Beteiligte zu 2 einen Antrag auf eine erneute Verlängerung der Abschiebungshaft um weitere sechs Wochen gestellt, dem das Amtsgericht mit Beschluss vom 15. September 2011 stattgegeben hat. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 23. September 2011 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er - nach seiner Abschiebung in die Türkei am 22. November 2011 - die Feststellung beantragt, dass ihn die Beschlüsse vom 15. und 23. September 2011 in seinen Rechten verletzt haben.
II.
Das Beschwerdegericht meint, das Amtsgericht habe zutreffend den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF bejaht. Der Vollzug der Haft stelle sich auch in Bezug auf die Schwangerschaft der Lebensgefährtin und auf die sozialen Bindungen des Betroffenen nicht als unverhältnismäßig dar, da die Verwaltungsgerichte entschieden hätten, dass diese Umstände der Abschiebung nicht entgegenstünden.
III.
Das gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 i.V.m. mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 210, 150, 151 Rn. 9 f.) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsmittel ist begründet.
Die Rechtsbeschwerde rügt mit Recht einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG), weil das Beschwerdegericht keine eigenen Ermittlungen zur Verhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs der Abschiebungshaft angestellt hat.
1. Das Beschwerdegericht durfte sich in Bezug auf die Schwangerschaft der Lebensgefährtin des Betroffenen und die behauptete Lebensgemeinschaft mit ihr und ihren Kindern nicht mit dem Hinweis begnügen, dass die Verwaltungsgerichte in diesen Umständen kein Abschiebungshindernis erkannt haben.
a) Richtig ist zwar, dass die Verwaltungsgerichte und nicht die Haftgerichte darüber zu befinden haben, ob die Abschiebung zu Recht betrieben wird, und dass zu dieser Prüfung auch die Entscheidung der Frage gehört, ob die Lebensgemeinschaft des Ausländers mit einer Deutschen der Abschiebung entgegensteht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 3. Mai 1996 - 3 Z BR 109/96, Rn. 7, juris). Der Haftrichter muss aber prüfen, ob die Wirkungen der Haft in einem angemessenen Verhältnis zu der beabsichtigten Abschiebung stehen (Senat, Beschlüsse 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384, 387, vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318, 1319 Rn. 26 und vom 19. Mai 2011 - V ZB 167/10, NVwZ 2011, 1216 Rn. 7). Diese Prüfung hat das Beschwerdegericht unterlassen.
b) Sie ist notwendig, weil es an der Verhältnismäßigkeit der Haft fehlen kann, wenn zwischen dem Ausländer und seiner Lebensgefährtin eine Beistandsgemeinschaft besteht und sie oder ihre Kinder auf die Unterstützung durch den Ausländer angewiesen sind. Dass der Betroffene mit seiner Lebensgefährtin nicht verheiratet war, schließt die Annahme einer Beistandsgemeinschaft nicht aus, da auch faktische Beziehungen zwischen Erwachsenen den Schutz des Art. 8 EMRK genießen, wenn Elemente einer Abhängigkeit dargelegt werden, die über die üblichen gefühlsmäßigen Bindungen hinausgehen (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318, 1319 Rn. 27). Besteht eine solche, einer Familie ähnliche Beistandsgemeinschaft des Ausländers zu einer aufenthaltsberechtigten Lebensgefährtin mit deren minderjährigen Kindern, darf nach Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98 – im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) Sicherungshaft nur im äußersten Fall und nur für die kürzestmögliche angemessene Dauer angeordnet werden. Diese Richtlinie, die die Bundesrepublik Deutschland nicht gemäß Art. 20 Abs. 1 fristgemäß bis zum 24. Dezember 2010 umgesetzt hatte, ist hier unmittelbar zugunsten des Betroffenen anzuwenden (vgl. EuGH, Urteil vom 28. April 2011 - C-61/11 PPU, Tz. 46, 47, ABl. EU 2011, Nr. C 186, 8 bis 9 = InfAuslR 2011, 320, 322). Der (weitere) Vollzug der Haft hätte sich schließlich auch aufgrund einer möglichen Gefährdung der Gesundheit der Mutter oder des ungeborenen Kindes als unverhältnismäßig darstellen können.
2. Dies bedeutet - entgegen der von der Rechtsbeschwerde vertretenen Ansicht - jedoch nicht, dass vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und des Gebots zur Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK der Haftverlängerungsantrag in jedem Fall hätte zurückgewissen werden müssen. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich weder ein Verbot der Abschiebung noch des Vollzugs einer Sicherungshaft. Das Beschwerdegericht hätte die Verhältnismäßigkeit der Haft bejahen dürfen, wenn es selbst zu der Überzeugung gelangt wäre, dass keine Beistandsgemeinschaft, sondern nur eine Begegnungsgemeinschaft vorlag (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 56/10, Rn. 12, juris), die Lebensgefährtin des Betroffenen auf dessen Lebenshilfe - auch in der bevorstehenden Phase der Geburt des Kindes - nicht angewiesen war und dass keine ernsthafte Gefahren für die Gesundheit der Lebensgefährtin oder des Kindes infolge der Trennung bestanden.
3. Zu einer solchen Würdigung des Vorbringens des Betroffenen hätte das Beschwerdegericht allerdings erst nach einer Anhörung auch der Lebensgefährtin des Betroffenen kommen dürfen.
a) Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet das Gericht, im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen anzustellen. Zwar braucht nicht jeder nur denkbaren Möglichkeit nachgegangen zu werden. Eine Aufklärungs- und Ermittlungspflicht besteht jedoch, soweit das Vorbringen der Beteiligten und der Sachverhalt als solcher bei sorgfältiger Prüfung hierzu Anlass geben. Die Ermittlungen sind erst dann abzuschließen, wenn von weiteren Ermittlungen ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist (BGH, Beschluss vom 17. Februar 2010 - XII ZB 68/09, FGPrax 2010, 128, 130 Rn. 28 mwN). Dass von einer Anhörung der Lebensgefährtin keine Erkenntnisse zu erwarten gewesen wären, ist jedoch weder festgestellt noch ersichtlich.
b) Vor diesem Hintergrund hätte das Beschwerdegericht die Lebensgefährtin anhören müssen. Dies gilt umso mehr, als diese bei dem Anhörungstermin im Gericht anwesend war und der Betroffene die Anhörung beantragt hatte. Vor dem Hintergrund des Gebots zur Amtsermittlung hat das Gericht zu prüfen, ob eine Anhörung oder förmliche Vernehmung der Lebensgefährtin des Betroffenen als Zeugin in Betracht kommt (vgl. Keidel/Budde, FamFG, 17. Aufl., § 420 Rn. 13; Prütting/Helms/Jennißen, FamFG, 2. Aufl., § 418 Rn. 5).
4. Das Rechtsbeschwerdegericht kann in der Sache selbst entscheiden. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 3 Satz 1 FamFG). Die Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) kann nach der Abschiebung des Betroffenen nicht mehr geheilt werden, wenn dieser sich - wie hier - zu dem Ergebnis der noch durchzuführenden weiteren Ermittlungen äußern können muss (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315, 317 Rn. 29).
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 128c Abs. 3 Satz 2, § 30 Abs. 2 KostO.
Stresemann Lemke Schmidt-Räntsch
Czub Kazele