Entscheidungsdatum: 19.10.2016
Für die Berufungsrücknahmefiktion gelten dieselben Voraussetzungen wie für die Klagerücknahmefiktion.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 10. März 2016 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
I. Umstritten ist die Aufhebung einer Leistungsbewilligung nach dem SGB II für einen Monat. Nachdem zunächst das SG die Rücknahme der Klage durch Urteil vom 14.9.2011 festgestellt hat, hat das LSG - nach Zulassung der Berufung - im Berufungsverfahren mit Beschluss vom 11.9.2015 festgestellt, die Berufung der Klägerin gelte als zurückgenommen. Aufgrund eines Antrags der Klägerin, das Verfahren fortzuführen, weil die Voraussetzungen der Berufungsrücknahmefiktion nicht vorgelegen hätten, hat das LSG mit Beschluss vom 10.3.2016 festgestellt, der Rechtsstreit sei durch Zurücknahme der Berufung erledigt. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, in der sie als Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG rügt, die Voraussetzungen für die Fiktion einer Berufungsrücknahme lägen nicht vor und es sei zu Unrecht kein Sachurteil ergangen.
II. Die gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des LSG gerichtete Beschwerde der Klägerin ist zurückzuweisen, weil sie unbegründet ist.
Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründen - grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Abweichung (Divergenz), Verfahrensmangel - zugelassen werden. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Vorliegend stützt die Klägerin ihre Nichtzulassungsbeschwerde allein auf den Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Der von ihr gerügte Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" (vgl nur seit BSGE 1, 283; BSGE 2, 245, 252 ff; BSGE 15, 169, 172; BSG SozR 1500 § 160a Nr 55), weil das LSG in dem angefochtenen Beschluss vom 10.3.2016 die zuvor in dem Beschluss vom 11.9.2015 getroffene Feststellung, die Berufung gelte als zurückgenommen, bestätigt hat, liegt nicht vor.
Die Berufungsrücknahmefiktion ist durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22.12.2011 (BGBl I 3057) mit Wirkung ab 1.1.2012 als § 156 Abs 2 SGG eingeführt worden (vgl zur vorherigen Einführung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG und deren Nichtübertragbarkeit auf das Berufungsverfahren: BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - BSGE 106, 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr 1). Nach § 156 Abs 2 SGG gilt die Berufung "als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergeben. Das Gericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung als zurückgenommen gilt."
Hintergrund für die Berufungsrücknahmefiktion ist ebenso wie für die Klagerücknahmefiktion die Annahme, das Rechtsschutzbedürfnis des Berufungsklägers sei, wie sich aus seinem Verhalten ergebe, weggefallen (vgl BSG vom 1.7.2010, aaO, RdNr 38 ff mwN auch zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben). Zur Wahrung der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG haben § 102 Abs 2 und § 156 Abs 2 SGG Ausnahmecharakter und stellen zu deren Sicherung verfahrensrechtliche Anforderungen (vgl BSG vom 1.7.2010, aaO, RdNr 42 f mwN). Die Aufforderung zum Betreiben (sog "Betreibensaufforderung") muss, um die aufgezeigten Rechtsfolgen nach sich zu ziehen, nicht nur eine entsprechende Fristsetzung enthalten, sondern vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet sein; die an den betroffenen Verfahrensbeteiligten zuzustellende Ausfertigung oder beglaubige Abschrift (§ 63 Abs 1 SGG) der Betreibensaufforderung muss durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters erkennen lassen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (vgl BSG vom 1.7.2010, aaO, RdNr 48 f).
Diesen Voraussetzungen wird der angefochtene Beschluss des LSG vom 10.3.2016 und das ihm vorausgegangene Verfahren gerecht. Die Betreibensaufforderung des LSG vom 2.6.2015 ist von dem Senatsvorsitzenden mit vollem Namen unterschrieben worden. Die beglaubigte Abschrift der Verfügung enthielt den Namen des Richters und ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Empfangsbekenntnis spätestens am 9.6.2015 zugestellt worden. Der Beschluss, der die Rücknahme der Berufung feststellt, datiert vom Freitag, den 11.9.2015.
Dass die Klägerin zwischenzeitlich das Verfahren in irgendeiner Form betrieben hat, ist der vorliegenden Akte des LSG nicht zu entnehmen, die Klägerin hat derartiges in ihrer Beschwerdebegründung auch nicht behauptet. Welche Mitwirkungshandlung von der Klägerin erwartet wurde, war der Betreibensaufforderung - nach den Angaben in der Beschwerdebegründung "natürlich" - zu entnehmen. Denn die Betreibensaufforderung bezog sich ausdrücklich auf die Aufklärungs- und Hinweisverfügung des LSG vom 27.3.2015, die mit der Frage endete, ob der Klägerin im strittigen Monat März 2010 Entgelt aus ihrer Beschäftigung ab 1.3.2010 zugeflossen sei. Im Übrigen war die Klägerin zuvor mit Verfügung vom 11.5.2015 an die Beantwortung dieser Aufklärungs- und Hinweisverfügung erinnert worden.
Entgegen der Beschwerdebegründung steht die Aufklärungs- und Hinweisverfügung der Annahme eines Wegfalls des Rechtsschutzinteresses wegen mangelnden Betreibens der Sache im Berufungsverfahren nicht entgegen. Denn auch wenn das LSG, nachdem das SG zuvor festgestellt hat, die Klage sei durch Klagerücknahmefiktion erledigt (Urteil vom 14.9.2011), ausweislich der genannten Verfügung in eine Sachprüfung eintreten wollte, weil es Bedenken gegen die vom SG festgestellte Klagerücknahmefiktion hatte, schließt dies eine Berufungsrücknahmefiktion nicht aus. Denn diese beruht - wie dargestellt - auf der Annahme, aus dem Verhalten - oder besser dem "Nicht-Verhalten" oder dem Untätigbleiben - des Berufungsklägers sei der Wegfall seines Rechtsschutzbedürfnisses abzuleiten. Diese Voraussetzung kann unabhängig vom Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens auch im Berufungsverfahren erfüllt sein, weil dem einschlägigen § 156 Abs 2 SGG eine dahingehende spezifische Einschränkung nicht zu entnehmen ist.
Im Übrigen kann, wenn das LSG eine längere Aufklärungs- und Hinweisverfügung an einen Beteiligten gesandt hat, die mit einer bestimmten Frage endete, dies bei dem betreffenden Beteiligten rein praktisch zum Wegfall seines (Rechtschutz-)Interesses an dem Verfahren führen, weil er aus der ihm bekannten Antwort auf die Frage seine Erfolgschancen abschätzen kann. Bei einem Streit um Leistungen nach dem SGB II für März 2010, wie vorliegend, ist die Antwort auf die Frage nach dem Zufluss von Entgelt in diesem Monat möglicherweise streitentscheidend.
Weitere Rügen hat die Klägerin nicht erhoben und eine Prüfung anderer Verfahrensmängel von Amts wegen, zB die Entscheidung des Gerichts durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG nach dem Antrag der Klägerin auf Fortführung des Verfahrens, ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen, wie sich aus dem Wortlaut des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG und den systematischen Zusammenhängen mit dem Revisionsverfahren (vgl dort zB § 170 Abs 1 Satz 2 SGG) ergibt (vgl schon BVerwG vom 14.1.1966 - V B 148.65 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 50; Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 160a RdNr 7; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160a RdNr 16, 19).