Entscheidungsdatum: 19.05.2011
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 17. Mai 2010 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 11. Januar 2010 und der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 17. Mai 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Landeshauptstadt H. trägt die notwendigen Auslagen des Betroffenen aller Instanzen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Mit Verfügung der Beteiligten zu 2 vom 25. April 2005 wurde der Betroffene, ein tunesischer Staatsangehöriger, aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Die verwaltungsgerichtliche Anfechtung dieser Entscheidung blieb ohne Erfolg. Der Betroffene kam seiner Ausreisepflicht nicht nach und tauchte unter. Am 11. Januar 2010 wurde er bei einer Polizeikontrolle in H. festgenommen. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht noch am selben Tag durch einen - nach Auffassung des Betroffenen nach den Vertretungsregelungen des Geschäftsverteilungsplans nicht zuständigen - Richter die Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Im Rahmen der Anhörung hatte der Betroffene angegeben, er habe einen in Deutschland lebenden zweijährigen Sohn. Im Beschwerdeverfahren hat er dies dahin konkretisiert, entsprechend der mit seiner Lebensgefährtin abgesprochenen Arbeitsteilung habe er das Kind, das die deutsche Staatsangehörigkeit habe, vom Tag der Geburt an versorgt, gefüttert, gewindelt und mit ihm täglich gespielt. Aufgrund der Inhaftierung sei das Kind hochgradig irritiert, weine häufig und suche den Vater. Mit Beschluss vom 1. Februar 2010 hat das Amtsgericht die Haftanordnung aufgehoben. Den darauf gerichteten Antrag hatte die Beteiligte zu 2 damit begründet, es liege nunmehr ein Abschiebungshindernis vor. Das ändere allerdings nichts daran, dass der Feststellungsantrag zurückzuweisen sei, weil bisher nicht bekannt gewesen sei, dass der Betroffene Vater eines deutschen Kindes sei.
In seiner Nichtabhilfeentscheidung vom 8. März 2010 hat das Amtsgericht - nunmehr jedenfalls in regulärer Besetzung - den Feststellungsantrag des Betroffenen für unbegründet erachtet. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Antrag weiter.
II.
Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, die Voraussetzungen für die Haftanordnung hätten vorgelegen. Dem stehe nicht entgegen, dass der Betroffene Vater eines in Deutschland lebenden Kindes sei. Abschiebungshindernisse seien im vorliegenden Fall nicht vom Haftrichter zu prüfen. Verfahrensfehler lägen nicht vor oder verletzten den Betroffenen jedenfalls nicht in seinen Rechten. Insbesondere sei die vermeintliche Unzuständigkeit des die Haft anordnenden Richters nach der Regelung des § 22d GVG ohne Bedeutung.
III.
Die auch nach Erledigung der Hauptsache statthafte (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 Abs. 1 und 2 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Bedenken begegnet die Beschwerdeentscheidung schon deshalb, weil § 22d GVG lediglich besagt, dass richterliche Entscheidungen auch dann gültig sind, wenn ein nach der Geschäftsverteilung unzuständiger Richter tätig geworden ist; die Anfechtbarkeit der Entscheidung wegen eines Verstoßes gegen die Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 GG bleibt hiervon jedoch unberührt (vgl. nur MünchKomm-ZPO/Zimmermann, 3. Aufl., § 22d GVG Rn. 4; Zöller/Lückemann, ZPO, 28. Aufl., § 22d GVG Rn. 1; jeweils mwN). Die sich hieran anschließenden Fragen, ob der die Haft anordnende Richter - wozu das Beschwerdegericht keine Feststellungen getroffen hat - objektiv willkürlich seine Vertretungszuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan angenommen hat (zum Willkürmaßstab bei der Anwendung und Auslegung von Geschäftsverteilungsplänen vgl. nur BVerfG, NJW 2005, 2689, 2690; Zöller/Lückemann, aaO, mwN) und ob der darin liegende Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 GG durch die nachfolgenden Bestätigungen der Haftanordnung im Abhilfe- und Beschwerdeverfahren geheilt worden ist, bedürfen hier keiner Klärung, weil der Feststellungsantrag aus anderen Gründen gerechtfertigt ist.
2. Der Betroffene ist jedenfalls deshalb in seinen Rechten verletzt, weil die Haftanordnung unverhältnismäßig war. Der Haftrichter hat zu prüfen, ob die Wirkungen der Haft in einem angemessenen Verhältnis zu der angestrebten Sicherung der Abschiebung stehen (vgl. nur BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344; Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318, 1319). Dem werden die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht gerecht.
Wie die Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang zu Recht rügt, ist der entscheidungserhebliche Sachverhalt unter Verstoß gegen § 26 FamFG nicht hinreichend aufgeklärt worden; die Haft hätte bei verfahrensgerechter Aufklärung nicht angeordnet werden dürfen. Denn nicht nur bei der Entscheidung über die Abschiebung, sondern auch bei der diese vorbereitenden Sicherungshaft hat der Richter unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit einer gelebten Vater-Kind-Beziehung (Art. 6 GG) Rechnung zu tragen (zu Art. 8 EMRK vgl. auch Senat, aaO). Der Betroffene hat im Rahmen der Anhörung vor dem Amtsgericht auf sein in Deutschland lebendes minderjähriges Kind hingewiesen. Schon vor diesem Hintergrund musste sich dem Haftrichter eine weitere Sachaufklärung zunächst durch schlichtes Nachfragen dahin aufdrängen, ob eine gelebte Vater-Kind-Beziehung vorlag. Wie der weitere Verfahrensverlauf zeigt, hätte die Behörde in Kenntnis der durch eine sachgerechte Anhörung zutage geförderten Umstände den Haftantrag bei einer Rückfrage durch den Haftrichter nicht aufrechterhalten. Die Haft wäre dann nicht angeordnet worden. Davon abgesehen ist die Anordnung von Sicherungshaft unter dem Blickwinkel des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei gelebten Beziehungen von Eltern zu minderjährigen Kindern nur im äußersten Fall zulässig (vgl. Senat, aaO; für die Abschiebung von Familien vgl. auch Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 - ABl. L 348/98). Umstände, die die Annahme eines solchen Falles tragen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Sache ist daher zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG).
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Beteiligte zu 2 zur Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Anlagen des Betroffenen zu verpflichten (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212 f. Rn. 19).
Krüger Stresemann Roth
Brückner Weinland