Entscheidungsdatum: 08.02.2012
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 23. August 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Mit Gerichtsbescheid vom 12.4.2011, der dem Kläger am 18.4.2011 zugestellt worden ist, hat das SG Chemnitz die Feststellung der Zeiten vom 1.10.1966 bis 16.1.1972 und vom 1.7.1986 bis 16.4.1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) einschließlich der dabei erzielten Arbeitsentgelte verneint. Der Berufungsschriftsatz des Klägers vom 17.5.2011 trägt den Posteingangsstempel des Sächsischen LSG von Donnerstag, den "19. Mai 2011", sowie den Zusatz "Nachtbriefkasten". Das LSG wies den Kläger darauf hin, dass die Berufung nach Lage der Akten verfristet sei, und übermittelte ihm eine Auskunft der Poststelle zur Funktionsweise des Nachtbriefkastens. Der Klägerbevollmächtigte versicherte anwaltlich, er habe den kuvertierten Berufungsschriftsatz am 18.5.2011 zwischen 18.30 Uhr und 18.45 Uhr persönlich in den Nachtbriefkasten des LSG eingelegt, hilfsweise werde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Mit Urteil vom 23.8.2011 hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen. Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers sei - ebenso wie seine anwaltliche, gegebenenfalls eidesstattliche Versicherung - nicht geeignet, "die Richtigkeit des Posteingangsstempels" zu widerlegen und den Nachweis eines fristgerechten Berufungseingangs zu erbringen. Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten; Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestünden nicht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
Der Kläger hat ordnungsgemäß dargetan, dass das LSG gegen §§ 62, 128 Abs 2 SGG verstoßen habe und das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).
Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Der Eingangsstempel auf der bei Gericht eingegangenen Berufungsschrift des Klägers ist eine öffentliche Urkunde iS von § 418 Abs 1 ZPO und erbringt damit grundsätzlich den vollen Beweis für den Zeitpunkt der Ausstellung (BSG SozR 4100 § 59e Nr 1). Auch die rechtzeitige Vornahme einer Prozesshandlung - hier die fristgerechte Einlegung der Berufung - wird im Regelfall durch den Eingangsstempel des angegangenen Gerichts auf dem Berufungsschriftsatz bewiesen (BSG Beschluss vom 9.3.2011 - B 4 AS 60/10 BH - Juris RdNr 5). Das LSG ist davon ausgegangen, dass der durch den Eingangsstempel bezeugte Tag vorliegend dem Tag des Eingangs, dh des Zugangs in den Zugriffsbereich des Berufungsgerichts entspricht. Doch ist vorbehaltlich abweichenden Landesrechts gemäß § 418 Abs 2 ZPO grundsätzlich der Gegenbeweis zulässig. Hinsichtlich dieses Gegenbeweises hat das LSG gegen § 128 Abs 2 SGG verstoßen. Bei den negativen Feststellungen des LSG, zum "streitgegenständlichen Zeitpunkt" seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten und es hätten auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden, kann es sich jeweils nur um die schlussfolgernde Erkenntnis des Wahrheitsgehalts dieser Aussagen im Sinne des Beweises handeln. Ihnen müssen daher denknotwendig vom Berufungsgericht bereits als feststehend und rechtlich relevant erkannte Einzelumstände (Tatsachen) und/oder Beweismittel und Beweisergebnisse vorangehen, die nach der Auffassung des Tatsachengerichts derartige Schlussfolgerungen mit der notwendigen Verlässlichkeit erlauben. Umstände dieser Art hat das LSG dem Kläger indessen weder vor dem noch im Termin zur mündlichen Verhandlung mitgeteilt; auch ergibt sich nicht umgekehrt, dass er hiervon auf sonstige Weise Kenntnis erlangt und Stellung genommen bzw die an sich eröffnete Gelegenheit zur Stellungnahme nur ungenutzt gelassen hat. Er hatte damit vor Abschluss des Verfahrens in der Tatsacheninstanz keine Gelegenheit zur Stellungnahme, obwohl § 62 SGG gebietet, den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren und das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG).
Um den Verfahrensmangel darzulegen, durfte sich die Beschwerdebegründung zunächst auf die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (§ 122 SGG iVm § 165 S 1 ZPO) berufen. Diese erbringt vorbehaltlich der Fälle des § 165 S 2 ZPO grundsätzlich abschließend ("nur") Beweis über die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, beweist also bei Fehlen einer Feststellung im Protokoll auch negativ, dass eine Förmlichkeit nicht beachtet wurde (Stöber in Zöller, ZPO, 29. Aufl 2012, § 165 RdNr 3). Zu den Förmlichkeiten in diesem Sinne gehören ua die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung iS von § 160 Abs 2 ZPO, dh der Verfahrensablauf, soweit er für die Entscheidung und die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens durch das Rechtsmittelgericht erforderlich ist (Stöber aaO § 160 RdNr 3). Im Rahmen der entsprechenden Anwendung von § 160 Abs 2 ZPO in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit gehört hierzu ua § 128 Abs 2 SGG. Die Vorschrift gebietet, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Ein Hinweis darauf, dass der Kläger zu den Tatsachen und Beweisergebnissen hätte Stellung nehmen können, die den genannten Feststellungen des LSG zugrunde liegen, findet sich im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23.8.2011 nicht. Nicht anders als bei Verletzungen der Pflicht der Zivilgerichte, das Beweisergebnis mit den Parteien "zu erörtern" (§ 279 Abs 3 ZPO) steht damit hinsichtlich der mündlichen Verhandlung der Verstoß gegen § 128 Abs 2 SGG und damit zugleich gegen das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör bereits allein aufgrund der fehlenden Erwähnung im Protokoll exklusiv und abschließend fest (vgl BGH Beschluss vom 20.12.2005 - VI ZR 307/04 - BGHReport 2006, 529).
Der in der Sitzungsniederschrift enthaltene Satz "Das Sach- und Streitverhältnis wird mit ihnen (den Beteiligten) erörtert", ist demgegenüber für sich allein keinesfalls geeignet, verlässlichen Nachweis für eine ausreichende Unterrichtung der Beteiligten über die entscheidungserheblichen Tatsachen und Erkenntnisquellen zu liefern. Als bloß formelhafte Wiederholung des Gesetzeswortlauts lässt er weder Inhalt noch Umfang der Erörterung erkennen, sondern gibt Raum für Spekulationen. Infolge dieser Unschärfe kann er keinesfalls Grundlage für die Entscheidung sein, ob das Gericht seine konkreten Mitteilungs- und Erörterungspflichten erfüllt, dh den Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Einzelfall be- oder missachtet hat (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 4 S 5 f).
Hinsichtlich des Gangs der mündlichen Verhandlung kommt es unter diesen Umständen auch von vornherein weder auf die nachrangige und allein positive Beweiskraft des Protokolls als öffentlicher Urkunde iS von § 418 ZPO (vgl BGH Urteil vom 8.12.1993 - XII ZR 133/92 - FamRZ 1994, 300 ff) noch auf die ebenfalls nachrangige und nur positiv auf das mündliche Parteivorbringen beschränkte Beweiskraft des Urteilstatbestandes (§ 314 S 1 ZPO) an. Beide haben neben der exklusiven negativen Beweiswirkung des § 165 S 1 ZPO keine eigenständige Bedeutung.
Schließlich ergibt sich hinsichtlich des Verfahrensgangs im Übrigen aus den Akten des Berufungsgerichts kein positiver Hinweis darauf, dass der Kläger außerhalb der mündlichen Verhandlung auf Tatsachen und Beweisergebnisse hingewiesen worden wäre, denen das Berufungsgericht entnehmen will, zum "streitgegenständlichen Zeitpunkt" seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten und es hätten auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden. Insofern hätte sich bei Beachtung des sozialgerichtlichen Verfahrensrechts ein Hinweis darauf finden müssen, dass dem Kläger gemäß § 107 SGG nach Anordnung des Vorsitzenden entweder eine Abschrift der Niederschrift einer durchgeführten Beweisaufnahme oder deren Inhalt und bei Anordnungen nach § 106 SGG jedenfalls eine Unterrichtung von der durchgeführten Maßnahme und ihrer Bedeutung für eine Entscheidung des Rechtsstreits mitgeteilt wurde (vgl BSG Beschluss vom 19.1.2005 - B 11a/11 AL 215/04 B -, Juris RdNr 9 f). Ebenso wenig lässt der Akteninhalt auch nur andeutungsweise erkennen, dass dem Kläger entsprechende Umstände auf sonstige Weise bekannt gewesen sein könnten und er hierzu schriftlich Stellung genommen haben oder trotz Kenntnis der rechtlichen Relevanz dieser Umstände von einer Stellungnahme Abstand genommen haben könnte. Da auch die Beweiskraft in der Gerichtsakte des Berufungsgerichts enthaltener öffentlicher und privater Urkunden stets nur auf einen positiven Inhalt beschränkt wäre (§§ 415 ff ZPO), steht damit die Verletzung von § 128 Abs 2 SGG zwar hinsichtlich des Verfahrensgangs außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht auch abschließend negativ fest, doch gilt auch bei der Feststellung der Sachurteilsvoraussetzungen, dass § 103 S 1 Halbs 1 SGG keine Ermittlungen "ins Blaue hinein" gebietet. Gibt daher auch der Akteninhalt keinen Anlass, der Frage weiter nachzugehen, ob sich der Kläger zu den Grundlagen der in Frage stehenden Beweisfeststellungen des LSG äußern konnte, darf das Revisionsgericht seine abschließende Überzeugung, dass dies entsprechend dem Beschwerdevorbringen nicht der Fall war, auch ohne Durchführung aller nur denkbaren Maßnahmen der Sachaufklärung bilden. Dies gilt vorliegend umso mehr, als auch der Prozessgegner des Klägers dessen Vorbringen im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nur mit einer nicht näher substantiierten Verneinung der gesetzlichen Revisionszulassungsgründe entgegentritt.
Auf dem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn der Kläger zuvor Gelegenheit gehabt hätte, sich zu denjenigen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, denen das LSG entnehmen will, dass am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten seien und auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden hätten. Er hätte dann ihm während des Verfahrens bekannt gewordene Umstände möglicherweise qualifiziert bestreiten und damit erreichen können, dass das LSG - nach einer etwaigen weiteren Beweiserhebung - zu einer abweichenden Entscheidung gekommen wäre (BSG vom 19.1.2005 aaO RdNr 11). Mögliche Konkretisierungsdefizite bei der Darlegung dieses Vorbringens im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde können dem Kläger, dem das rechtliche Gehör durch das Verschweigen entscheidungsrelevanter Umstände verweigert wurde und der die für die Beweiserkenntnis des LSG maßgeblichen Umstände auch nicht wenigstens nachträglich dem angefochtenen Urteil oder den Prozessakten entnehmen konnte, nicht entgegengehalten werden. Eine Verpflichtung "ins Blaue hinein" vorzutragen, obwohl das Berufungsgericht Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht mitgeteilt hat, stünde Art 19 Abs 4 GG entgegen. Der Kläger hat darüber hinaus auch Umstände dargelegt, die es als möglich erscheinen lassen, dass der gemäß § 418 Abs 2 ZPO erforderliche Beweis der Unrichtigkeit des gerichtlichen Eingangsstempels als öffentliche Urkunde aufgrund am Schluss der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisanträge zu seinen Gunsten als geführt angesehen werden könnte. Er hätte dann zumindest die Zeugenvernehmungen seines Prozessbevollmächtigten, der Rechtsanwaltsfachangestellten R. und der Auszubildenden G. zum Zeitpunkt von Kuvertierung und Einwurf des Berufungsschriftsatzes, die Zeugenvernehmung des zuständigen Poststellenmitarbeiters zur Nachtbriefkastenleerung und Postbearbeitung sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Funktionsweise des Nachtbriefkastens beantragen können, um der Tatsacheninstanz unmittelbar vor deren Entscheidung zu signalisieren, dass er die bisherige Sachaufklärung für defizitär hält ("Warnfunktion") und wie diesem Mangel konkret abgeholfen werden kann ("Hinweisfunktion").
Darauf, ob sich aus den Darlegungen des Klägers weitere Verfahrensfehler - so etwa eine weitere Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Zurückweisung seines Vorbringens zu den Umständen der Berufungseinlegung ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung oder das teilweise Fehlen von Urteilsgründen - ergeben, bedarf unter diesen Umständen keiner näheren Erörterung.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Damit entfällt gleichzeitig auch die Ablehnungsentscheidung des LSG über den hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrag. Denn über ihn ist erst und nur dann zu entscheiden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass der Kläger die Berufungsfrist gewahrt hat (vgl dazu BGH Beschluss vom 27.5.2003 - VI ZB 77/02 - NJW 2003, 2460). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, weil ungeklärt ist, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufungsschrift noch fristgerecht am 18.5.2011 in den Nachtbriefkasten des LSG eingeworfen hat.
Das LSG wird schließlich auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.