Entscheidungsdatum: 01.03.2012
Wird der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer aufgrund der vom Amtsgericht angeordneten vorläufigen Freiheitsentziehung von der Polizei festgenommen, befindet er sich zunächst in Polizeigewahrsam und damit in "sonstigem öffentlichen Gewahrsam" im Sinne von § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVerfG; ein daraus gestellter Asylantrag steht der Anordnung oder Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft entgegen.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Homburg vom 19. Juli 2011 ihn in seinen Rechten verletzt hat.
Im Übrigen wird die Sache zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Der Betroffene, sudanesischer Staatsangehöriger, reiste am 1. August 1990 in das Bundesgebiet ein und nahm hier ein Studium auf, das er jedoch nicht abschloss. Mit Bescheid vom 7. April 2008 lehnte die Beteiligte zu 2 die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung in den Sudan zur Ausreise auf. Im März 2011 erschien der Betroffene trotz Ladung zu zwei Terminen, an denen die Abschiebung durchgeführt werden sollte, nicht.
Am 29. Juni 2011 beantragte die Beteiligte zu 2 die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen und zugleich die einstweilige Anordnung einer vorläufigen Freiheitsentziehung.
Mit Beschluss vom 30. Juni 2011 ordnete das Amtsgericht die vorläufige Freiheitsentziehung des Betroffenen bis längstens zum 11. August 2011 und die sofortige Vollziehung der Entscheidung an. Aufgrund dieses Beschlusses nahmen Polizeibeamte den Betroffenen am 19. Juli 2011 fest. Jedenfalls vor seiner Vorführung bei dem Haftrichter am selben Tag ging bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend Bundesamt) ein Asylantrag des Betroffenen ein.
Mit Beschluss vom 19. Juli 2011 hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen die Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis längstens 30. September 2011 angeordnet. Während des hiergegen gerichteten Beschwerdeverfahrens stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 5. August 2011 fest, dass bei dem Betroffenen sowohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorlägen als auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bestünden. Das Beschwerdegericht hat den Betroffenen nochmals angehört und seine Beschwerde zurückgewiesen.
Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene nach seiner Haftentlassung am 23. September 2011 die Feststellung, dass er durch die Haftanordnung vom 19. Juli 2011 und ihre Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht in seinen Rechten verletzt worden ist.
II.
Das Beschwerdegericht meint, der Haftanordnung vom 19. Juli 2011 habe ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Er enthalte Ausführungen zu der Erforderlichkeit der Haft und der Haftdauer. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig, die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 5 AufenthG aF genannten Haftgründe hätten vorgelegen. Der von dem Betroffenen gestellte Asylantrag habe der Haftanordnung nicht entgegengestanden. Durch die Festnahme habe sich der Betroffene im Zeitpunkt der Asylantragstellung in Sicherungshaft befunden. Gründe, die der Abschiebung des Betroffenen binnen drei Monaten entgegenstünden, seien nicht ersichtlich gewesen. Die Beteiligte zu 2 habe die Abschiebung auch mit der notwendigen Beschleunigung betrieben.
III.
Das hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Die ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthafte (vgl. nur Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 10 juris) und auch im Übrigen nach § 71 FamFG zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Jedenfalls die Entscheidung des Amtsgerichts vom 19. Juli 2011, die neben der Beschwerdeentscheidung ebenfalls Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154 Rn. 14), hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt. Ob das auch für die Entscheidung des Beschwerdegerichts gilt, kann derzeit nicht beurteilt werden.
a) Der Anordnung der Sicherungshaft durch das Amtsgericht stand die durch die Asylantragstellung des Betroffenen nach § 55 Abs. 1 Satz 1, 3 AsylVfG begründete Aufenthaltsgestattung als von Amts wegen zu beachtendes Hafthindernis entgegen (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 78/10, FGPrax 2011, 39 Rn. 18).
aa) Bei einer Einreise aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union erwirbt der Ausländer nach § 55 Abs. 1 Satz 1, Satz 3 AsylVfG die Aufenthaltsgestattung mit dem Eingang eines förmlichen Asylantrags bei dem zuständigen Bundesamt (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 78/10, FGPrax 2011, 39, 40 Rn. 19). So verhielt es sich hier. Der Asylantrag ist am 19. Juli 2011 jedenfalls vor der Entscheidung des Amtsgerichts über die Haftanordnung bei dem Bundesamt eingegangen.
bb) Dieser Umstand war für die Haftanordnung nicht unbeachtlich. Zwar ermöglichte die Vorschrift des § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG aF die Anordnung der Abschiebungshaft trotz Asylantragstellung, wenn sich der Ausländer im Zeitpunkt der Asylantragstellung in Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a bis 5 AufenthG aF befand. So verhielt es sich hier aber nicht. Die Festnahme des Betroffenen durch die Polizei am 19. Juli 2011 aufgrund der mit Beschluss des Amtsgerichts vom 30. Juni 2011 angeordneten vorläufigen Freiheitsentziehung führte nicht zu deren Vollzug. Vielmehr befand sich der Betroffene aufgrund der Festnahme zunächst nur in Polizeigewahrsam und damit in "sonstigem öffentlichen Gewahrsam" im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG aF, der weder nach dem Wortlaut von § 14 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG aF noch in einer entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift der Sicherungshaft gleichzustellen ist (KG Berlin, FGPrax 2001, 40).
b) Anders war es im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Nachdem das Bundesamt mit Bescheid vom 5. August 2011 festgestellt hatte, dass bei dem Betroffenen sowohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorlägen als auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bestünden und der Betroffene - nach den Darlegungen seiner Verfahrensbevollmächtigten in der Anhörung vor dem Beschwerdegericht - erklärt hatte, gegen die Entscheidung des Bundesamts kein Rechtsmittel eingelegt zu haben, stand der Asylantrag der Aufrechterhaltung der Haft für die Zukunft nicht entgegen (vgl. auch § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG).
c) Ohne Rechtsfehler hat das Beschwerdegericht die vollziehbare Ausreisepflicht des Betroffenen und das Vorliegen der in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 5 AufenthG genannten Haftgründe bejaht. Einwände hiergegen erhebt die Rechtsbeschwerde nicht.
d) Ein Verstoß der Beteiligten zu 2 gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen liegt nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht vor.
Die Abschiebungshaft muss auch während des Laufs der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt und die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betrieben werden (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 247/10, Rn. 7, juris). Das Beschwerdegericht darf die Sicherungshaft deshalb nur aufrechterhalten, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt und zwar, gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, mit der größtmöglichen Beschleunigung (Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09 Rn. 16, juris). Ein Verstoß kann vorliegen, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 247/10, Rn. 7, juris; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10 Rn. 18, juris; Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 239).
So liegt es hier nicht. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts war der Beteiligten zu 2 die Beschaffung von Passersatzpapieren aufgrund des Asylantrags vorübergehend nicht möglich. Dass die Anhörung des Betroffenen bei der Botschaft der Republik Sudan deshalb erst am 25. August 2011 stattfinden konnte, ist der Beteiligten zu 2 nicht zuzurechnen, weil sie auf die Bearbeitung der Verfahren durch die beteiligten ausländischen Behörden keinen Einfluss hat (Senat, Beschluss vom 25. August 2011 - V ZB 188/11 Rn. 16, juris; Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZA 2/10 Rn. 16, juris).
d) Im Ergebnis zu beanstanden ist aber die von dem Beschwerdegericht vorgenommene Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG. Nach dieser Vorschrift ist die Aufrechterhaltung der Sicherungshaft unzulässig, wenn die Unmöglichkeit der Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate feststeht und dies auf Gründen beruht, die der Ausländer nicht zu vertreten hat.
aa) Für die Anordnung von Abschiebungshaft ist erst Raum, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergeben hat, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder zunächst eine zuverlässige Prognose nicht getroffen werden kann (Senat, Beschluss vom 7. April 2011 - V ZB 211/10, Rn. 9, juris; BVerfG NJW 2009, 2659, 2660 Rn. 22). Diese darf nur auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage getroffen werden (Senat, Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, juris, Rn. 9; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 17) und hat sich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29 Rn. 22; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 89/10, Rn. 8, juris). Dafür sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können, erforderlich (Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 17). Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 363). Die Entscheidung ist im Rechtsbeschwerdeverfahren zwar nur darauf zu prüfen, ob das Beschwerdegericht die der Prognose zugrunde liegenden Wertungsmaßstäbe erkannt und alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und vollständig gewürdigt hat (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 261/10, InfAuslR 2011, 26 Rn. 12; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175, 1176 Rn. 17). In diesem Umfang ist die Prognose des Beschwerdegerichts jedoch zu beanstanden, weil es wesentliche Punkte unberücksichtigt gelassen hat.
bb) Nach dem Bericht über die Einzelanhörung des Betroffenen bei der Botschaft der Republik Sudan war Voraussetzung für die Verlängerung seines Reisepasses die Regelung seiner persönlichen Angelegenheiten; insbesondere sollte er sein Mietverhältnis kündigen, sein Konto auflösen und die Übersendung von persönlichen Gegenständen in den Sudan organisieren. Zudem sollte die Verlängerung des Reisepasses erst nach Vorlage einer Flugbuchung vorgenommen werden und der Zeitraum zwischen der Flugbuchung und der Ausreise 15 Arbeitstage betragen. Das Beschwerdegericht hat sich mit diesen von der Botschaft vorgegebenen Voraussetzungen nicht auseinandergesetzt. Hierzu bestand jedoch gerade deshalb Anlass, weil bis zum Ablauf der Haftdauer am 30. September 2011 nur noch ein Zeitraum von fünf Wochen lag. Der Hinweis des Beschwerdegerichts auf einen in den Ausländerakten befindlichen Screenshot eines Datenbankausdrucks ist nicht ausreichend. Daraus ergibt sich nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts lediglich, dass die Erteilung von Passersatzpapieren für den Sudan selbst ohne Sachbeweise im Allgemeinen innerhalb von drei Monaten möglich sei. Entscheidend für die Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG ist aber nicht die übliche Dauer für die Erteilung der Passersatzpapiere, sondern die von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängende Möglichkeit der Abschiebung des Betroffenen.
IV.
Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG). Bei unzureichenden Feststellungen im Zusammenhang mit der nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG zu treffenden Prognose ist eine Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht zwecks weiterer Aufklärung möglich, wenn dem Betroffenen hierzu rechtliches Gehör gewährt werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, Rn. 11 juris; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, Rn. 11, juris). So verhält es sich hier.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass eine Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG auch dann erfolgen muss, wenn der Betroffene eine ihm obliegende Mitwirkung verweigert hat. Sollte die von der Beteiligten zu 2 nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens in dem Schreiben vom 31. August 2011 geschilderte Weigerung des Betroffenen, seine persönlichen Angelegenheiten aus der Haft heraus zu regeln, schuldhaft gewesen sein, ist in die Prognose einzustellen, wie das weitere Verfahren bei einer Mitwirkung des Betroffenen üblicherweise abgelaufen wäre. Verbleibt dann im Ergebnis der Prognose eine Ungewissheit, geht diese bei der - wie hier - erstmaligen Anordnung der Haft für drei Monate zu Lasten des Betroffenen (Senat, Beschluss vom 6. Oktober 2011 - V ZB 188/11, Rn. 15, juris; Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 122/11 Rn. 14, juris; BVerfG, NJW 2009, 2659 f. Rn. 19).
Krüger Lemke Schmidt-Räntsch
Brückner Weinland