Entscheidungsdatum: 04.04.2017
Die Fiktion der Klagerücknahme knüpft an den objektivierbaren Umstand der Untätigkeit des Klägers an und setzt weiter voraus, dass für das Gericht objektive Anhaltspunkte dafür bestehen, der Kläger habe das Rechtsschutzinteresse an dem Rechtsstreit verloren.
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 2015 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Rechtsstreit durch Rücknahmefiktion beendet ist.
In dem zugrunde liegenden Verfahren griff der Kläger den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 4.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2008 an. Mit der Entscheidung nahm der Beklagte die Bescheide vom 15.12.2004, 18.3.2005, 11.8.2005, 29.9.2005, 18.1.2006, 20.1.2006, 13.3.2006 und 14.3.2006 betreffend die Leistungsbewilligung vom 1.1.2005 bis 31.8.2006 teilweise zurück und verpflichtete den Kläger, überzahlte Leistungen in Höhe von 3046,53 Euro zu erstatten. Der Kläger habe vom 1.11.2004 bis 31.5.2005 eine geringfügige Tätigkeit im C. GV in E. ausgeübt und hieraus ein Einkommen von "ca. 50 Euro" monatlich in bar bezogen. Dies habe er dem Beklagten nicht mitgeteilt. Seine damalige Ehefrau habe ab 1.1.2005 ebenfalls eine geringfügige Tätigkeit im Restaurant "V." ausgeübt. Auch diese Einkünfte seien dem Beklagten nicht mitgeteilt worden. Die erzielten Einkünfte seien auf die erbrachten Leistungen anzurechnen, die entsprechenden Bewilligungen seien zurückzunehmen und der überzahlte Betrag sei von dem Kläger zu erstatten. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 19.8.2008).
Der Kläger hat beim SG Dortmund Klage erhoben und diese auf knapp einer Seite begründet. Mit Verfügung vom 14.10.2008 hat der zuständige Richter beim SG den Bevollmächtigten des Klägers angeschrieben und angefragt: |
"Gibt es Beanstandungen gegenüber der Berechnung des Überzahlungsbetrages? |
Überprüfen sie bitte den Klageantrag. Ist der Bescheid vom 4.7.2007 gemeint?" |
Mit Verfügung vom 9.11.2008 hat das SG an die Erledigung der Verfügung vom 14.10.2008 erinnert. Der Klägerbevollmächtigte hat daraufhin Akteneinsicht beantragt und hinzugefügt: |
"Nach Erfolg der Akteneinsicht kann … zu den Fragen Stellung genommen werden." |
Am 11.12.2008 hat der Bevollmächtigte den Erhalt der Akten bestätigt und diese mit der Bemerkung zurückgegeben: "Es wird noch Stellung genommen. Die Überzahlbeträge sind in jedem Fall zu hoch."
Der zuständige Richter beim SG hat dem Klägerbevollmächtigten die mit vollem Namen unterschriebene Betreibensaufforderung vom 19.2.2009 am 2.3.2009 gegen EB zugestellt: |
"Es wird aufgefordert, das Verfahren zu betreiben. Insbesondere sind einzureichen die angekündigte Stellungnahme und die Beantwortung des Schreibens vom 14.10.2008. Wenn dieser Aufforderung nicht binnen drei Monaten nachgekommen wird, gilt die Klage gemäß § 102 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz als zurückgenommen." |
Nachdem eine Reaktion des Klägers nicht erfolgt ist, hat das SG unter dem 19.6.2009 die Klage als zurückgenommen (§ 102 Abs 2 SGG) ausgetragen und dies den Beteiligten mitgeteilt. Unter dem 23.6.2009 hat der Kläger erklärt, dies werde auf keinen Fall akzeptiert. Es sei dargelegt worden, warum der angefochtene Bescheid rechtswidrig sei. Das SG hat durch Urteil festgestellt, dass die Klage zurückgenommen ist. Der Kläger habe nach Akteneinsicht angekündigt, eine Stellungnahme abzugeben. Diese sei weder in einem Zeitraum von zwei Monaten noch innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Aufforderung erfolgt. Deshalb dränge sich auf, dass der Kläger kein Interesse mehr an dem Verfahren habe.
Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Betreibensaufforderung sei rechtmäßig. Es bestünden keine Bedenken gegen die Annahme des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Der Kläger habe selbst angekündigt, nach erfolgter Akteneinsicht eine Stellungnahme abgeben zu wollen, insbesondere vorzutragen, aus welchen Gründen der Erstattungsbetrag "auf jeden Fall zu hoch" sei. Damit habe er zu erkennen gegeben, dass er neben der Anfechtung dem Grunde nach auch die Höhe der Forderung streitig stellen wolle. Eine Stellungnahme hierzu habe er nicht abgegeben. Der Kläger sei gehalten gewesen, durch eine Reaktion das Indiz zu widerlegen, dass er am Rechtsstreit nicht mehr interessiert sei.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung von § 102 Abs 2 SGG. Im sozialgerichtlichen Verfahren gelte das Amtsermittlungsprinzip. Die Förderung des Verfahrens sei nicht Aufgabe der Parteien, sondern immer des Gerichts. Das Gericht habe den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Die Beteiligten müssten weder ihnen günstige Tatsachen behaupten noch ungünstige bestreiten. Nach § 123 SGG sei das Gericht nicht einmal an die Fassung der gestellten Anträge gebunden. Deshalb habe das SG nicht auf eine "Stellungnahme" warten dürfen. Vielmehr hätte es den angefochtenen Bescheid hinsichtlich der formellen und materiellen Voraussetzungen prüfen müssen. Die Klage gelte nicht als zurückgenommen, vielmehr sei diese weiterhin anhängig.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 2015 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das SG habe in Kenntnis seiner Pflicht, das Verfahren "im Sinne des Klägers zu fördern", bei diesem angefragt, ob über den bisherigen Vortrag hinaus auch die Berechnung des Überzahlungsbetrags beanstandet werde. Das SG habe dem Kläger damit Gelegenheit gegeben, die offensichtlich unbegründete Klage durch Erweiterung des Streitgegenstands auf die Höhe der Forderung einer sachlichen Prüfung zugänglich zu machen.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG vom 29.7.2015, mit dem dieses die Feststellung der Erledigung des Klageverfahrens durch das SG bestätigt hat. Der Kläger hat mit dem Urteil des LSG keine Sachentscheidung über sein Rechtsschutzbegehren erhalten, vielmehr hat das LSG lediglich das Prozessurteil des SG bestätigt. Falls sich das Urteil des LSG als rechtswidrig erweisen sollte, wäre es in jedem Fall aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, damit dieses eine Sachentscheidung über die vom Kläger geführte Anfechtungsklage treffen kann (vgl BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 12/16 B - veröffentlicht in juris).
2. Die statthafte Revision des Klägers ist zulässig. Sie entspricht den Anforderungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG, denn der Kläger hat die verletzte Norm des Bundesrechts bezeichnet, einen zulässigen Revisionsantrag gestellt und diesen hinreichend begründet.
Der von dem Kläger gestellte Revisionsantrag ist zulässig, obwohl er (nur) auf die Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht zielt. Der Revisionsbegründung ist zu entnehmen, dass er vom Senat die Entscheidung begehrt, dass das Urteil des LSG wegen Verletzung von § 102 Abs 2 SGG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist, damit das LSG eine Sachentscheidung über die vom Kläger geführte Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 4.7.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2008 treffen kann.
Für diesen Antrag fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Zwar kann es zweifelhaft sein, ob ein Revisionskläger für einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis hat, wenn er einen Antrag stellen kann, der auf eine den Rechtsstreit abschließende Entscheidung des Revisionsgerichts gerichtet ist. In einem solchen Fall könnte der Rechtsstreit einfacher und prozessökonomischer zu einem Ende geführt werden (vgl BSG vom 29.9.1994 - 4 RA 52/93 - SozR 3-1500 § 164 Nr 6 RdNr 9 f). Für diese Bedenken ist aber kein Raum, wenn im Wesentlichen ein Verfahrensmangel des Berufungsverfahrens gerügt wird, der nur zur Folge haben kann, dass es zur Aufhebung und Zurückverweisung kommt, weil das Urteil des Berufungsgerichts kein geeigneter Gegenstand einer revisionsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung über ein Anfechtungsbegehren ist. So liegt der Fall hier.
3. Die Revision des Klägers ist in der Sache aber als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG), weil das LSG zutreffend festgestellt hat, dass der Rechtsstreit beim SG als durch Klagerücknahme erledigt gilt.
a) § 102 Abs 2 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.3.2008 (BGBl I 444), der mit Wirkung zum 1.4.2008 in Kraft getreten ist, lautet: "Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen." Die wirksame Fiktion der Klagerücknahme erledigt nach § 102 Abs 1 S 2 SGG den Rechtsstreit in der Hauptsache.
Bei der fiktiven Klagerücknahme handelt es sich um eine gesetzliche Regelung für Fälle, in denen das Rechtsschutzinteresse an einem Verfahren entfallen ist (vgl BT-Drucks 16/7716, S 19 zu Nummer 17; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, Vor § 51 RdNr 16 f). Der Gesetzgeber verfolgt mit dem SGGArbGGÄndG den Zweck, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG wird weiter ausgeführt: "Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Absatzes 2 ist an § 92 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angelehnt, der mit dem 6. VwGOÄndG vom 1.11.1996 (BGBl I 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24.8.2004 (BGBl I 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den Sozialgerichten vorwiegend klagenden bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen … ".
Das BVerfG hat in mehreren Entscheidungen herausgestellt, dass eine prozessrechtlich verankerte Klagerücknahmefiktion, wie sie sich zB in § 92 Abs 2 VwGO und § 81 AsylVfG findet, mit Art 19 Abs 4 GG in Einklang steht. Das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes hindert nicht daran zu verlangen, dass jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzinteresse voraussetzt. Auch könne ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses ausgehen, wenn das Verhalten eines Beteiligten Anlass zu der Annahme biete, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen sei. Eine hierauf gestützte Abweisung seines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses sei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich (BVerfG
Das BVerfG hat aber auch betont, dass prozessrechtliche Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung im Hinblick auf die Rechtsschutzgewährleistung in Art 19 Abs 4 GG zu beachten sei (BVerfG
b) Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung iS des § 102 Abs 2 S 1 SGG sind vorliegend erfüllt. Hierbei geht der Senat von denjenigen Grundsätzen aus, wie sie insbesondere vom 13. Senat des BSG formuliert worden sind (BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - BSGE 106, 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr 1; vgl auch BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 105/16 B - SozR 4-1500 § 156 Nr 1).
Die Klagerücknahmefiktion kann einen Rechtsstreit nur beenden, wenn zuvor dem Kläger vom Gericht eine wirksame Betreibensaufforderung zugegangen ist (§ 102 Abs 2 S 1 SGG). Eine Betreibensaufforderung muss nach der zitierten Rechtsprechung des BSG vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden sein; ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (unter Hinweis auf Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, Kap VII RdNr 170a; Leopold, SGb 2009, 458, 460; Bienert, NZS 2009, 554, 556, jeweils mwN). Die Aufforderung muss konkret und klar sein (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 102 RdNr 8c). Der Adressat der Aufforderung ist in dieser auf die Rechtsfolgen, die gemäß § 102 Abs 2 S 1 SGG eintreten können, hinzuweisen (§ 102 Abs 2 S 3 SGG). Schließlich ist die Betreibensaufforderung dem Kläger oder ggf seinem Bevollmächtigten zuzustellen.
Entsprechend diesen Anforderungen hat der zuständige Kammervorsitzende beim SG die Betreibensaufforderung vom 19.2.2009 mit vollem Namen unterschrieben. Die Aufforderung ist dem Bevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis am 2.3.2009 förmlich zugestellt worden. Die Aufforderung ist inhaltlich konkret und klar. Sie fordert den Kläger auf, die angekündigte Stellungnahme vorzulegen und die Gerichtsverfügung vom 14.10.2008 zu beantworten, die auf Klarstellung des Antrags und die Frage gerichtet gewesen ist, ob auch Einwendungen gegen die Berechnung der Erstattungsforderung erhoben werden. Mit der Aufforderung ist dem Kläger die gesetzliche Drei-Monats-Frist gesetzt worden, um das Verfahren zu betreiben. Er ist auch auf die Rechtsfolgen hingewiesen worden, die eintreten, falls er der Aufforderung, die Klage zu betreiben, nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommt. Eines Hinweises auf eine Kostenfolge bedurfte es nicht, da es sich nicht um ein nach § 197a Abs 1 S 1 SGG kostenpflichtiges Verfahren handelt (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 102 RdNr 8c).
c) Die Betreibensaufforderung hat auch die Fiktion der Klagerücknahme ausgelöst (§ 102 Abs 2 S 1 SGG).
aa) Die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG tritt nach Sinn und Zweck der Vorschrift sowie ihren verfassungsrechtlichen Grenzen nur ein, wenn neben den formellen Voraussetzungen bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, "sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses" vorliegen (BVerfG
Der Senat geht hinsichtlich der an die "sachlichen Anhaltspunkte" für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses zu stellenden Anforderungen davon aus, dass ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses erst nach einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls angenommen werden darf. Bei der Gesamtwürdigung sind sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das Verhalten des Klägers zu berücksichtigen (BVerfG
bb) Aufgrund der Umstände vor Erlass der Betreibensaufforderung, insbesondere dem Verhalten des Klägers, durfte das SG berechtigt annehmen, dass er das Interesse an dem Rechtsstreit verloren hat. Denn das SG hat ihn mit Verfügungen vom 14.10. und 9.11.2008 aufgefordert bzw erinnert, die angekündigte Stellungnahme abzugeben. Die Aufforderung des SG an einen Beteiligten, Mitwirkungshandlungen im sozialgerichtlichen Verfahren vorzunehmen, ist rechtlich möglich und zulässig. Es gehört zu den Aufgaben des Gerichts, den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife zu fördern, dabei unklare Anträge auszuräumen, auf die Stellung sachlicher Anträge hinzuwirken und die wesentlichen Einwendungen des Klägers zu klären (§ 106 Abs 1 und 2 SGG). Bei der Klärung des Gegenstands der Klage und der wesentlichen Einwendungen ist der Kläger - anders als seine Revisionsbegründung nahelegt - nicht von Mitwirkungsobliegenheiten freigestellt (§ 92 Abs 1 S 3, 4 und Abs 2 SGG; Burkiczak, NZS 2011, 326, 327; zu prozessualen Mitwirkungspflichten des Beklagten: BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 18/09 R - BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30, RdNr 26). Prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten können auch erst durch eine gerichtliche Anfrage entstehen, wie sich aus mehreren Regelungen des Prozessrechts ergibt (zB § 92 Abs 2, § 106 oder § 106a SGG). Allerdings genügt für eine Betreibensaufforderung nicht jegliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit, vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die zB für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (vgl BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 74/09 R - juris RdNr 52; BVerfG
Die Aufforderungen des SG waren auf Äußerungen zu entscheidungserheblichen Tatsachen gerichtet. Sie sind vertretbar und nicht zu beanstanden. Es kann dahinstehen, ob - wie der Beklagte vorträgt - dem Kläger mit der Betreibensaufforderung lediglich Gelegenheit gegeben worden ist, eine offensichtlich unbegründete Klage zu substantiieren. Jedenfalls aber betrifft die Aufforderung des SG zur Stellungnahme die Frage, ob und mit welchen Gründen der angefochtene Verwaltungsakt hinsichtlich der Höhe der Erstattungsforderung angegriffen wird. Insbesondere ging es darum, zu klären, ob Einwände gegen die im Wege einer rückwirkenden Aufhebung der Bewilligungsbescheide berücksichtigten Einkünfte des Klägers und seiner damaligen Ehefrau aus nicht gemeldeten Beschäftigungen erhoben werden. Das SG hat damit nicht in unzulässiger Weise die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) auf den Kläger überwälzt, sondern diesem vielmehr Gelegenheit zur Verwirklichung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gegeben (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG).
Bei der Gesamtwürdigung ist auch das Verhalten des Klägers in den Blick zu nehmen. Bei diesem Aspekt der Gesamtwürdigung ist der Terminus des "unkooperativen Verhaltens" allein nicht geeignet, den Wegfall des Rechtsschutzinteresses grundsätzlich verneinen oder bejahen zu können (so auch LSG Nordrhein-Westfalen vom 22.1.2016 - L 19 AS 1863/15 B - juris RdNr 15). Vielmehr kommt es auf die Art und Weise des "unkooperativen Verhaltens" an. Denn § 102 Abs 2 S 1 SGG stellt darauf ab, dass ein Kläger den Rechtsstreit "nicht betreibt". Die Fiktion der Klagerücknahme knüpft mithin an den objektivierbaren Umstand der Untätigkeit an. Dagegen würde ein "unkooperatives Verhalten" lediglich dergestalt, dass ein Beteiligter versucht, weitere Streitgegenstände in das Verfahren einzubeziehen, das Verfahren zu komplizieren oder in die Länge zu ziehen, die Klagerücknahmefiktion nicht auslösen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob schon die schlichte Mitteilung, eine weitere Stellungnahme werde nicht abgegeben, ausgereicht hätte, um das Verfahren zu betreiben. Das BVerfG hat eine solche Reaktion genügen lassen, nachdem ein Kläger im Ausgangsverfahren (schlicht) erklärt hatte, er halte an der Klage fest (BVerfG, Beschluss vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - juris RdNr 36). Auch nach der Gesetzesbegründung könnte es ausreichen, deutlich zu machen, dass der Rechtsstreit weiter betrieben werde, der Kläger sich aber in der Sache nicht weiter äußern wolle oder könne (vgl BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff; "…Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann…").
Dies kann hier dahinstehen, denn auch eine solche Reaktion hat der Kläger nicht gezeigt. Nachdem er die Klage kurz begründet, Akteneinsicht genommen und angekündigt hatte, sich äußern zu wollen, ist er untätig geblieben. Nach der Aufforderung des SG und der eigenen Ankündigung durfte das SG bei fortbestehendem Rechtsschutzinteresse erwarten, der Kläger werde nach Akteneinsicht und Kenntnisnahme von den dortigen Bescheinigungen über Einkünfte von ihm und seiner Ehefrau dazu Stellung nehmen, ob und ggf in welchem Umfang diese unzutreffend sein könnten (vgl zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 105/16 B - SozR 4-1500 § 156 Nr 1). Mit seiner Ankündigung, zur Höhe der Forderung Stellung zu nehmen, hat er auch zu erkennen gegeben, dass er sich gegen die Höhe der Erstattungsforderung wenden will und deren Prüfung im Rechtsstreit für entscheidungserheblich hält. Der anwaltlich vertretene Kläger hat dann aber für die Dauer von mehreren Monaten weder auf die gerichtliche Verfügung reagiert noch klargestellt, dass weiterer Vortrag unterbleiben werde.
Auch die weitere Voraussetzung des § 102 Abs 2 SGG, dass der Kläger nach Zugang der Betreibensaufforderung das Verfahren nicht betrieben hat, ist erfüllt. Das SG hat zutreffend angenommen, dass die Fiktion der Klagerücknahme den Rechtsstreit gemäß § 102 Abs 2 S 2 iVm Abs 1 S 2 SGG erledigt hat.