Entscheidungsdatum: 06.12.2012
Ein in dem Antrag auf Verlängerung der Abschiebungshaft in Bezug genommener Haftantrag muss dem Betroffenen vor seiner Anhörung ausgehändigt werden. Unterbleibt dies, wird die darin liegende Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör bei der Entscheidung über die Haftverlängerung nicht dadurch behoben, dass dem Betroffenen die richterliche Haftanordnung ausgehändigt worden ist, auch wenn in jenem Beschluss der von der Ausländerbehörde vorgetragene Sachverhalt dargestellt ist (Fortführung von Senat, Beschluss vom 3. November 2011, V ZB 169/11, Rn. 6, juris).
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 23. September 2011 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 8. August 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Goslar auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Der Betroffene ist ein in Deutschland geborener türkischer Staatsangehöriger. Er wurde nach Begehung von Straftaten 1994 aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und in die Türkei abgeschoben.
Spätestens im November 2010 reiste der Betroffene illegal und ohne Ausweispapiere in das Bundesgebiet ein. Er hielt sich danach im Kreis Goslar bei seiner Lebensgefährtin auf, einer mit einem anderen Mann verheirateten Mutter von drei Kindern. Die Lebensgefährtin erwartete von dem Betroffenen ein Kind. Den Antrag des Betroffenen, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, lehnte die Beteiligte zu 2 (Ausländerbehörde) ab und forderte ihn auf, binnen sieben Tagen auszureisen. Danach war der Betroffene zunächst nicht auffindbar. Die Beteiligte zu 2 beantragte im März 2011 bei dem Amtsgericht Goslar einen Haftbeschluss zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen, erließ gegen ihn im Mai 2011 eine Ausweisungsverfügung und begründete ergänzend ihren Haftantrag gegenüber dem Amtsgericht im Juni 2011. Nach dem Aufgreifen des Betroffenen am 15. Juli 2011 ordnete das Amtsgericht Goslar auf den Antrag der Beteiligten zu 2 Haft zur Sicherung der Abschiebung für sechs Wochen an.
Nach der Inhaftierung beantragte der Betroffene unter Hinweis auf die Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin erneut erfolglos eine Aufenthaltserlaubnis. Seinen Eilantrag auf Aussetzung der Abschiebung wies das Verwaltungsgericht zurück; die dagegen erhobene Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht blieb ohne Erfolg.
Im Hinblick auf das damals noch schwebende Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und den Umstand, dass eine Vorführung des Betroffenen bei dem türkischen Generalkonsulat erst Anfang September 2011 erfolgen konnte, hat das Amtsgericht Hannover auf Antrag der Beteiligten zu 2 am 8. August 2011 die Verlängerung der Haft bis einschließlich 15. September 2011 angeordnet. Den Antrag des Betroffenen auf Feststellung der Rechtsverletzung durch die Haftverlängerung hat das Landgericht Hannover zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Das Beschwerdegericht meint, dass der Betroffene durch die am 8. August 2011 angeordnete Verlängerung der Abschiebungshaft nicht in seinen Rechten verletzt worden sei. Dem stehe nicht entgegen, dass der Verlängerungsantrag nicht die gemäß § 417 Abs. 2 FamFG erforderlichen Angaben zur Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung enthalten habe und dass der erste Haftantrag dem Betroffenen nicht ausgehändigt worden sei. Die für die Entscheidung über die Haftanordnung erforderlichen Informationen der Ausländerbehörde seien im Beschluss des Amtsgerichts über die Haftanordnung wiedergegeben; diesen habe der Betroffene erhalten. Damit sei dessen Anspruch auf rechtliches Gehör hinreichend gewahrt worden.
III.
Das gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 i.V.m. mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 210, 150, 151 Rn. 9 f.) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsmittel ist begründet, da die Anordnung über die Haftverlängerung den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
1. Der Haftverlängerungsantrag entsprach allerdings den Begründungsanforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG.
a) Für Abschiebungshaftanträge werden nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer verlangt (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210 und vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, FGPrax 2010, 316, 317). In gleicher Weise zu begründen ist der Antrag der Behörde auf Verlängerung einer bereits angeordneten und vollzogenen Sicherungshaft, weil nach § 425 Abs. 3 FamFG für die Verlängerung der Freiheitsentziehung die Vorschriften über die erstmalige Anordnung entsprechend gelten (Senat, Beschluss vom 28. April 2011 - V ZB 252/10 Rn. 12, juris).
b) Der Antrag auf Haftverlängerung vom 2. August 2011 genügte für sich genommen diesen Anforderungen nicht, da er sich nur zu den von der Behörde nach der Inhaftierung vorgenommenen Maßnahmen verhielt. Eine verkürzte Begründung des Verlängerungsantrags durch Bezugnahme auf den in der Gerichtsakte befindlichen Haftantrag ist allerdings zulässig, wenn sich bei den nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG darzulegenden Umständen im Vergleich zu dem Haftantrag nichts geändert hat, und der in Bezug genommene Haftantrag dem Betroffenen ausgehändigt worden ist (Senat, Beschluss vom 14. Juli 2011 - V ZB 50/11, Rn. 9, juris).
2. Der angefochtene Beschluss beruht jedoch auf einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts des Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
a) Der in dem Verlängerungsantrag in Bezug genommene Haftantrag ist dem Betroffenen nicht ausgehändigt worden. Zur Wahrung des Grundrechts des Betroffenen auf rechtliches Gehör ist es jedoch grundsätzlich erforderlich, dass ihm der Haftantrag vor seiner Anhörung ausgehändigt und (mündlich) übersetzt wird (Senat, Beschlüsse vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 331 Rn. 16 f. und vom 21. Juli 2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257, 258 Rn. 8 f.). Diesen Anforderungen ist hier nicht genügt worden, da der Haftantrag ausweislich des Vermerks über den Anhörungstermin zur Haftanordnung (§ 28 Abs. 4 Satz 1 FamFG) nur seinem wesentlichen Inhalt nach bekanntgegeben und auch danach dem Betroffenen nicht ausgehändigt wurde.
b) Die darin liegende Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist nicht behoben worden.
aa) Sie wurde nicht - wie das Beschwerdegericht meint - schon durch die Bekanntgabe der gerichtlichen Haftanordnung mit der Folge geheilt, dass es einer Aushändigung des in dem Verlängerungsantrag in Bezug genommenen Haftantrags nicht mehr bedurft hätte. Die Aushändigung des Haftantrags soll sicherstellen, dass sich der Betroffene zu sämtlichen (tatsächlichen und rechtlichen) Angaben der die Haft beantragenden Behörde äußern kann (Senat, Beschlüsse vom 21. Juli 2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257 Rn. 8 und vom 27. September 2012 - V ZB 50/12, Rn. 7, juris). Mit der Bekanntgabe des begründeten Beschlusses gemäß § 41 FamFG wird der Betroffene über die für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Gesichtspunkte, aber nicht über das gesamte Vorbingen der Behörde zur Begründung ihres Haftantrags informiert.
Die Aushändigung der gerichtlichen Haftanordnung an den Betroffenen vermag die erforderliche Aushändigung des Haftantrags der Behörde auch dann nicht zu ersetzen, wenn in dem Beschluss der von den Beteiligten vorgetragene Sachverhalt wiedergegeben worden ist. Dies gilt selbst dann, wenn - was hier nicht der Fall war - der Beschluss den Haftantrag in seinem Wortlaut wiedergibt, solange der Betroffene dies dem Beschluss nicht entnehmen kann (Senat, Beschluss vom 3. November 2011 - V ZB 169/11, Rn. 6, juris).
bb) Der Verfahrensmangel ist auch nicht dadurch geheilt worden, dass der Betroffene mit der seinem neuen Verfahrensbevollmächtigten am 5. September 2011 gewährten Akteneinsicht Kenntnis von dem Inhalt des Haftantrags erlangt hat. Eine Heilung des Verstoßes (mit Wirkung für die Zukunft) ist nämlich erst in einer Anhörung möglich, in der sich der Betroffene zu dem ihm nunmehr bekannten Haftantrag äußern kann (vgl. Senatsbeschluss vom 20. März 2012 - V ZB 59/12, Rn. 12, juris). Diese konnte hier nicht eintreten, weil die Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht am 21. September 2011 und somit erst nach dem Ablauf der mit Beschluss des Amtsgerichts vom 8. August 2011 bis zum 15. September 2011 verlängerten Haft stattfand.
3. Die den Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG zurückweisende Entscheidung des Beschwerdegerichts ist daher aufzuheben und gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1 FamG auszusprechen, dass der Betroffene durch den Beschluss über die Verlängerung der Abschiebungshaft in seinen Rechten verletzt worden ist.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 128c Abs. 3 Satz 2, § 30 Abs. 2 KostO.
Stresemann Lemke Schmidt-Räntsch
Czub Kazele