Entscheidungsdatum: 31.08.2017
1. Vor Erlass des Urteils muss das Ergebnis einer Inaugenscheinnahme, auch wenn Gegenstand die äußere Erscheinung eines Beteiligten ist, den Prozessbeteiligten mitgeteilt werden, um dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs zu genügen.
2. Eine nicht in der Sitzungsniederschrift erwähnte Inaugenscheinnahme gilt als nicht durchgeführt.
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Februar 2017 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Streitig ist die Wiedergewährung einer Rente aufgrund eines 1974 erlittenen Arbeitsunfalls, den die Beklagte mit der Unfallfolge "Linsenlosigkeit nach perforierender Verletzung des rechten Auges" anerkannt und bis 1985 entschädigt hat. 1985 wurde die Rente nach einer MdE in Höhe von 20 vH unter Auszahlung von 102 468,20 DM gemäß § 604 RVO abgefunden.
Die Beklagte lehnte den am 5.6.2011 nach § 44 SGB X sowie nach § 48 SGB X gestellten Überprüfungs- bzw Verschlimmerungsantrag des Klägers nach Einholung eines augenärztlichen Sachverständigengutachtens durch zwei Bescheide vom 16.8.2012 ab. Das Widerspruchsverfahren war erfolglos. Das SG wies die Klage nach Einholung eines weiteren augenärztlichen Sachverständigengutachtens mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei.
Der Kläger hat Berufung beim LSG Nordrhein-Westfalen eingelegt, mit der er die Zahlung einer Rente wegen Eintritts einer wesentlichen Verschlimmerung begehrte. Das LSG hat am 7.2.2017 in Anwesenheit des Klägers und dessen Prozessbevollmächtigten eine mündliche Verhandlung durchgeführt und auf diese mündliche Verhandlung hin die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen einer entschädigungspflichtigen Verschlimmerung seien nicht gegeben, weil keine wesentliche Änderung iS des § 73 Abs 3 SGB VII vorliege. Die aus den Sachverständigengutachten ableitbaren Beeinträchtigungen der Sehschärfe des Klägers ergäben lediglich einen Unfallfolgezustand, der mit einer MdE iHv 25 vH zu bewerten sei. Für eine relevante Entstellung des Gesichts durch die Augenverletzung bzw das Innenschielen gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Hiervon habe sich der Senat selbst im Rahmen der mündlichen Verhandlung, bei der der Kläger anwesend gewesen sei, überzeugen können.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass er in der mündlichen Verhandlung zwar anwesend gewesen sei, jedoch eine Brille getragen habe. Er sei oftmals durch seinen Prozessbevollmächtigten - von der Richterbank aus gesehen - verdeckt gewesen. Die vom LSG getroffene Feststellung einer fehlenden entstellenden Wirkung habe man vom Richtertisch aus überhaupt nicht beurteilen können. Seine Augenpartie sehe für Dritte auffällig entstellt aus und löse betroffene Blicke im zwischenmenschlichen Kontakt aus. Das LSG habe damit eine heimliche Bewertung des Grades der Entstellung aus der Ferne durchgeführt und so eine Überraschungsentscheidung zu seinen Lasten gefällt. Wenn ihn alle Richter aus der Nähe angesehen hätten, wäre ihre Bewertung anders ausgefallen. Ferner sei zu berücksichtigen, dass laut Protokoll keine förmliche Augenscheinseinnahme des Entstellungsgrades, also überhaupt keine Beweisaufnahme stattgefunden habe. Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, 8. Aufl 2010, S 292, 293 betrage die MdE in der Unfallversicherung bei einseitiger Erblindung 25 Prozent, jedoch 30 Prozent, wenn sowohl relevante Komplikationen als auch Erschwernisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorlägen, wie zB eine Gesichtsentstellung.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
Der Entscheidung des LSG liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zugrunde, weil das LSG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör gemäß § 62 Halbs 1 SGG iVm Art 103 GG verletzt hat, indem es das Gesicht des Klägers in Augenschein genommen hat, ohne dies und das Ergebnis der Augenscheinseinnahme dem Kläger vor seiner Entscheidung mitzuteilen.
Gemäß § 62 Halbs 1 SGG, der einfachrechtlich das durch Art 103 Abs 1 GG garantierte prozessuale Grundrecht wiederholt, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren; dies gilt insbesondere für eine die Instanz abschließende Entscheidung, wie das am 7.2.2017 nach mündlicher Verhandlung verkündete Urteil. Demgemäß darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Darüber hinaus verlangt § 107 SGG, dass den Beteiligten der Inhalt einer Beweisaufnahme mitzuteilen ist. Letzteres ist zwar grundsätzlich nicht erforderlich, wenn der Beteiligte bei der Beweisaufnahme anwesend war (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 107 RdNr 9), jedoch kann dies nur dann gelten, wenn dem Beteiligten die Durchführung der Beweisaufnahme bewusst war. Die Mitteilung des Ergebnisses muss jedenfalls vor der Entscheidung erfolgen, damit die Beteiligten ausreichend Zeit für eine Stellungnahme haben (BSG vom 19.3.1991 - 2 RU 28/90 - SozR 3-1500 § 62 Nr 5; s auch BSG vom 23.10.2003 - B 4 RA 37/03 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 7; vgl Müller in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 107 RdNr 11 f). Ansonsten liegt ein Überraschungsurteil vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zum Gegenstand der Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war (vgl BVerwG vom 25.5.2001 - 4 B 81.00 - Buchholz 310 § 108 Abs 2 VwGO Nr 34). Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat Vorrang vor der in § 106 Abs 2 SGG verankerten Beschleunigungspflicht, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (so BSG SozR Nr 13 zu § 106 SGG; BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5 S 9; BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 14 S 28; BSG vom 11.12.2002 - B 6 KA 8/02 R - SGb 2003, 152).
Das LSG hat den Eindruck, den es vom äußeren Erscheinungsbild des Klägers und damit faktisch aufgrund einer Augenscheinseinnahme, nämlich einer sinnlichen Wahrnehmung, deren Gegenstand nicht der Inhalt einer gedanklichen Erklärung ist (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, aaO, § 118 RdNr 9; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 75. Aufl 2017, Übers § 371 RdNr 4) gewonnen hat, seiner Entscheidung zugrunde gelegt, ohne diesen mit dem Kläger zu erörtern oder auch nur zur Kenntnis mit der Möglichkeit der Stellungnahme zu geben. Letzteres ergibt sich aus der negativen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (§ 122 SGG iVm § 165 S 1 ZPO), die eine entsprechende Anhörung des Klägers als vorgeschriebene Förmlichkeit eines wesentlichen Vorgangs der Verhandlung (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 2 ZPO) nicht aufführt (BSG vom 8.2.2012 - B 5 RS 76/11 B - Juris RdNr 5; vgl auch BSG vom 23.7.2015 - B 5 R 196/15 B - Juris RdNr 14). Damit musste den Kläger die Verwertung seines äußeren Erscheinungsbildes für die Entscheidung überraschen, weil mit der Durchführung einer Augenscheinseinnahme nach dem Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war und deren Durchführung ihm gegenüber nicht offengelegt wurde.
Dahinstehen kann, ob zugleich ein Verstoß gegen § 116 S 1 SGG vorliegt. Diese Norm sowie der damit verbundene Grundsatz der Parteiöffentlichkeit beinhalten, dass die Durchführung einer Beweisaufnahme selbst bei physischer Präsenz eines Beteiligten nicht im Verborgenen "hinter seinem Rücken" erfolgen darf, sondern dieser über die der Beweisaufnahme dienenden Handlungen des Gerichts unterrichtet werden muss (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, aaO, § 118 RdNr 3 und 9), damit er adäquat auf Ergebnisse der Beweisaufnahme und Erkenntnisse, die das Gericht aus der Beweisaufnahme gewinnt, reagieren kann.
Keiner Entscheidung bedurfte es schließlich, ob über den Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs hinaus eine Verletzung des aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip bzw Art 6 EMRK folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren (vgl EGMR vom 27.10.1993 - 37/1992/382/460 - NJW 1995, 1413 - Dombo Beheer; BSG Beschlüsse vom 12.12.2014 - B 10 ÜG 15/14 B - Juris RdNr 8 und vom 17.4.2013 - B 9 V 36/12 B - SozR 4-1500 § 118 Nr 3 RdNr 16) vorliegt, sowie, ob die den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG) tangierende Erhebung von Eindrücken des äußeren Erscheinungsbildes ohne Wissen des Betroffenen einer über § 372 ZPO iVm § 118 SGG hinausgehenden besonderen gesetzlichen Grundlage bedurft hätte (vgl LSG Nordrhein-Westfalen vom 8.6.2011 - L 12 AS 201/11 B ER - Juris; Bayerisches LSG vom 25.1.2008 - L 7 AS 72/07 - Juris RdNr 43; vgl auch Mushoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 103 RdNr 60; Bieresborn, SGb 2010, 501, 503, 507; Hammel, ZfSH/SGB 2011, 577, 582).
Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.