Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 27.09.2018


BSG 27.09.2018 - B 9 V 16/18 B

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Klage auf "Versorgung nach dem SVG" - Grundurteil nur bei Geldleistungen und Feststellung sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen - unzulässige Zurückverweisung an die Verwaltung - Zurückverweisung an das LSG


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
27.09.2018
Aktenzeichen:
B 9 V 16/18 B
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2018:270918BB9V1618B0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Wiesbaden, 30. Oktober 2014, Az: S 7 VE 31/12, Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht, 8. Februar 2018, Az: L 1 VE 33/14, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 2018 aufgehoben, soweit auf die Anschlussberufung des Klägers die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Versorgung wegen der Gesundheitsstörung "Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)" erfolgt ist.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Anerkennung einer Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie) als Folge einer Wehrdienstbeschädigung und um die Gewährung von "Versorgung" nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

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Der 1936 geborene Kläger war Zeitsoldat der Bundeswehr von Mai 1959 bis April 1963 und von Februar 1965 bis Januar 1973. Dort war er ua als Radarflugmelder eingesetzt. Im März 2006 beantragte der Kläger, die bei ihm im Vormonat diagnostizierte Haarzellleukämie und einen bereits 1996 diagnostizierten Katarakt an beiden Augen als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und ihm deshalb Beschädigtenversorgung zu gewähren. Diesen Antrag lehnte das damals noch zuständige Land Hessen ab (Bescheid vom 24.1.2008, Widerspruchsbescheid vom 26.11.2012). Auf die hiergegen vom seinerzeit nicht anwaltlich vertretenen Kläger erhobene Klage hat das SG mit Urteil vom 30.10.2014 das beklagte Land Hessen verurteilt, festzustellen, "dass die beim Kläger aufgetretene Gesundheitsstörung 'Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)' als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen" sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Hiergegen hat das Land Hessen Berufung eingelegt und der nunmehr anwaltlich vertretene Kläger Anschlussberufung.

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Das LSG hat mit Urteil vom 8.2.2018 die Berufung zurückgewiesen und - klarstellend - die Beklagte als Rechtsnachfolgerin des Landes Hessen verurteilt, die beim Kläger aufgetretene Gesundheitsstörung "Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)" als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen. Auf die Anschlussberufung des Klägers hat es die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Gesundheitsstörung "Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)" Versorgung nach dem SVG iVm dem BVG ab 1.3.2006 zu gewähren. Hierzu hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Die Anschlussberufung des Klägers sei zulässig und begründet. Bezüglich des mit der Anschlussberufung geltend gemachten Versorgungsbegehrens sei mit Blick auf die bereits vom SG als Folge einer Wehrdienstbeschädigung zuerkannte Gesundheitsstörung "Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)" kein neuer Streitgegenstand betroffen. Der erstinstanzlich nicht anwaltlich vertretene Kläger habe mit seinem Klageschriftsatz vom 1.12.2012 neben der Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Folge einer Wehrdienstbeschädigung die Versorgung nach dem SVG iVm dem BVG beantragt. Diesen Antrag habe er im erstinstanzlichen Verfahren nicht zurückgenommen. Vielmehr habe das SG rechtsirrtümlich das Versorgungsbegehren des Klägers als nicht mehr entscheidungsbedürftig angesehen. Hierüber könne im Berufungsverfahren entschieden werden.

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Beklagte Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie macht Verfahrensmängel geltend. Sie rügt einen Verstoß gegen § 130 Abs 1 S 1 SGG. Das LSG habe sie auf die Anschlussberufung des Klägers im Wege eines Grundurteils zur "Versorgung" verurteilt, ohne dass dessen Voraussetzungen vorgelegen hätten. Bei zutreffender Anwendung des formellen Rechts hätte das Berufungsgericht erkennen müssen, dass die für ein zulässiges Grundurteil notwendigen Feststellungen, in welchem zeitlichen Umfang beim Kläger überhaupt ein rentenberechtigter Grad der Schädigungsfolgen (GdS) vorgelegen habe, nicht mehr vom Streitgegenstand der sich gegen die erstinstanzlich ausgeurteilte Feststellung wendenden Berufung der Beklagten erfasst sei und in der Folge die Anschlussberufung des Klägers als unzulässig verwerfen müssen. Zudem habe das LSG gegen § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO verstoßen, weil die Entscheidung bezüglich dieses Tenors nicht mit Gründen versehen sei.

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II. Die auf die Entscheidung zur Anschlussberufung des Klägers begrenzte Beschwerde der Beklagten hat in vollem Umfang Erfolg.

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1. Die Beschwerde ist zulässig. Die Beklagte hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG) gerügt, dass ihre auf die Anschlussberufung des Klägers (§ 202 S 1 SGG iVm § 524 ZPO; zu den Voraussetzungen s zB BSG Urteil vom 23.1.2018 - B 2 U 4/16 R - Juris RdNr 10 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2700 § 123 Nr 3 vorgesehen) erfolgte Verurteilung, dem Kläger wegen der Gesundheitsstörung "Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)" "Versorgung" nach dem SVG iVm dem BVG zu gewähren, verfahrensfehlerhaft gewesen ist, weil insoweit bereits die Voraussetzungen für ein Grundurteil (§ 130 Abs 1 S 1 SGG) nicht vorgelegen haben.

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2. Die Beschwerde ist in dem von der Beklagten gerügten Umfang auch begründet. Das von ihr insoweit angegriffene und auf die Anschlussberufung des Klägers ergangene Urteil des LSG auf Gewährung von "Versorgung" nach dem SVG iVm dem BVG erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 130 Abs 1 S 1 SGG für den Ausspruch eines Grundurteils.

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Nach § 130 Abs 1 S 1 SGG kann zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden, wenn gemäß § 54 Abs 4 oder 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Bestimmung setzt für den Ausspruch eines Grundurteils einen Anspruch auf Geldleistungen voraus und erlaubt ein Grundurteil nur wegen der Höhe derartiger Leistungen (Senatsurteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90 = Juris RdNr 25).

9

Der Kläger verlangt - wie sein gemäß § 133 BGB meistbegünstigend auszulegendes und vom LSG auch so verstandenes, im Wege der Anschlussberufung geltend gemachtes Versorgungsbegehren ergibt (vgl Senatsbeschluss vom 16.2.2012 - B 9 SB 48/11 B - Juris RdNr 17; Senatsurteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - Juris RdNr 16) - alle in seinem Fall möglichen Ansprüche auf Versorgung nach § 80 S 1 SVG iVm den entsprechend anzuwendenden Vorschriften des BVG. Denn die Begriffe "Versorgung bei Wehrdienstbeschädigung", "Soldatenversorgung" oder "Beschädigtenversorgung" bezeichnen keine bestimmte Leistung, sondern umfassen grundsätzlich alle nach dem SVG iVm dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 80 S 1 SVG iVm § 9 Abs 1 BVG). Selbst wenn im vorliegenden Fall als "Versorgung" lediglich Geldleistungen in Betracht kämen, die gemäß § 130 Abs 1 S 1 SGG auch nur Gegenstand eines Grundurteils sein können (vgl Senatsurteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90 = Juris RdNr 25; BSG Urteil vom 23.8.2013 - B 8 SO 10/12 R - SozR 4-1500 § 130 Nr 4 RdNr 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 130 RdNr 2a; Giesbert in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, Stand: 15.7.2017, § 130 RdNr 23; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 130 RdNr 2; Aussprung in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 130 RdNr 17), kann nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 Abs 1 S 1 SGG sein (Senatsurteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12 mwN). Dies hat das LSG bei seiner Entscheidungsfindung nicht beachtet.

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Selbst wenn man das im Wege der Anschlussberufung geltend gemachte Begehren des Klägers für zulässig erachten würde und in dessen wohlverstandenem Interesse zudem dahingehend auslegen wollte, dass dieser wegen der Gesundheitsstörung "Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)" als Folge einer Wehrdienstbeschädigung die Gewährung einer Beschädigten-Grundrente ab 1.3.2006 begehrt (vgl § 123 SGG), darf ein Grundurteil nur ergehen, wenn sämtliche Voraussetzungen für einen solchen Anspruch vom Gericht geprüft und bejaht werden (vgl Senatsurteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - Juris RdNr 16; BSG Urteil vom 20.4.1999 - B 1 KR 15/98 R - SozR 3-1500 § 141 Nr 8 S 12 = Juris RdNr 16; BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 1 KR 5/97 R - BSGE 83, 13, 18 = SozR 3-2500 § 50 Nr 5 S 24 = Juris RdNr 22; BSG Urteil vom 14.2.1978 - 7 RAr 65/76 - SozR 1500 § 130 Nr 2 S 2 = Juris RdNr 20). Welche dies im Einzelnen sind, hängt vom jeweiligen Streitgegenstand, also vom erhobenen Anspruch iS des § 123 SGG ab (BSG Urteil vom 20.4.1999 aaO).

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Bezüglich eines Anspruchs auf Beschädigten-Grundrente fehlt es an den für eine abschließende Entscheidung notwendigen Feststellungen des Berufungsgerichts. Der Kläger kann eine Beschädigten-Grundrente nur verlangen, wenn seine Erwerbsfähigkeit schädigungsbedingt um mindestens 25 vH gemindert ist (§ 80 S 1 SVG iVm §§ 30, 31 BVG). Bevor ein Grundurteil zur Beschädigten-Grundrente erlassen wird, hat das Tatsachengericht aber von Amts wegen zu ermitteln, ob die Voraussetzungen für diesen Anspruch bestehen (vgl Senatsurteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - Juris RdNr 17). Das LSG hat zwar festgestellt, dass im Februar 2006 beim Kläger eine Haarzellleukämie diagnostiziert wurde (Bezugnahme auf den Arztbrief Dr. K. vom 10.3.2006), die nach einer Behandlung mit Cladribin zu einer Vollremission führte (Bezugnahme auf den Arztbrief Prof. Dr. F. vom 22.9.2011). Nicht geprüft hat es aber, ob und ggf bis zu welchem Zeitpunkt die festgestellte Haarzellleukämie einen GdS in rentenberechtigender Höhe (von mindestens 25) bedingt hat.

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Das LSG hat - ohne dies im Tenor der Entscheidung auszusprechen - auf die Anschlussberufung des Klägers letztlich eine "Zurückverweisung an die Verwaltung" vorgenommen. Eine Zurückverweisung an die Verwaltung kommt aber nur unter den Voraussetzungen des § 131 Abs 5 SGG in Betracht. Ein Grundurteil mit diesem Inhalt ist unzulässig (Senatsurteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90 = Juris RdNr 25; BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 1 KR 5/97 R - BSGE 83, 13, 18 = SozR 3-2500 § 50 Nr 5 S 24 = Juris RdNr 22). Anderenfalls müsste der dem Grunde nach verurteilte Leistungsträger nämlich im Rahmen des daraufhin zu erlassenden Verwaltungsakts erneut und selbst die Prüfung der verschiedenen Anspruchsvoraussetzungen vornehmen. Eine dahingehende Verurteilung wäre regelmäßig als eine Verpflichtung unter der Bedingung des im Verwaltungsverfahren noch zu prüfenden Vorhandenseins von Anspruchsvoraussetzungen anzusehen, was unzulässig wäre. Allein die Höhe der Leistung kann vom Gericht offengelassen werden. Die Anspruchsvoraussetzungen, die den Leistungsanspruch dem Grunde nach ergeben, müssen beim Erlass eines Grundurteils nach § 130 Abs 1 S 1 SGG sämtlich geprüft und festgestellt werden. Deshalb wird der Leistungsträger aufgrund eines Grundurteils durch den daraufhin zu erlassenden Verwaltungsakt regelmäßig nur noch über die Höhe der Geldleistung zu befinden haben (vgl BSG Urteil vom 20.4.1999 - B 1 KR 15/98 R - SozR 3-1500 § 141 Nr 8 S 11 = Juris RdNr 16; BSG Urteil vom 14.2.1978 - 7 RAr 65/76 - SozR 1500 § 130 Nr 2 S 2 = Juris RdNr 20).

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Auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung der Vorinstanz beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG im Hinblick auf die vorgenannten Anforderungen zum Erlass eines Grundurteils nach § 130 Abs 1 S 1 SGG das Anschlussberufungsbegehren des Klägers und den damit geltend gemachten prozessualen Anspruch anders ausgelegt und vor dem Hintergrund der für ein Grundurteil "auf Versorgung nach dem SVG iVm dem BVG" noch zu treffenden notwendigen tatsächlichen Feststellungen zu einer anderen (Sach-)Entscheidung gekommen wäre.

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3. Da die Beschwerde bereits aus den oben dargelegten Gründen erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats, ob die weitere Verfahrensrüge der Beklagten eines Verstoßes gegen § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO ebenfalls zulässig und begründet ist. Denn auch diese Verfahrensrüge steht im Zusammenhang mit ihrer auf die Anschlussberufung des Klägers erfolgten Verurteilung zur Versorgung nach dem SVG iVm dem BVG.

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4. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falls und zur Vermeidung von weiteren Verfahrensverzögerungen von dieser Möglichkeit insoweit Gebrauch, als er das angefochtene Urteil des LSG aufhebt, soweit es die auf die Anschlussberufung des Klägers erfolgte Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Versorgung wegen der Gesundheitsstörung "Erkrankung des blutbildenden Systems (Haarzellleukämie)" nach dem SVG iVm dem BVG betrifft. Die Anerkennung der Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung bleibt hiervon unberührt. Insoweit ist das LSG-Urteil mangels entsprechender (erfolgreicher) Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten rechtskräftig.

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5. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.