Entscheidungsdatum: 17.12.2018
In der Patentnichtigkeitssache
…
…
betreffend das europäische Patent 2 028 493
(DE 599 15 190)
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 7. August 2018 durch den Vorsitzenden Richter Engels, den Richter Dipl.-Chem. Dr. Egerer, die Richterin Dorn sowie die Richter Dipl.-Chem. Dr. Wismeth und Dipl.-Chem. Dr. Freudenreich
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent EP 2 028 493 wird für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt, soweit es über folgende Fassung hinausgeht:
„1. Verfahren zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen, wobei Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten detektiert wird, und wobei als Kalibrator Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 verwendet wird.
2. Verfahren nach Anspruch 1, wobei die Probe aus dem Blut eine Serumprobe ist.
3. Verfahren nach Anspruch 1, wobei die Probe aus dem Blut eine Plasmaprobe ist.“
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
IV. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte ist Inhaberin des aus der internationalen Anmeldung, Anmeldetag 13. Oktober 1999, mit der Veröffentlichungsnummer WO 00/22439 A2 hervorgegangenen und auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents EP 2 028 493 B1 (NiK1), deutsches Aktenzeichen DE 599 15 190 (Streitpatent), mit der Bezeichnung „Procalcitonin 3-116“, für das die Priorität DE 198 47 690 vom 15. Oktober 1998 in Anspruch genommen ist und das auf der dritten Teilanmeldung der ursprünglichen Stammanmeldung EP 1 121 600 A2 beruht, welche wiederum auf die internationale Anmeldung WO 00/22439 A2 (NiK3) als Stammanmeldung zurückgeht. Das Streitpatent umfasst in der erteilten Fassung drei Patentansprüche, die sämtlich von den Klägerinnen angegriffen werden und wie folgt lauten:
1. Verfahren zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen, wobei Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten detektiert wird.
2. Verfahren nach Anspruch 1, wobei die Probe aus dem Blut eine Serumprobe ist.
3. Verfahren nach Anspruch 1, wobei die Probe aus dem Blut eine Plasmaprobe ist.
Mit Beschluss des vormals zuständigen 3. Senats vom 16. Oktober 2016 wurde die Nichtigkeitsklage der Klägerin zu 3 (Aktenzeichen 3 Ni 56/16 (EP)) mit der Nichtigkeitsklage der Klägerinnen zu 1 und 2 unter dem führenden Aktenzeichen 3 Ni 47/16 (EP) zur gleichzeitigen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Nach Übernahme der Verfahren durch den 4. Senat tragen diese nunmehr die Aktenzeichen 4 Ni 16/17 (EP) hinzuverb. 4 Ni 22/17 (EP).
Mit ihren Nichtigkeitsklagen machen die Klägerinnen zu 1 bis 3 jeweils geltend, dass das Streitpatent wegen unzulässiger Änderung des Inhalts der Stammanmeldung (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. c EPÜ) sowie wegen mangelnder Patentfähigkeit unter Hinweis auf fehlende Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a, 52, 54, 56 EPÜ) für nichtig zu erklären sei. Die Klägerin zu 3 beruft sich ferner auf eine fehlende Ausführbarkeit des Gegenstands des Streitpatents (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. b EPÜ).
Die Klägerinnen beziehen sich u. a. auf folgende Druckschriften und Unterlagen, die der Senat wie folgt ordnet:
NiK1 EP 2 028 493 B1 (Streitpatent)
NiK2 EP 2 028 493 A1 (Anmeldung des Streitpatents)
NiK3 WO 00/22439 A1 (Stammanmeldung des Streitpatents)
NiK4 DE 198 47 690 A1 (Prioritätsanmeldung des Streitpatents)
NiK5 DE 42 27 454 C1
NiK6 WO 94/04927 A1 (Familienmitglied von NiK5)
NiK7 Prüfungsbescheid des EPA vom 2. Januar 2006 betreffend eine andere Teilanmeldung (EP 1 408 334 A1)
NiK8 eidesstattliche Versicherung von Dr. K… vom 3. August 2016
NiK9 US 6 756 483 B1 (US-Patent aus NiK3)
NiK10 J. Struck et al.: „Method for the Selective Measurement of Amino-Terminal Variants of Procalcitonin“, Clin. Chem. 55 (2009) 1672–1679
NiK11 P.P. Ghillani et al.: „Identification and Measurement of Calcitonin Precursors in Serum of Patients with Malignant Diseases“, Cancer Research 49 (1989) 6845–6851
NiK12 Artikel „Procalcitonin soll Sepsis-Letalität senken“ zum LUMItest® PCT in Pharmazeutische Zeitung online, 1997
NiK13 W. Karzai et al.: „Procalcitonin – A New Indicator of the Systemic Response to Severe Infections“, Infection 25 (1997) 329–334
NiK14 M. Oberhoffer et al.: „Procalcitonin – Ein neuer diagnostischer Parameter bei schweren Infektionen und Sepsis“, Der Anaesthesist 47 (1998) 581–587
NiK15 Schema zur PCT-Bestimmung mit einem PCT-Assay
NiK16 Beschluss des Landgerichts München I vom 7. Juli 2016 im einstweiligen Verfügungsverfahren Az. 2 O 9715/16
NiK17 Replik der hiesigen Beklagten vom 10. Februar 2017 im Verletzungsverfahren Az. 21 O 16031/16
NiK17a Duplik der hiesigen Klägerin zu 3 vom 14. März 2017 im Verletzungsverfahren Az. 21 O 16031/16
NiK17b Aussetzungsbeschluss des Landgerichts München I vom 5. April 2017 im Verletzungsverfahren Az. 21 O 16031/16
NiK18 G. Küllertz: „Die Bedeutung der Aktivitätsbestimmung des Enzyms Dipeptidyl-Peptidase IV (DP IV) im klinischen Laboratorium“, LaboratoriumsMedizin / Journal of Laboratory Medicine 12 (1988) 123–130
NiK19 M. D. Smith et al.: „Elevated Serum Procalcitonin Levels in Patients with Melioidosis“, Clinical Infectious Diseases 20 (1995) 641–645
NiK20 S. Petitjean et al.: „Étude de l´immunoréactivité calcitonin-like au cours des processus infectieux“, Immuno-analyse & Biologie Spécialisée 9 (1994) 302–307
NiK20a deutschsprachige Übersetzung der NiK20
NiK21 Replik der hiesigen Beklagten vom 13. Januar 2017 im Verletzungsverfahren Az. 21 O 17508/16
NiK21a Schriftsatz der hiesigen Beklagten vom 28. März 2017 im Verletzungsverfahren Az. 21 O 17508/16
NiK21b Aussetzungsbeschluss des Landgerichts München I vom 5. April 2017 im Verletzungsverfahren Az. 21 O 17508/16
NiK22 A. D. Smith et al. [Hg.]: Oxford Dictionary of Biochemistry and Molecular Biology, Oxford University Press, 1997, S. 615.
Hinsichtlich der unzulässigen Änderung des Inhalts der Anmeldung haben die Klägerinnen geltend gemacht, dass der Gegenstand des auf einer Teilanmeldung basierenden Streitpatents über den Inhalt der Stammanmeldung (NiK3) in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Denn die ursprünglichen Patentansprüche und die erfindungsgemäße Lehre seien nicht auf ein Verfahren zur Diagnose von Sepsis oder sepsisähnlichen systemischen Infektionen durch Detektion von Procalcitonin 3-116 gerichtet gewesen, sondern offenbarten nur zwei sonstige diagnostische wie auch zwei therapeutische Aspekte, für welche die Identifizierung und Erkenntnis von Procalcitonin 3-116 Ausgangspunkt sei. Auch Patentanspruch 10 der Stammanmeldung stelle insoweit keine hinreichende Offenbarung dar, da dieser zum einen in der Teilanmeldung des Streitpatents nicht enthalten und zum anderen auf die spezifische Detektion von Procalcitonin 3-116 beschränkt sei. Abgesehen davon setze Patentanspruch 10 der Stammanmeldung voraus, dass Procalcitonin 3-116 „gemessen“, d. h. bewusst bestimmt werde, während Patentanspruch 1 des Streitpatents dies nicht erfordere. Bei Letzterem könne mangels einer entsprechenden technischen Anweisung, nach der in irgendeinem Verfahrensschritt Procalcitonin 3-116 positiv nachgewiesen werde, daher nicht von einem erkenntnisbegleiteten Detektieren ausgegangen werden. Außerdem sei in den ursprünglichen Unterlagen eine Bestimmung des Procalcitonin 3-116 im Plasma lediglich bei der Abhandlung des Standes der Technik erwähnt, nicht aber als Teil des Gegenstands des Streitpatents ausgeführt. In dem experimentellen Teil A der Stammanmeldung, der die Kenntnis von Sepsis voraussetze, könne ebenfalls keine Offenbarung für die Diagnose von Sepsis nach Patentanspruch 1 des Streitpatents gesehen werden.
In ihrem schriftsätzlichen Vorbringen haben die Klägerinnen zur Begründung fehlender Neuheit der Lehre des erteilten Patentanspruchs 1 den Stand der Technik nach den Entgegenhaltungen NiK5 bzw. NiK6 sowie den LUMItest® PCT herangezogen. Die von der Beklagten in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidungen BGH-Zöliakiediagnoseverfahren und BGH-Borrelioseassay beträfen beide eine völlig andere Konstellation als der vorliegende Sachverhalt und seien daher für die Beurteilung der Rechtsbeständigkeit des Streitpatents nicht relevant.
Jedenfalls sei die Lehre des Patentanspruchs 1 bei unterstellter Neuheit ausgehend von der NiK5 oder NiK6 unter Hinweis auf weitere Dokumente zum Stand der Technik bzw. in Verbindung mit dem allgemeinen Bestreben des maßgeblichen Durchschnittsfachmanns, die analytische Spezifität des bekannten Procalcitonin-Assay zu erhöhen bzw. ein alternatives Procalcitonin-Assay zur Verfügung zu stellen, nahegelegt.
Hinsichtlich der geltend gemachten fehlenden Ausführbarkeit des Streitpatents hat die Klägerin zu 3 ausgeführt, dass die Beklagte ausweislich der gutachtlich zu wertenden, unter anderem von Erfindern des Streitpatents verfassten NiK10 erst etwa zehn Jahre nach dem Zeitrang des Streitpatents in der Lage gewesen sei, Procalcitonin 3-116 in Serumproben spezifisch und selektiv nachzuweisen.
Hinsichtlich des von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 7. August 2018 – nach Fallenlassen des bisherigen Hilfsantrags 1 vom 11. April 2017 – neu überreichten Hilfsantrags 1 beantragen sämtliche Klägerinnen, diesen als verspätet zurückzuweisen. Die Klägerinnen zu 1 und 2 machen insoweit zudem fehlende Klarheit gemäß Art. 84 EPÜ geltend. Die Klägerin zu 3 rügt insoweit eine mangelnde Ausführbarkeit.
Den jeweils beanspruchten Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß den von der Beklagten mit Schriftsatz vom 28. Februar 2018 überreichten Hilfsanträgen 2 und 3 rügen die Klägerinnen zu 1 bis 3 als gegenüber dem Inhalt der Anmeldung unzulässig erweitert, da – wie schon zum Hauptantrag ausgeführt – ein Verfahren zum (nicht spezifischen) Nachweis von Procalcitonin 3-116 zur Sepsisdiagnose in der Stammanmeldung nicht offenbart sei und somit auch nicht die Verwendung von Procalcitonin 1-116, 2-116 oder 3-116 als Kalibratoren im Rahmen solcher Verfahren. Entgegen der Ansicht der Beklagten finde sich eine Offenbarung hierfür auch nicht in Absatz [0038] des Streitpatents bzw. Seite 13, Zeilen 17 bis 21 der Stammanmeldung.
Im Übrigen sehen die Klägerinnen zu 1 bis 3 den jeweiligen Gegenstand gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 3 – insbesondere ausgehend von NiK5 und NiK6 (Hilfsantrag 1) bzw. NiK19 und NiK20 (Hilfsanträge 2 und 3) – als nicht neu und/oder nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend an.
Die Klägerinnen zu 1 bis 3 beantragen sinngemäß,
das europäische Patent EP 2 028 493 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland vollumfänglich für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Streitpatent mit dem in der mündlichen Verhandlung am 7. August 2018 überreichten Hilfsantrag 1 sowie den Hilfsanträgen 2 und 3, eingereicht mit Schriftsatz vom 28. Februar 2018, verteidigt wird.
Dem Patentanspruch 1 schließen sich gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 3 jeweils die rückbezogenen Patentansprüche 2 und 3 an. Wegen des Wortlauts der jeweiligen Anspruchssätze nach Hilfsantrag 1 wird auf die Anlage 1 zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 7. August 2018 und hinsichtlich der Hilfsanträge 2 und 3 auf die Anlagen zum Schriftsatz der Beklagten vom 28. Februar 2018 verwiesen.
Die Beklagte hat folgende Druckschriften und Unterlagen in das Verfahren eingeführt:
VP1 Konkordanztabelle mit konsolidierten Bezeichnungen der von den Klägerinnen zum Stand der Technik vorgelegten Anlagen
VP2 Eingabe der Beklagten im Erteilungsverfahren des Streitpatents vor dem EPA vom 26. März 2010
VP3 BGH, Urteil vom 19. April 2016 – X ZR 148/11 – Zöliakiediagnoseverfahren, beck-online
VP4 EP 0 912 898 B1
VP5 BPatG, Urteil vom 28. Juni 2011 – 3 Ni 10/10 (EU), beck-online
VP6 Auszug aus der Website des Deutschen Zöliakie-Gesellschaft e.V., „Das Krankheitsbild“
VP7 BGH, Urteil vom 17. Januar 2017 – X ZR 11/15 – Borrelioseassay
VP8 BPatG, Urteil vom 30. September 2014 – 3 Ni 6/13 (EP)
VP9 P. Meier-Beck: „Die Rechtsprechung des BGH in Patentsachen im Jahr 2016“, GRUR 119 (2017), 1065–1176
VP10 A. J. Kenny et al.: „Dipeptidyl Peptidase IV, a Kidney Brush-Border Serine Peptidase“, Biochem. J. 155 (1976) 169–182
VP11 T. Hoffmann et al.: „Dipeptidyl peptidase IV (CD 26) and aminopeptidase (CD 13) catalyzed hydrolysis of cytokines and peptides with N-terminal cytokine sequences“, FEBS Letters 336 (1993) 61–64
VP12 I. De Meester et al.: „CD26, let it cut or cut it down“, Immunology Today 20 (1999) 367–375
VP13 Eidesstattliche Versicherung von Dr. T… vom 24. Juli 2018.
Die Beklagte tritt den Ausführungen der Klägerinnen in allen Punkten entgegen und erachtet das Streitpatent für nicht unzulässig erweitert, ausführbar und patentfähig; dies gelte jedenfalls für eine der Fassungen der Hilfsanträge 1, 2 oder 3.
Der Lehre des Streitpatents liege die maßgebliche Erkenntnis zugrunde, dass bei Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen das bis dahin unerkannte Procalcitonin 3-116 in erhöhter Form im Blut vorliege und dies der entscheidende Marker für die Diagnose der vorgenannten Erkrankungen sei. Patentanspruch 1 des Streitpatents sei dahingehend weit auszulegen, dass nicht nur eine spezifische Detektion von Procalcitonin 3-116 (unter Ausschluss anderer Formen des Procalcitonin), sondern auch solche Verfahren vom Schutzumfang umfasst seien, in denen neben Procalcitonin 3-116 auch andere Formen des Procalcitonin, z. B. Procalcitonin 1-116, detektiert würden. Der Begriff „detektieren“ im Patentanspruch 1 bedeute ein Erfassen oder Nachweisen von Procalcitonin 3-116, was die Kenntnis seiner Existenz voraussetze. Erfindungsgemäß sei daher zum einen erforderlich, das richtige Assay, nämlich ein solches, das Procalcitonin 3-116 (mit)messen könne, auszusuchen, und zum anderen, dass der Anwender wisse, dass mit dem ausgesuchten Assay gerade Procalcitonin 3-116 als relevanter Marker für die Diagnose von Sepsis gemessen werde. Dies solle mit dem in der mündlichen Verhandlung am 7. August 2018 überreichten neuen Hilfsantrag 1 noch deutlicher herausgestellt werden, wobei dessen Gegenstand ebenfalls sowohl die nichtselektive als auch die selektive Detektion von Procalcitonin 3-116 umfasse.
Das Streitpatent sei in seiner erteilten Fassung nicht unzulässig erweitert. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 sei in der ursprünglichen Stammanmeldung (NiK3) offenbart, insbesondere in den Textpassagen auf Seite 1, erster Absatz, bis Seite 5, erster Absatz, und Seite 11, dritter Absatz (vgl. die identisch lautenden Absätze [0001] bis [0012] und [0030] des Streitpatents), aus denen sich eindeutig ein Verfahren zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen, bei welchem Procalcitonin 3-116 aus dem Blut von Patienten nachgewiesen bzw. detektiert werde, entnehmen ließe. Dies werde durch den experimentellen Teil A (Seite 8 ff. der Stammanmeldung bzw. Absatz [0019] ff. des Streitpatents) bekräftigt. Aus Seite 4, letzter Absatz, bis Seite 5 oben sowie Seite 6, Zeilen 14 bis 18, der Stammanmeldung (entspricht Absatz [0012] und Absatz [0014], Zeilen 34 bis 35 des Streitpatents) ergebe sich ferner eine Verwendung von Procalcitonin 3-116 als diagnostisch wichtigem Marker für Sepsis – neben dem zusätzlichen Aspekt, dass Procalcitonin 3-116 auch von potenziellem Interesse für die Therapie von Sepsis sei. Die Beklagte führt in diesem Zusammenhang als weitere Offenbarungsstelle den – nicht in das Streitpatent übernommenen – Patentanspruch 10 der Stammanmeldung (NiK3, „Verfahren zur Messung von Procalcitonin 3-116 als indikationsunabhängiger Diagnostikparameter“) auf, der entgegen der Ansicht der Klägerinnen nicht auf eine spezifische Messung von Procalcitonin 3-116 beschränkt sei und den Einsatz von Procalcitonin 3-116 als Marker für verschiedene Erkrankungen und damit auch für die Diagnose von Sepsis umfasse. Dass die Detektion von Procalcitonin 3-116 nicht nur aus dem Blut oder dem Serum des Patienten, sondern auch aus dem Plasma erfolgen könne, sei in der Stammanmeldung (NiK3) auf Seite 1, zweiter Absatz offenbart.
Auch die Ausführbarkeit des Streitpatents sei entgegen dem Einwand der Klägerin zu 3 unzweifelhaft gegeben. Denn die Lehre des Streitpatents sei gerade nicht auf eine selektive Detektion von Procalcitonin 3-116 gerichtet. Abgesehen davon hätte der Fachmann, wenn dennoch eine selektive Detektion von Procalcitonin 3-116 zur Diagnose von Sepsis gewünscht gewesen wäre, dies zum maßgeblichen Zeitpunkt dadurch bewerkstelligen können, dass er die verschiedenen Formen des Procalcitonin aus einer Blutprobe isoliert, chromatographisch aufgetrennt und durch massenspektrometrische Analyse bzw. Proteinsequenzierung spezifisch Procalcitonin 3-116 nachgewiesen hätte, wie im Beispielsteil der Streitpatentschrift beschrieben. Die nachveröffentlichte NiK10 könne die Ausführbarkeit nicht in Frage stellen, da sie in Übereinstimmung mit der Lehre des Streitpatents lediglich belege, dass eine selektive Detektion von Procalcitonin 3-116 zur Diagnose von Sepsis bislang gerade nicht notwendig gewesen sei.
Die Lehre des Patentanspruchs 1 des Streitpatents sei auch patentfähig und bereits deshalb nicht durch den Stand der Technik neuheitsschädlich vorweggenommen bzw. nahegelegt, weil selbst eine mögliche, aber unerkannt gebliebene Mitmessung von Procalcitonin 3-116 durch vorbekannte Assays, wie bei der NiK5 oder dem LUMItest® PCT, unschädlich seien. Denn der Aspekt der inhärenten Offenbarung und Vorwegnahme gelte bereits mangels der Kenntnis von der Existenz des Procalcitonin 3-116 im Stand der Technik und damit der für eine Inhärenz erforderlichen öffentlichen Zugänglichmachung der anspruchsgemäßen Detektion des Procalcitonin 3-116 nicht. Der Stand der Technik lehre im Unterschied zum Patentanspruch 1 des Streitpatents nicht, zur Diagnose von Sepsis ein Assay zu verwenden, das Procalcitonin 3-116 detektiere.
Die Beklagte bezieht sich zur Frage der Patentfähigkeit ferner auf die BGH-Entscheidung Zöliakiediagnoseverfahren, deren zugrundeliegender Sachverhalt mit dem vorliegenden Fall vergleichbar sei. In dieser Entscheidung habe der BGH einem diagnostischem Verfahrensanspruch sowohl Neuheit als auch Erfindungshöhe gegenüber mehreren Dokumenten aus dem Stand der Technik attestiert, in denen ein Verfahren für exakt dieselbe Diagnose beschrieben gewesen sei und bei dessen tatsächlicher Anwendung der in dem Verfahren nach Patentanspruch 1 des dortigen Streitpatents erstmalig offenbarte Analyt bereits de facto detektiert worden sei. Bei Anwendung der Grundsätze dieser BGH-Entscheidung sei auch das Verfahren nach Patentanspruch 1 des Streitpatents unzweifelhaft neu. Denn mit dem LUMItest® PCT aus dem Stand der Technik sei es zwar bereits faktisch möglich gewesen, auch Procalcitonin 3-116 zu binden, allerdings sei dem Fachmann aus dem Stand der Technik nicht bekannt gewesen, dass der zu bindende Analyt tatsächlich Procalcitonin 3-116 sei. Auch die Relevanz dieses noch völlig unbekannten Stoffs im Rahmen der Sepsis-Diagnose sei ihm nicht zugänglich gewesen. Erst durch die Erkenntnis der Erfindung des Streitpatents sei er in die Lage versetzt worden, ein diagnostisches Assay zu konstruieren bzw. auszuwählen, welches stets verlässlich jedenfalls auch Procalcitonin 3-116 detektieren könne und daher eine verlässliche Sepsis-Diagnose garantiere. Des Weiteren beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die BGH-Entscheidung Borrelioseassay, in welcher unter Fortführung der o. g. BGH-Entscheidung ebenfalls eine dem vorliegenden Fall vergleichbare Sachverhaltskonstellation zugrunde liege.
Der Gegenstand gemäß dem geltenden Hilfsantrag 1 sei klar, ausführbar und patentfähig. Der von den Klägerinnen hinsichtlich der Hilfsanträge 2 und 3 jeweils erhobene Einwand der unzulässigen Erweiterung greife nicht durch. Die dort im Patentanspruch 1 jeweils beanspruchte Und/Oder-Kombination sei in Absatz [0038] des Streitpatents offenbart. In dem Umstand, dass nach Hilfsantrag 2 das Procalcitonin nicht gentechnologisch hergestellt worden sein müsse, sei auch keine unzulässige Verallgemeinerung zu sehen. Im Übrigen verweist die Beklagte zur Frage der ursprünglichen Offenbarung in diesem Zusammenhang wiederum auf die BGH-Entscheidung Borrelioseassay.
Die jeweiligen Gegenstände der Hilfsanträge 2 und 3 seien zweifellos neu und beruhten aus den zum Hauptantrag aufgeführten Gründen auch auf einer erfinderischen Tätigkeit. Zudem gehe aus der VP13 hervor, dass die Verwendung von Procalcitonin 1-116, Procalcitonin 2-116 und/oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator vorteilhaft für das geschützte Diagnoseverfahren sei, insbesondere zu einer drastischen Verkürzung der Inkubationszeit führe. Die Beklagte rügt die Vorlage der von der Klägerin zu 3 mit Schriftsatz vom 20. Juli 2018 eingereichten Dokumente NiK19 und NiK20 als verspätet, insbesondere, weil die NiK20 nicht gleichzeitig in deutscher Übersetzung vorgelegt worden sei (eine solche wurde von der Klägerin zu 3 in der mündlichen Verhandlung überreicht, vgl. Anlage 2 zum Protokoll vom 7. August 2018). Im Übrigen stünden diese Entgegenhaltungen einer Patentfähigkeit des Gegenstands der Hilfsanträge 2 und 3 nicht entgegen, insbesondere, weil die im Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 vorausgesetzte Detektion von Procalcitonin 3-116 in der NiK20 nicht gelehrt werde und die NiK19 kein Verfahren offenbare, das sich mit der Diagnose von Sepsis beschäftige. Weder in der NiK19 noch in der NiK20 gebe es einen Hinweis oder Anreiz, Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator zu verwenden.
Vor Erhebung der Nichtigkeitsklagen hat die hiesige Beklagte beim Landgericht München I zunächst gegen die hiesigen Klägerinnen zu 1 und 2 – nach einem vorangegangenen, in zweiter Instanz erfolglosen einstweiligen Verfügungsverfahren – Verletzungsklage aus einem anderen, ebenfalls den Nachweis von Procalcitonin im Rahmen der Sepsisdiagnose betreffenden Patent erhoben (Az. 21 O 5347/16) und diese Klage unter dem 11. Mai 2016 im Wege der Klageerweiterung, den hiesigen Klägerinnen zu 1 und 2 zugestellt am 3. August 2016, zudem auf eine vermeintliche Verletzung des Streitpatents gestützt. Mit Beschluss vom 6. Oktober 2016 hat das Landgericht München I das Verfahren zu dem Streitpatent abgetrennt und unter dem Az. 21 O 17508/16 fortgeführt. Die Beklagte hat ferner gegen die hiesige Klägerin zu 3 sowie zwei weitere Unternehmen im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim Landgericht München I (Az. 21 O 9715/16) einen auf das Streitpatent gestützten Unterlassungsanspruch geltend gemacht. Die beantragte einstweilige Verfügung wurde mit Beschluss des Landgerichts München I vom 7. Juli 2016 erlassen mit der Begründung, dass das von der hiesigen Klägerin zu 3 angebotene und verkaufte Procalcitonin-Assay das Streitpatent (mittelbar) verletze. Beim Landgericht München I ist ein weiteres von der hiesigen Beklagten aus dem Streitpatent angestrengtes Verletzungsverfahren gegen die Abnehmer der Nichtigkeitsklägerin zu 3 unter dem Az. 21 O 16031/16 anhängig. In den beiden o. g. auf dem Streitpatent basierenden Verletzungsverfahren Az. 21 O 17508/16 und 21 O 16031/16 fand am 5. April 2017 Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht München I statt, in dem beide Verfahren bis zu einer Entscheidung im vorliegenden Nichtigkeitsverfahren ausgesetzt wurden (vgl. die jeweiligen Aussetzungsbeschlüsse NiK17b und NiK21b).
Der Senat hat den Parteien einen frühen qualifizierten Hinweis vom 16. März 2017 und einen ergänzenden qualifizierten Hinweis vom 10. Mai 2017 nach § 83 Abs. 1 PatG zugeleitet, auf deren Inhalt Bezug genommen wird. In dem ergänzenden qualifizierten Hinweis vom 10. Mai 2017 hat der Senat auf den Inhalt folgender vorveröffentlichter Druckschriften Bezug genommen:
S1 A. Yaron et al., „Proline-Dependent Structural and Biological Properties of Peptides and Proteins“, Critical Reviews in Biochemistry and Molecular Biology 28 (1993) 31–81, insbesondere S. 49, Abs. 2 bis S. 57, Abs. 1
S2 I. Nausch et al., „The Degradation of Bioactive Peptides and Proteins by Dipeptidyl Peptidase IV from Human Placenta“, Biol. Chem. Hoppe-Seyler 371 (1990) 1113–1118, Abstract
S3 J. M. Le Moullec et al., „The complete sequence of human preprocalcitonin“, FEBS Letters 167 (1984) 93–98, zitiert im Streitpatent NiK1, S. 2, Z. 20–21.
Im Übrigen wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze samt allen Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 7. August 2018 samt Anlagen verwiesen.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet, da sich die nach Hauptantrag verteidigte Lehre des Streitpatents in der erteilten Fassung nicht als patentfähig und die nach den Hilfsanträgen verteidigte Lehre erst in der Fassung nach Hilfsantrag 2 teilweise als zulässig beschränkt verteidigt und auch als patentfähig erweist.
Auf die weitere Anspruchsfassung des nachrangigen Hilfsantrags 3 kam es bei dieser Sachlage nicht an.
I.
1. Nach der Einleitung des Streitpatents betrifft die streitpatentgemäße Erfindung neue Diagnosemöglichkeiten, die sich aus neuen, experimentell abgesicherten Erkenntnissen im Zusammenhang mit dem Auftreten von Teilpeptiden des Procalcitonin bei Sepsis oder sepsisähnlichen schweren systemischen Infektionen ableiten lassen (vgl. NiK1, [0001]).
Das aus einer Sequenz von 116 Aminosäuren bestehende Prohormon Procalcitonin (PCT, ProCT) und das daraus unter physiologischen Bedingungen durch selektive Proteolyse gebildete, aus 32 Aminosäuren bestehende hypocalcämische Hormon Calcitonin werden ebenso wie das aus 141 Aminosäuren bestehende Vorläuferpeptid Präprocalcitonin vom Calcitonin-I Gen (CALCA Gen) codiert und insbesondere in Zellen der Schilddrüse exprimiert. Bei mikrobiellen, insbesondere bei bakteriellen Infektionen wird Procalcitonin auch in Zellen anderer Gewebe, vor allem in Leber-, Nieren- und Muskelgewebezellen gebildet. Procalcitonin eignet sich deshalb als Infektionsmarker bei den durch bakterielle Infektionen hervorgerufenen systemischen Entzündungen und von Sepsis, da dessen Konzentration im Blut solcher Patienten erhöht ist im Vergleich zu Patienten mit nicht-infektiös bedingten entzündlichen Erkrankungen (vgl. NiK1, [0002] bis [0005] sowie die dort zitierten S3 und NiK13).
Die Nucleotidsequenz des Calcitonin-I Gens und die Aminosäuresequenzen der beiden Calcitonin-Vorläufer Präprocalcitonin und Procalcitonin sind seit 1984 aus der Veröffentlichung S3 bekannt (S3, Fig. 2), die auch im Streitpatent zitiert wird. In der dort abgebildeten und nachfolgend dargestellten Gensequenz beginnt das aus einer Kette von insgesamt 141 Aminosäuren bestehende Präprocalcitonin an Position -84 mit der Aminosäure Methionin und endet mit der Aminosäure Asparagin an der Position +25 vor dem sogenannten Stop-Codon. Diese Sequenz umfasst damit das aus 116 Aminosäuren bestehende Procalcitonin, welches an Position -59 mit der Aminosäure Alanin beginnt und ebenfalls vor dem Stop-Codon endet. Beides sind Vorläuferpeptide des mit Cystein (Position +1) beginnenden und mit Prolin (Position +32) endenden Calcitonin (32 Aminosäuren).
Die Bedeutung der Vorläuferpeptide des Calcitonin, insbesondere des nativen Procalcitonin (Procalcitonin 1-116), als potentieller (Bio)Marker für verschiedene Erkrankungen, insbesondere bei schweren bakteriellen Infektionen und bei Sepsis, war dann bereits etliche Jahre vor dem Zeitrang des Streitpatents erkannt worden (vgl. NiK5, NiK6, NiK11 bis NiK14, NiK19, NiK20). In der NiK11 wurde dabei die Abkürzung „CT-pr“ als Sammelbegriff für Procalcitonin und für andere Vorläuferpeptide des Calcitonin verwendet (vgl. NiK11, Abstract).
Die Konzentration von Procalcitonin wurde durch immunanalytische Tests bestimmt, die mittels speziell entwickelter, i. d. R. monoklonaler Antikörper, je nach Ausgestaltung durch Radio- oder Lumineszenzmarkierung den Nachweis von Konzentrationen von etwa 0,1 ng/ml bis herab zu 0,01 ng/ml Procalcitonin ermöglichen (vgl. z. B. NiK11, Abstract, Z. 6–7; NiK13, S. 329 re. Sp. Abs. 2, letzter Satz; NiK19, S. 642 li. Sp. „Procalcitonin assay“, drittletzter Satz; NiK20, S. 303 Abschnitt „Matériel et méthodes“, Abs. 1 letzter Satz).
Voraussetzung für die Entwicklung dieser hochempfindlichen Tests waren die bereits 1984 publizierte, vorstehend genannte Sequenz des Calcitonin-I Gens und die Primärstrukturen der dadurch codierten Proteine bzw. Peptide einschließlich der Kenntnis der Angriffsstellen physiologischer Peptidasen und potentieller Bindungsbereiche für monoklonale Antikörper als Reagenzien zur immunanalytischen Bestimmung der Konzentration von Procalcitonin und anderen Vorläuferpeptiden des Calcitonin (vgl. NiK11, insbesondere Abstract, S. 6845 li. Sp. letzter Abs. i. V. m. S. 6849 re. Sp. letzter Abs. bis S. 6850 li. Sp. Abs. 1). Die nachfolgend dargestellte Fig. 1 der NiK11 verdeutlicht insoweit auch nochmals den bereits in Verbindung mit der S3 genannten Zusammenhang zwischen den Vorläuferpeptiden Präprocalcitonin und Procalcitonin und Calcitonin selbst.
Die bereits vor dem Zeitrang des Streitpatents bekannten Immuntests, darunter auch der im Streitpatent zum Einsatz gelangende LUMItest® PCT der B.R.A.H.M.S Diagnostica (vgl. NiK1, S. 4 Z. 31–33) sind nicht stoffspezifisch für das native Procalcitonin, das sämtliche 116 Aminosäuren aufweist (Procalcitonin 1-116), sondern erfassen als Gesamt-Procalcitonin auch andere Vorläuferpeptide des Calcitonin und damit auch proteolytische Spaltpeptide des Procalcitonin 1-116 (vgl. gutachtlich NiK10, S. 1672 li. Sp. Abschnitt „Background“, „Current immunoassays for PCT („total PCT“) …“ i. V. m. S. 1678 re. Sp. letzter Abs. „... than total PCT, which is measured by all commercially available PCT assays so far“; NiK5, S. 3 Z. 7–13; NiK11, Abstract Satz 2 i. V. m. S. 6849 re. Sp. letzte Z. bis S. 6850 li. Sp. Z. 4).
In Humanblut liegen die Normalwerte von Procalcitonin i. d. R. unterhalb von 0,1 ng/ml, bei leichten bakteriellen Infektionen im Bereich von 0,1 ng/ml bis 1,5 ng/ml oder geringfügig höher, bei mittelschweren bis schweren bakteriellen Infektionen über 2 ng/ml bis hin zu demgegenüber drastisch höheren Konzentrationen von sogar mehr als 100 ng/ml in Fällen schwerster systemischer Infektionen und schwerster Sepsis einschließlich dadurch bedingter schwerer Organdysfunktionen (vgl. NiK1, S. 8 Tab. 3 i. V. m. Fig. 4 u. Fig. 5; NiK13, S. 329 re. Sp. vorletzter Abs. bis S. 330 li. Sp. Abs. 1 i. V. m. Fig. 1; sowie die in NiK7 als D2 und in NiK8, S. 1 letzter Abs. zitierte Arbeit von M. Assicot et al.: „High serum procalcitonin concentrations in patients with sepsis an infection“, The Lancet, 341 (1993) 515–518).
Das um die beiden N-terminalen Aminosäuren und damit um das Dipeptid Ala-Pro (Alanin-Prolin) verkürzte Procalcitonin (Procalcitonin 3-116), das in den Anmeldeunterlagen noch als Stoff beansprucht worden war (vgl. NiK3, Anspruch 7), ist – nach derzeitiger Datenlage – erstmals in der im Streitpatent in Anspruch genommenen Priorität NiK4 beschrieben worden.
2. Das Streitpatent nennt als Aufgabe das Ziel, die aus den neuen Erkenntnissen des Streitpatents und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen sich ergebenden technischen Lehren patentrechtlich abzusichern, soweit diese unter Berücksichtigung des derzeitigen Erkenntnisstandes einem Patentschutz zugänglich sind (vgl. NiK1, Abs. [0016]). Ausgangspunkt für den in der vorliegenden Patentanmeldung offenbarten Erfindungskomplex ist die überraschende Erkenntnis, dass das bei Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen im Serum von Patienten in vergleichsweise hohen Konzentrationen nachweisbare Procalcitonin nicht das vollständige Procalcitonin 1-116 mit 116 Aminosäuren sei, sondern ein demgegenüber am Aminoterminus um ein Dipeptid verkürztes, ansonsten jedoch identisches Procalcitonin mit einer Aminosäuresequenz von nur 114 Aminosäuren – Procalcitonin 3-116 (vgl. NiK1, Abs. [0008]).
3. Die Aufgabe soll erfindungsgemäß nach Patentanspruch 1 der erteilten Fassung (Hauptantrag) gelöst werden durch ein
1) Verfahren zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen,
2) wobei Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten detektiert wird.
In Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 kommt gegenüber Patentanspruch 1 nach Hauptantrag nach dem Merkmal 1 folgendes Merkmal hinzu;
1.1) mit Procalcitonin 3-116 als Marker.
In Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 kommen gegenüber Patentanspruch 1 nach Hauptantrag nach dem Merkmal 2 folgende Merkmale hinzu:
3) wobei als Kalibrator
3.1) Procalcitonin 1-116,
3.2) Procalcitonin 2-116
und/oder
3.3) Procalcitonin 3-116
verwendet wird.
In Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 kommt gegenüber Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 folgendes Merkmal hinzu:
3.4) das als Kalibrator verwendete Procalcitonin wird gentechnologisch hergestellt.
4. Als den zur Lösung der Aufgabe berufenen Fachmann sieht der Senat einen Diplom-Chemiker der Fachrichtung Biochemie oder einen Diplom-Biochemiker oder einen Molekularbiologen mit jeweils langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Immunologie an, die auch als Team mit der Entwicklung von diagnostischen Verfahren basierend auf der Bestimmung von Blutproteinen befasst und vertraut sind.
II.
1. Der Gegenstand des Streitpatents betrifft nach dem Wortlaut des Patentanspruchs 1 der erteilten Fassung (Hauptantrag) ein Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1, das die Detektion von Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten (Merkmal 2) umfasst. Demnach ist Patentanspruch 1 des Streitpatents auf ein Verfahren zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen und damit auf ein Diagnostizierverfahren gerichtet, nicht auf ein Verfahren zur Detektion bzw. zum Nachweis oder gar zur quantitativen Bestimmung bzw. der Ermittlung der Konzentration von Procalcitonin 3-116 in Blut.
2. Die stets gebotene Auslegung eines Patentanspruchs nach Art. 69 Abs. 1 EPÜ und seiner einzelnen Merkmale hat sich am technischen Sinngehalt der Merkmale des Patentanspruchs im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit zu orientieren (st. Rspr., BGH GRUR 2011, 129 – Fentanyl-TTS; GRUR 2002, 515, 517 – Schneidmesser I, m. w. N.), wobei die Patentschrift im Hinblick auf die gebrauchten Begriffe auch ihr eigenes Lexikon darstellen kann (BGH GRUR 1999, 909 – Spannschraube; Mitt. 2000, 105 – Extrusionskopf).
Insoweit ist im Hinblick auf den zwischen den Parteien anlässlich des Verletzungsverfahrens geführten Streit um die richtige Auslegung insbesondere des Merkmals 2 darauf hinzuweisen, dass die Auslegung losgelöst vom Stand der Technik und der angegriffenen Verletzungsform zu erfolgen hat und nur im Lichte der Gesamtoffenbarung der Patentschrift zu bestimmen ist (BGH GRUR 2012, 1124 – Polymerschaum I; GRUR 2015, 867 – Polymerschaum II). Sie hat sich am Sinngehalt des betreffenden Merkmals zu orientieren im Kontext der Patentschrift und der Funktion, die dieses für sich und im Zusammenwirken mit den übrigen Merkmalen des Patentanspruchs bei der Herbeiführung des erfindungsgemäßen Erfolgs hat. Es ist deshalb maßgeblich, was der angesprochene Fachmann – auch unter Einbeziehung seines Vorverständnisses (BGH GRUR 2008, 878 – Momentanpol II) – danach bei unbefangener Betrachtung dem Patentanspruch als Erfindungsgegenstand entnimmt.
Zu betonen ist auch, dass bei Widersprüchen zwischen den Patentansprüchen und der Beschreibung solche Bestandteile der Beschreibung, die in den Patentansprüchen keinen Niederschlag gefunden haben, grundsätzlich nicht in den Patentschutz einbezogen sind und die Beschreibung nur insoweit berücksichtigt werden darf, als sie sich als Erläuterung des Gegenstands des Patentanspruchs lesen lässt (BGHZ 189, 330 = GRUR 2011, 701 – Okklusionsvorrichtung). Dies gilt auch im Hinblick auf die Festlegung der objektiven Aufgabe, wie insbesondere auch der subjektiv im Patent genannten Aufgabe, deren Bestimmung angesichts des Vorrangs des Patentanspruchs gegenüber dem übrigen Inhalt der Patentschrift nicht zu einer sachlichen Einengung des durch den Wortsinn des Patentanspruchs festgelegten Gegenstands führen darf (BGHZ 211, 1 – Pemetrexed, unter Hinweis auf Urteil vom 4. Februar 2010 – Xa ZR 36/08, GRUR 2010, 602 Rn. 27 – Gelenkanordnung; Urteil vom 17. Juli 2012 – X ZR 113/11, GRUR 2012, 1122 Rn. 22 – Palettenbehälter III).
Auch ist darauf hinzuweisen, dass die weiteren Teilgegenstände des ursprünglichen Erfindungskomplexes (vgl. NiK2 bis NiK4, jeweils Experimentelle Teile A bis D i. V. m. den jeweiligen Anspruchsfassungen) unverändert in der Streitpatentschrift als Bestandteil der Patentbeschreibung verblieben sind (vgl. NiK1, S. 4–9, Experimentelle Teile A bis D, S. 3 Abs. [0014]), und zwar
- die Isolierung und Identifizierung des Procalcitonin 3-116,
- die gentechnische Herstellung von Procalcitonin 3-116,
- aus der vermuteten Entzündungsmediatorfunktion des Procalcitonin 3-116 abgeleitete therapeutische Möglichkeiten,
- die Bestimmung der Dipeptidyl-(Amino)Peptidase IV (DP IV bzw. DAP IV) zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen,
- die Bestimmung der Konzentrationen anderer Prohormone bei Sepsis,
diese aber keinen Niederschlag in den Patentansprüchen gefunden haben und Erläuterungen des Merkmals 2 im allgemeinen Beschreibungsteil der Streitpatentschrift fehlen (vgl. NiK1, S. 2 Z. 1 bis S. 3 Z. 53), abgesehen von der erst in die Beschreibung der Streitpatentschrift nachträglich aufgenommenen wörtlichen Wiedergabe der geltenden Patentansprüche (vgl. NiK1, S. 3 Z. 45–53). Auch im experimentellen Teil der Beschreibung sind bis auf die Bestimmung von (Gesamt-) Procalcitonin mit einem handelsüblichen Test (vgl. NiK1, S. 4 Z. 31–33) lediglich die Isolierung und Identifizierung von Procalcitonin 3-116 aus Serumproben von Sepsispatienten sowie die Klonierung, Expression und Aufreinigung von Procalcitonin 3-116 beschrieben (vgl. NiK1, S. 4 Z. 26 bis S. 6 Z. 18, Experimentelle Teile A und B).
Da mithin die Streitpatentschrift weder ein eigenes Lexikon in Bezug auf die Detektion von Procalcitonin aus dem Blut eines Patienten bildet noch erläuternde Hinweise zur Klärung des Verständnisses enthalten sind, ist für die Auslegung des Merkmals 2 von besonderer Bedeutung und maßgeblich, was der angesprochene Fachmann im Kontext der Offenbarung der Streitpatentschrift gerade unter Einbeziehung seines Vorverständnisses, das sich insbesondere am gattungsgemäßen Stand der Technik orientieren wird, den Patentansprüchen als Erfindungsgegenstand entnimmt.
3. Im Kontext eines Diagnostizierverfahrens gemäß Merkmal 1 umfasst Merkmal 2 und damit Patentanspruch 1 danach jedwedes Erfassen und jedweden Nachweis von Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten. Umfasst ist danach zwar auch – aber nicht nur – die Identifizierung nach erfolgreicher Aufarbeitung und Isolierung und damit ein qualitativer Nachweis bis hin zur quantitativen Bestimmung seiner Konzentration. Insbesondere ist davon aber – mangels anderweitiger Definition im Streitpatent – deshalb jedwede Ausführungsform einer Erfassung (Nachweis, Bestimmung, Messung) von Procalcitonin 3-116 in einer Probe, ob qualitativ oder quantitativ, ob spezifisch und damit selektiv oder undifferenziert und damit auch unerkannt als Bestandteil einer in ihrer Gesamtheit erfassbaren, bestimmbaren oder messbaren Stoffgruppe bzw. Zusammensetzung umfasst.
Erfasst ist danach auch das bloße Miterfassen von Procalcitonin 3-116 als zahlenmäßig unbestimmter Bestandteil des Gesamt-Procalcitonin durch einen immunanalytischen Test und zwar – entgegen der Auffassung der Beklagten – auch ohne eine erkenntnisbegleitende Detektion, welche die Kenntnis der Existenz von Procalcitonin 3-116 als miterfassten relevanten Marker für die Diagnose von Sepsis voraussetzt, d. h. ein zielgerichtetes Erfassen ist nicht zwingend erforderlich.
3.1 Die Detektion durch Messung von Procalcitonin und Procalcitonin 3-116 erfolgt im Streitpatent ausnahmslos immunanalytisch mittels des bereits vor dem Zeitrang des Streitpatents handelsüblichen LUMItest® PCT und zwar im Zuge der Isolierung und Identifizierung des Procalcitonin 3-116 aus einer Sammelprobe septischer Patienten (vgl. NiK1, Experimenteller Teil A), bei der Herstellung von rekombinantem Procalcitonin 3-116 (vgl. NiK1, Experimenteller Teil B) sowie in einer vergleichenden Untersuchung mit den Konzentrationen anderer Prohormone bei Sepsis (vgl. NiK1, Experimenteller Teil D). Zwar fehlen nähere experimentelle Angaben zur Durchführung dieses immunanalytischen Tests (vgl. NiK1, S. 4 Z. 31–33 i. V. m. S. 5 Z. 1–10, Z. 15–16, Z. 20–23 sowie Fig. 1; S. 6, Z. 5–9; S. 7 Z. 36–40 i. V. m. Z. 50–52 sowie S. 8 Z. 9–14 und Tab. 3, Fig. 4, Fig. 5), jedoch erübrigen sich solche Anleitungen im Fall eines im Handel erhältlichen Tests, der – wie im vorliegenden Fall – bereits die Basis vorveröffentlichter wissenschaftlicher Arbeiten darstellte (vgl. z. B. NiK13, S. 329 re. Sp. Abs. 2; NiK14 S. 582 re. Sp. letzter Abs.).
Das Teilmerkmal „in einer Probe aus dem Blut eines Patienten“ des Merkmals 2 ist nicht nur auf eine unbehandelte Blutprobe sowie eine jeweils nicht weiter gereinigte Serum- oder Plasmaprobe gemäß den Weiterbildungen bzw. Ausgestaltungen der Patentansprüche 2 und 3 zu lesen, sondern auch als eine nach gegebenenfalls beliebig aufwändiger Aufarbeitung aus dem Blut eines Patienten erhaltene Probe auszulegen.
Der Nachweis für das tatsächliche Vorliegen von Procalcitonin 3-116 erfolgte im Streitpatent demnach erst nach aufwändiger Aufarbeitung einer Sammelprobe mehrerer Sepsispatienten und war somit erst mittels einer aufwändigen Analytik möglich (vgl. NiK1, Experimenteller Teil A), die über einen handelsüblichen, im Rahmen eines labormedizinischen Diagnostizierverfahrens gemäß Merkmal 1 praktikablen Immuntest weit hinausgeht.
Im Kontext eines Diagnostizierverfahrens gemäß Merkmal 1 sind die Begriffe „detektieren“ und „Detektion“ – mangels anderweitiger Offenbarung in der Patentbeschreibung – auch auf das Miterfassen durch die im Stand der Technik verfügbaren immunanalytischen Tests auszulegen.
Merkmal 2 umfasst deshalb in labormedizinischer Hinsicht auch das undifferenzierte Miterfassen von Procalcitonin 3-116 zusammen mit anderen Vorläuferpeptiden des Calcitonin, also mit sämtlichen Procalcitoninen als Gesamt-Procalcitonin, in einer Probe aus dem Blut eines Patienten, entsprechend der Bestimmung in der Sammelprobe mehrerer Sepsispatienten im experimentellen Teil A des Streitpatents, und ist nicht auf eine spezifische und damit selektive Bestimmung der Konzentration von Procalcitonin 3-116 in dieser Probe beschränkt, was die Beklagte auch selbst nicht geltend macht. Merkmal 2 umfasst deshalb auch die Lehre, Procalcitonin 3-116 im immunanalytischen Test mitzuerfassen und dabei zusammen mit Procalcitonin 1-116 und anderen immunreaktiven Spaltprodukten des Procalcitonin im LUMItest® PCT als Bestandteil des Gesamt-Procalcitonin zu bestimmen. Patentanspruch 1 ist deshalb weder dahin auszulegen, dass Procalcitonin 3-116 ausschließlich selektiv und differenziert von Procalcitonin 1-116 detektiert wird, noch dass ein Nachweis für das Vorliegen von Procalcitonin 3-116 in einer Patientenprobe tatsächlich erbracht wird. Im Kontext eines Diagnostizierverfahrens gemäß Merkmal 1 ist Merkmal 2 deshalb auf eine in labormedizinischer Hinsicht sinnvolle, weil praktikable Detektion und damit auf die Bestimmung der Konzentration von Gesamt-Procalcitonin mittels vor dem Zeitrang des Streitpatents verfügbarer immunanalytischer Tests gerichtet und dementsprechend zu verstehen.
3.2 Das (Mit-) Erfassen von Procalcitonin 3-116 im handelsüblichen immunanalytischen Test setzt entgegen der Ansicht der Beklagten insbesondere auch nicht die Kenntnis der Anwesenheit bzw. der Existenz von Procalcitonin 3-116 voraus, erst recht nicht seinen differenzierten Nachweis. Der Beklagtenvertreter hat hierzu in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt, ob er der Aussage des Senats zustimme, dass die erfindungsgemäße Lehre nur den potentiellen Anteil von Procalcitonin 3-116 erfassen könne, ausgeführt, es sei zwar richtig, dass erfindungsgemäß eine selektive Detektion umfasst, aber nicht ausschließlich gefordert sei. Der entscheidende Unterschied bestehe aber darin, dass erfindungsgemäß der Anwender wisse, dass mit dem Messkit Procalcitonin 3-116 gemessen werde und dass das Verfahren auch Maßnahmen fordere, mit denen Procalcitonin 3-116 tatsächlich erfasst werde, während das nach dem Stand der Technik verwendete Messkit dies nicht zwingend messen müsse.
Insoweit teilt der Senat diese einschränkende Auslegung der technischen Anweisung des „detektierens“ nicht, welche dem handelsüblichen LUMItest® PCT zwar zubilligt, dass auch dieser Procalcitonin 3-116 bei der Messung (mit-)erfasst, wenn es vorhanden ist, nicht aber „detektiert“, weil die Messung nicht von der erfindungsgemäßen Erkenntnis des Vorliegens von Procalcitonin 3-116 begleitet sei. Denn ob eine identische technische Anweisung von einer bestimmten Erkenntnis getragen ist oder nicht, begründet patentrechtlich keine andere Lehre, solange nicht die Erkenntnis in der technischen Anweisung zum Ausdruck kommt. Dies gilt ebenso für den Aspekt, aus welcher Erkenntnis eine technische Anweisung gefordert wird, da der Erfindungsbegriff von der Entdeckung zu unterscheiden ist und eine Entdeckung nach Art. 52 Abs. 2 lit. a, Abs. 3 EPÜ als solche ebenso wie eine wissenschaftliche Theorie oder eine mathematische Methode dem Patentschutz nicht zugänglich ist. Deshalb kann eine Erkenntnis, welche nicht Ausdruck im technischen Handeln findet, auch kein technisches Merkmal bilden bzw. ein solches ausbilden und eine Abgrenzung zum Stand der Technik vermitteln.
Als weiteres Argument hat die Beklagte in diesem Zusammenhang angeführt, es sei zu beachten, dass erfindungsgemäß zwei Schritte erforderlich seien, wobei der erste Schritt darin bestehe, das richtige Assay auszusuchen, nämlich dasjenige, das Procalcitonin 3-116 messen könne, und der zweite Schritt das Bewusstsein erfordere, dass Procalcitonin 3-116 als Marker diese Relevanz zur Diagnose habe. Erst durch die Erkenntnis der Erfindung des Streitpatents sei der Fachmann in die Lage versetzt worden, ein diagnostisches Assay zu konstruieren bzw. auszuwählen, welches stets verlässlich jedenfalls auch Procalcitonin 3-116 detektieren könne und daher eine verlässliche Sepsis-Diagnose garantiere.
Dass mit dem im Stand der Technik handelsüblichen LUMItest® PCT Messkit die erste Bedingung erfüllt war und der Fachmann zuverlässig in die Lage versetzt war, Procalcitonin 3-116 mitzuerfassen, ist unbestritten. Die Beklagte stellt auch nicht in Abrede, dass insoweit die geltend gemachte Erkenntnis über die Bedeutung von Procalcitonin 3-116 für die Auswahl geeigneter Messkits nur dann erfindungsgegenständlich wäre, wenn sie in einer vom Patentanspruch umfassten technischen Anweisung zum Ausdruck kommen würde. Dies ist aber nicht der Fall, da die technische Lehre des Patentanspruchs 1, der ein Arbeitsverfahren zum Gegenstand hat, nach Merkmal 2 auch durch die Auswahl des Begriffs des Detektierens keine Aussage dazu trifft, welche Vorrichtung zur Durchführung bereit gestellt werden muss, insbesondere nicht, ob bzw. mit welcher Art von Auswahlverfahren zunächst technisch ungeeignete Messkits von denjenigen, welche zur Durchführung des Diagnostizierverfahrens geeignet sind, unterschieden werden.
Ein derart einschränkendes Verständnis der erfindungsgemäßen Lehre und des Begriffs des Detektierens, welches eine gezielte Auswahl nur solcher Assays impliziert, die geeignet sind, Procalcitonin 3-116 spezifisch zu detektieren, findet danach in der allgemeinen technischen Anweisung nach Merkmal 2 und dem Begriff des Detektierens keinen Niederschlag. Auch bietet die Streitpatentschrift nicht ansatzweise einen Anhalt dafür, die erfindungsgemäße Lehre umfasse eine technische Anweisung, welche über die Selbstverständlichkeit hinausgeht, dass das erfindungsgegenständliche Verfahren nur mit einem Messkit durchgeführt werden kann, welches ebenso wie das im Streitpatent genannte und im Stand der Technik verwendete LUMItest® PCT Messkit in der Lage ist, Procalcitonin 3-116 zu erfassen, also zu detektieren.
Selbst wenn der Senat aber annähme, dass Patentanspruch 1 auch die Auswahl eines geeigneten Messkits als Bestandteil des Verfahrens lehrt bzw. impliziert, wäre damit nichts gewonnen. Denn die Behauptung der Beklagten trifft nicht zu, der Fachmann sei erst durch die Erfindung in die Lage versetzt worden, ein diagnostisches Assay zu konstruieren bzw. auszuwählen, welches stets verlässlich jedenfalls auch Procalcitonin 3-116 detektieren könne und daher eine verlässliche Sepsis-Diagnose garantiere. Denn unbestritten stand dem Fachmann bereits im Stand der Technik mit dem LUMItest® PCT Messkit ein solches Verfahren zur Verfügung. Es ist also nicht zu erkennen, worin eine Erkenntnis des Erfinders insoweit seinen Niederschlag in der technischen Anwendung des Detektierens gefunden haben soll.
3.3 Dieses Verständnis wird auch gestützt durch die Patenthistorie, nach der der Begriff „detektiert“ erst aufgrund der Teilanmeldung NiK2 in den Patentanspruch 1 sowie im Verlauf des Prüfungsverfahrens der Teilanmeldung in einen dementsprechend nachträglich formulierten Passus der Patentbeschreibung des Streitpatents aufgenommen wurde (vgl. VP2 sowie NiK1, S. 3 Z. 45–52). In den Beschreibungen der dem Streitpatent zugrunde liegenden Teil-, Stamm- und Prioritätsanmeldung (vgl. NiK2, NiK3, NiK4) kommen weder das Verb „detektieren“ noch das entsprechende Nomen „Detektion“ vor. Lediglich in der Zusammenfassung und in Patentanspruch 1 der europäischen Offenlegungsschrift NiK2 ist der auf ein Diagnostizierverfahren bezogene Passus „bei dem Procalcitonin 3-116 detektiert wird“ enthalten. Statt dessen werden in der Beschreibung des Streitpatents die Begriffe „bestimmen“ und/oder „Bestimmung“ (vgl. NiK1, S. 2 Z. 6/7, 12, 29/30, 35, 40, S. 3 Z. 5/6, S. 4 Z. 7 i. V. m. Fig. 4, Z. 11 i. V. m. Fig. 5, S. 6 Z. 32, 46 und S. 8 Z. 10, jeweils i. V. m. Fig. 4, Fig. 5 und Tab. 3), „nachweisen“, „Nachweis“ und/oder „nachweisbar“ (vgl. NiK1, S. 2 Z. 25/26, 48, 53, S. 5 Z. 1/2) und „Ermittlung der Konzentration“ bzw. „Ermittlung der Immunreaktivität“ (vgl. NiK1, S. 4 Z. 31–33, S. 5 Z. 5) im Zusammenhang mit der Analytik von Procalcitonin und Procalcitonin 3-116 verwendet.
Auch die bloße Beschreibung bzw. Nennung eines stark erhöhten Procalcitonin-Spiegels (vgl. NiK1, z. B. S. 2 Z. 24–39), das (Auf-) Finden von Procalcitonin 3-116 bzw. einer Procalcitonin-Immunreaktivität (vgl. NiK1, S. 3 Z. 7/8, S. 5 Z. 20), das Auftreten von Procalcitonin (vgl. NiK1, S. 3 Z. 10, 15/16) oder das Generieren von Procalcitonin 3-116 (vgl. NiK1, S. 3 Z. 36/37) setzen danach lediglich ein „Detektieren“ bzw. eine „Detektion“ von Procalcitonin und Procalcitonin 3-116 voraus und implementieren deshalb den Begriff „detektiert“ in all seinen nachfolgend gezeigten Bedeutungen.
Wenn danach die Offenbarung und Auslegung der Ursprungsunterlagen weder im Widerspruch zur Offenbarung der Streitpatentschrift stehen noch das so gebotene Verständnis einengen, so ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass es hierauf auch aus rechtlichen Gründen nicht ankommt. Denn nach ständiger Rechtsprechung ist die Auslegung anhand der Patentschrift vorzunehmen und der Offenbarungsgehalt der ursprünglichen Anmeldungsunterlagen darf gerade nicht in Wechselwirkung mit dem erteilten Patentanspruch interpretiert werden; dessen Inhalt ist vielmehr zunächst durch Auslegung anhand des Offenbarungsgehalts der Patentschrift zu ermitteln (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 – X ZR 43/13; GRUR 2015, 875 – Rotorelement) und darf nicht nach Maßgabe des Sinngehalts der Ursprungsunterlagen ausgelegt werden. Grundlage der Auslegung ist vielmehr allein die Patentschrift. Ein Vergleich mit der Veröffentlichung der Patentanmeldung kommt allenfalls dann in Betracht, wenn dies bei Widersprüchen zwischen Beschreibung und Patentanspruch zur Klärung des Umfangs einer bei der Erteilung des Patents oder im Einspruchsverfahren vorgenommenen Beschränkung des geschützten Gegenstands beitragen kann (BGHZ 194, 107 – Polymerschaum, unter Hinweis auf BGH, Urteil vom10. Mai 2011 – X ZR 16/09, BGHZ 189, 330 Rn. 25 – Okklusionsvorrichtung; Urteil vom 4. Februar 2010 – Xa ZR 36/08, GRUR 2010, 602 Rn. 20 – Gelenkanordnung; Senat Urteil vom 12. April 2018, 4 Ni 7/17 (EP) – Polsterumformungsmaschine), weil zweifelhaft bleibt, ob sich Patentanspruch und Beschreibung sinnvoll zueinander in Beziehung setzen lassen (BGH GRUR 2015, 875 – Rotorelemente).
3.4 Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, die übereinstimmend eine enge Auslegung des § 2a Abs. 1 Nr. 2 PatG bzw. Art. 53 lit. c EPÜ vornehmen, für ein dem Patentschutz zugängliches Diagnostizierverfahren, das i. d. R. einen mehrstufigen Charakter aufweist, zumindest ein technischer Verfahrensschritt erforderlich ist, wobei die weiteren nicht-technischen Verfahrensschritte, beispielsweise ärztliche Befunde von Untersuchungen unmittelbar am menschlichen oder tierischen Körper, oder rein gedankliche Verfahrensschritte, nicht zum Patentierungsausschluss führen (vgl. EPA G 1/04 vom 16. Dezember 2005; BGH GRUR 2010, 1081 Rn. 23 – Bildunterstützung bei Katheternavigation).
Die demnach an ein dem Patentschutz zugängliches Diagnostizierverfahren zu stellenden Anforderungen sind vorliegend erfüllt. Insoweit benennt Patentanspruch 1 des Streitpatents aber als (einziges) technisches Merkmal lediglich die Detektion von Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten (Merkmal 2). Damit ist aber nichts anderes als das oben Dargelegte beansprucht.
4. Das gemäß Hilfsantrag 1 beanspruchte Verfahren ist durch das hinzugenommene Merkmal 1.1 „mit Procalcitonin 3-116 als Marker“ näher ausgebildet und insofern mit dem Prädikat eines diagnostischen Markers gekennzeichnet.
4.1 Der Begriff „Marker“ kommt im Streitpatent lediglich in einem einzigen Abschnitt der Beschreibung vor und bezieht sich dabei auf Procalcitonin in einem vorveröffentlichten Fachartikel, wenn es dort heißt: „Die Erkenntnis, dass bei Sepsis nicht das vollständige Procalcitonin 1-116 im Serum von Patienten gefunden wird, sondern ein verkürztes Procalcitonin 3-116, ist schließlich auch von potentiellem Interesse für die Sepsis-Therapie“ (vgl. NiK1, S. 3 Abs. [0012] Z. 7–8). Im Folgenden Satz wird zitiert Eric S. Nylen et al.: „Mortality is increased by procalcitonin and decreased by an antiserum reactive to procalcitonin in experimental sepsis“, Critical Care Medicine 26 (1998) 1001–1006) und ausgeführt, dass „… dass das Sepsis auftretende Procalcitonin nicht nur rein diagnostisch wichtiger Marker ist …“ (vgl. NiK1, S. 3 Abs. [0012] Z. 9–13). Diese Textstelle bezieht sich nicht nur inhaltlich auf das erfinderische Kernthema der Erkenntnis und Bedeutung von Procalcitonin 3-116, sondern steht auch im Kontext der übrigen Beschreibung des Streitpatents, welche den Erfindungsgegenstand erläutert (vgl. NiK1, insbesondere S. 2 Abs. [0008] i. V. m. S. 3 Abs. [0012] Z. 7–8 und S. 3 Abs. [0013] Z. 15–19), so dass der Fachmann zwangsläufig die Erwähnung von Procalcitonin als Marker auch auf Procalcitonin 3-116 liest und deshalb insoweit der Begriff „Marker“ in Verbindung mit Procalcitonin 3-116 als erfindungsgemäß offenbart anzusehen ist.
Insbesondere wegen der Bewertung des vorveröffentlichten Fachartikels im Kontext eines Teils des darauf folgenden Abschnitts der Beschreibung des Streitpatents, wonach die streitpatentgemäße Erkenntnis des Auftretens von Procalcitonin 3-116 die Vermutung nahe lege, dass das im Falle von Sepsis und anderen entzündlichen systemischen Infektionen auftretende und eine aktive Rolle spielende Procalcitonin dieses am Aminoterminus um zwei Aminosäuren verkürzte Procalcitonin 3-116 sein dürfte (vgl. NiK1, S. 3 Abs. [0013] Z. 15–17), wird der Fachmann den auf den Stand der Technik bezogenen Begriff „Marker“ auch für die erfindungsgemäße Lehre des Streitpatents und das neu aufgefundene Procalcitonin 3-116 entsprechend verstehen.
Dies gilt insbesondere deshalb, weil sich im Streitpatent weder eine Definition des Begriffs „Marker“ noch ergänzende Ausführungen oder Erläuterungen anhand synonymer Begriffe, wie (labormedizinischer oder diagnostischer) Indikator oder (labormedizinischer oder diagnostischer) Parameter finden. Demnach wird der Begriff eines (biologischen bzw. Bio-) Markers im Streitpatent in fachüblicher Weise für eine physiologische bzw. im Stoffwechsel eines Organismus gebildete chemische Verbindung als Laborparameter verwendet, deren Konzentration, wie im vorliegenden Fall die Vorläufer des Calcitonin, eine verlässliche Entscheidungsgrundlage für eine medizinische Diagnose eröffnet (vgl. NiK5, S. 2 Z. 3–7; NiK13, S. 329 li. Sp. vorletzter Abs. i. V. m. S. 330 re. Sp. bis S. 332 Abschnitt „Procalcitonin as an Indicator of the Inflammatory Response to Infectious Diseases“ sowie S. 332 re. Sp. letzter Abs. bis S. 333 Artikelende; NiK14, Titel i. V. m. Zusammenfassung). Ein solcher Laborparameter bzw. (Bio-) Marker stellt deshalb die Basis eines Diagnostizierverfahrens – im vorliegenden Fall gemäß Merkmal 1 – dar und gibt damit die Richtung vor für eine optimale Therapie.
4.2 Das Prädikat „Marker“ für die Vorläufer des Calcitonin ist daher nicht nur an eine einfache, schnelle und zuverlässige Bestimmung der Konzentration des Procalcitonin gebunden (vgl. z. B. NiK14, Titel i. V. m. S. 582 re. Sp. „Bestimmungsmethode“ i. V. m. S. 584 li. Sp. vorletzter und letzter Satz, re. Sp. Abs. 1 letzter Satz sowie S. 586 li. Sp. „Fazit“), sondern auch an eine Vergleichbarkeit der in verschiedenen Laboratorien erhaltenen Messwerte. Ein bloßer qualitativer Nachweis reicht daher nicht aus, um einem Stoffwechselprodukt im Kontext eines medizinischen Diagnostizierverfahrens das Prädikat „Marker“ zu verleihen. Dies gilt erst recht für den Fall des bloßen Miterfassens im Zuge eines für das Stoffwechselprodukt, hier das Procalcitonin 3-116, nicht spezifischen immunanalytischen Tests (vgl. hierzu auch VP4, S. 3 Abs. [0014] i. V. m. Anspruch 1 sowie S. 9 Beispiel 3, insbesondere Z. 41–46).
Ein in (biologischem) Gewebe und/oder Körperflüssigkeiten detektierter bzw. nachgewiesener Stoff wird nach diesem gebotenen Verständnis nur dann zu einem (Bio-) Marker, wenn er sich auf zuverlässige Weise spezifisch bestimmen lässt. Die Qualität eines (Bio-) Markers setzt die Ermittlung seiner Konzentration im Gewebe und/oder in Körperflüssigkeiten voraus. Der aufwändige Nachweis von Procalcitonin 3-116 in Seren von Sepsispatienten (vgl. NiK1, Experimenteller Teil A) und eine davon ausgehende Vermutung seiner Funktion (vgl. NiK1 z. B. S. 3 Z. 15–19) reichen für ein solchermaßen fachübliches Verständnis eines (Bio-) Markers ebenso wenig aus wie seine gentechnologische Herstellung (vgl. NiK1, Experimenteller Teil B). Mit anderen Worten erfordert ein so verstandener „Marker“ eine – vergleichsweise einfache – spezifische Detektion seiner Konzentration im labormedizinischen Maßstab.
4.3 Diese Auslegung des Begriffs „Marker“ steht damit im Einklang mit dem allgemeinen Fachverständnis und den an einen Biomarker in der medizinischen Diagnostik zu stellenden Anforderungen (vgl. Schriftsatz der Klägerinnen 1 und 2 vom 3. Mai 2017, S. 16 Mitte, den dort zitierten Wikipedia-Beitrag für „Biomarker“). Sie wird im Übrigen auch dadurch gestützt, dass bei klärender ergänzender Heranziehung der ursprünglichen Anmeldeunterlagen NiK3 und NiK4 – nicht mehr dagegen in den Anmeldeunterlagen der Teilanmeldung NiK2 – auch ein Patentanspruch auf ein Verfahren zur Messung von Procalcitonin 3-116 als indikationsunabhängiger Diagnostikparameter und damit auf einen zu einem diagnostischen Marker synonymen Fachbegriff gerichtet war (vgl. NiK3, NiK4, jeweils Anspruch 10).
5. Der in den Hilfsanträgen 2 und 3 in der Merkmalsgruppe 3
„3) wobei als Kalibrator
3.1) Procalcitonin 1-116,
3.2) Procalcitonin 2-116
und/oder
3.3) Procalcitonin 3-116
verwendet wird.“
verwendete Begriff „Kalibrator“ kommt in der Streitpatentschrift nur in einer aus einem einzigen Satz bestehenden, aus den ursprünglichen Unterlagen unverändert übernommenen Textstelle vor (vgl. NiK1, S. 6 Abs. [0038], sowie NiK2, NiK3, NiK4). Außerdem weisen NiK3 und NiK4 – anders als NiK2 und NiK1 – auch jeweils einen auf den Teilgegenstand der Verwendung des gentechnisch hergestellten Procalcitonin 3-116 als Kalibrator gerichteten Patentanspruch auf (vgl. NiK3, NiK4 jeweils Anspruch 9).
Eine Erläuterung des Fachbegriffs „Kalibrator“ in der Streitpatentschrift findet sich nicht. Dieser Erläuterung bedarf es auch nicht, da der Fachmann aufgrund des Streitpatents und auch seines allgemeinen Fachverständnisses darunter eine chemische Verbindung versteht, die in einem analytischen Test(-verfahren) als Eichsubstanz bzw. Standard regelmäßig zum Einsatz gelangt (vgl. z. B. auch NiK22, S. 615, Eintrag „standard“). Dies gilt insbesondere für immunanalytische Testverfahren und somit auch für den im Streitpatent ausnahmslos verwendeten LUMItest® PCT (vgl. NiK1, S. 4 Z. 31–33 i. V. m. S. 5 Z. 5–7 und Fig. 1, S. 7 Z. 36–37 und S. 8 Z. 9–11 i. V. m. Tab. 3 und Fig. 5) sowie für andere, vor dem Zeitrang des Streitpatents zur quantitativen immunanalytischen Bestimmung von Procalcitonin und anderen Calcitonin-Vorläufersubstanzen – damit zur Bestimmung der Konzentration von Gesamt-Procalcitonin – verwendeten Verfahren (vgl. NiK5, S. 3 Z. 24 bis S. 4 Z. 39 i. V. m. S. 4 Z. 50–52 und S. 3 Z. 48–51; NiK11, Abstract i. V. m. S. 6846 li. Sp. Abschnitt „Development of Monoclonal Immunoradiometric Assays for Either mature Calcitonin or Calcitonin Precursors“, insbesondere letzter Satz; NiK19, S. 642 li. Sp. Abs. „Procalcitonin assay“ insbesondere viertletzter Satz i. V. m. Satz 1; NiK20, S. 303 li. Sp. Abschnitt „Dosage des précurseurs de la calcitonine“ Abs. 1 vorletzter Satz i. V. m. Satz 2).
Die Bedeutung und Funktion eines „Kalibrators“ sind auch unabhängig davon, nach welchem Verfahren (chemisch, enzymatisch und/oder gentechnologisch) die als Kalibrator zum Einsatz gelangende Substanz hergestellt wurde, und in welcher Ausführungsform eines (immun)analytischen Verfahrens ein Kalibrator Verwendung findet.
III.
Patentanspruch 1 nach Hauptantrag
Der Nichtigkeitsangriff der Klägerinnen auf die nach Hauptantrag verteidigte erteilte Fassung des Streitpatents hat Erfolg, da sich das Verfahren gemäß Patentanspruch 1 der erteilten Fassung (Hauptantrag) als nicht neu erweist. Der auf unzulässige Änderung der Anmeldeunterlagen wie auch auf fehlende Ausführbarkeit gerichteten Angriff erweist sich jedoch als unbegründet.
1. Der Nichtigkeitsangriff der Klägerinnen zu 1 bis 3 wegen des Nichtigkeitsgrunds der unzulässigen Erweiterung des Inhalts der Anmeldung nach Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. c EPÜ führt nicht zum Erfolg.
Nach Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IntPatÜbkG ist ein europäisches Patent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären, wenn sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.
1.1 Nach ständiger Rechtsprechung gehört zum Offenbarungsgehalt einer Patentanmeldung nur das, was den ursprünglich eingereichten Unterlagen unmittelbar und eindeutig als zu der zum Patent angemeldeten Erfindung gehörend zu entnehmen ist (BGH GRUR 2015, 573 – Wundbehandlungsvorrichtung, GRUR 2016, 50 – Teilreflektierende Folie). Eine unzulässige Erweiterung liegt erst vor, wenn der Gegenstand des Patents sich für den Fachmann erst aufgrund eigener, von seinem Fachwissen getragener Überlegungen ergibt, nachdem er die ursprünglichen Unterlagen zur Kenntnis genommen hat, so wenn die Hinzufügung einen technischen Aspekt betrifft, der den ursprünglich eingereichten Unterlagen in seiner konkreten Ausgestaltung oder wenigstens in abstrakter Form nicht als zur Erfindung gehörend zu entnehmen ist (BGH GRUR 2013, 809 – Verschlüsselungsverfahren).
Zu berücksichtigen ist, dass das Erfordernis einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung dabei in einer Weise angewendet werden muss, die berücksichtigt, dass die Ermittlung dessen, was dem Fachmann als Erfindung und was als Ausführungsbeispiel der Erfindung offenbart wird, wertenden Charakter hat, und eine unangemessene Beschränkung des Anmelders bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts der Voranmeldung vermeidet (BGH GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal). Innerhalb dieses Rahmens können deshalb – wie vorliegend – die Patentansprüche bis zur Erteilung weiter gefasst werden als in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen (BGH GRUR 2010, 910 – Fälschungssicheres Dokument, m. w. N.).
Zu beachten ist, dass der Fachmann sich nicht nur an dem Wortlaut der Unterlagen orientiert, sondern an dem mit der Erfindung im Hinblick auf die Nachteile des Standes der Technik verfolgten Zweck und an dem Lösungsvorschlag mit seinen Elementen (BGH GRUR 2008, 56 – Injizierbarer Mikroschaum), und dass die Anmeldeunterlagen nach ihrem „objektiven“ Gehalt und dem darin unmittelbar und eindeutig offenbarten allgemeinsten Erfindungsgedanken auszulegen sind. Die etwaigen subjektiven Vorstellungen des Erfinders bzw. Anmelders, wie sie in der Beschreibung oder in den Ausführungsbeispielen zum Ausdruck kommen, sind danach nicht entscheidend, selbst wenn sie vom objektiven Gehalt abweichen sollten (siehe bereits Senat Urteil vom 19. Juni 2015, 4 Ni 4/14 (EP) unter Hinweis auf BGH GRUR 2008, 887 – Momentanpol II).
1.2 Soweit die Klägerinnen zur Begründung darauf abstellen, die ursprünglichen Patentansprüche und die erfindungsgemäße Lehre seien nicht auf ein Verfahren zur Diagnose von Sepsis oder sepsisähnlichen systemischen Infektionen durch Detektion von Procalcitonin 3-116 gerichtet gewesen, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Zwar ist festzustellen, dass sich sowohl in den ursprünglichen Beschreibungen (vgl. NiK2, NiK3, NiK4) als auch in der Beschreibung des Streitpatents (vgl. NiK1) nur wenige Textstellen finden, aus denen sich die Offenbarung eines Diagnostizierverfahrens gemäß Patentanspruch 1 herleiten lässt. Aus diesen wenigen Textstellen ursprünglicher Beschreibungen geht für den fachkundigen Leser jedoch unmittelbar und eindeutig hervor, dass das nach (aufwändiger) Aufarbeitung und (aufwändiger) Analyse erstmals isolierte, identifizierte und damit entdeckte Procalcitonin 3-116 mittels aus dem Stand der Technik bekannter immunanalytischer Verfahren, speziell mittels des LUMItestÒ PCT bestimmt wird (vgl. NiK2, Abs. [0008] i. V. m. S. 4–5 Experimenteller Teil A, insbesondere S. 4 Z. 27–29, S. 4 Z. 55 bis S. 5 Z. 3, S. 7 Z. 33–34, S. 8 Z. 6–8; NiK3, S. 3 letzter Abs. bis S. 4 Z. 4 i. V. m. S. 8–11 Experimenteller Teil A, insbesondere S. 8 letzter Abs. Satz 2, S. 9 letzter Abs. Satz 2 bis S. 10 Z. 4, S. 17 Z. 1–4, S. 18 drittletzter Abs.; NiK4, S. 2 Z. 45–49 i. V. m. S. 3–4 Experimenteller Teil A, insbesondere S. 3 Z. 64–66, S. 4 Z. 27–33, S. 6 Z. 53–58, S. 6 Z. 61–63; sowie NiK1, Abs. [0008] i. V. m. S. 4–5 Experimenteller Teil A, insbesondere S. 4 Z. 31–33, S. 5 Z. 1–8, S. 7 Z. 36–37, S. 8 Z. 9–11).
Danach erfolgt die Detektion von Procalcitonin 3-116 gemäß Merkmal 2 stets mit dem Ziel der Diagnose von Sepsis oder von sepsisähnlichen systemischen Infektionen (vgl. NiK2, Abs. [0008] i. V. m. Abs. [0011] und Abs. [0013] Satz 1; NiK3, S. 3 letzter Abs. bis S. 4 Z. 4 i. V. m. S. 4 vorletzter Abs. und S. 5 Abs. 2 Satz 1; NiK4, S. 2 Z. 45–49 i. V. m. S. 2 Z. 62 bis S. 3 Z. 3 und S. 3 Z. 12–16; sowie NiK1, Abs. [0008] i. V. m. Abs. [0011] und Abs. [0013] Satz 1) und ist deshalb im Kontext eines Diagnostizierverfahrens gemäß Merkmal 1 zu verstehen.
Zugleich ergibt sich damit und aus dem Gesamtkontext der ursprünglichen Anmeldungen (vgl. NiK2, NiK3) unter anderem auch die Lehre, im Gesamt-Procalcitonin enthaltenes, um die beiden N-terminalen Aminosäuren verkürztes Procalcitonin 3-116 mittels des handelsüblichen LUMItests mitzuerfassen und damit im Sinne des Merkmals 2 zu detektieren und aufgrund der demnach im Blut von Patienten gemessenen Konzentrationen von Gesamt-Procalcitonin, die sich aufgrund der Anwendung gleicher bzw. vergleichbarer Messverfahren nicht von Messwerten vor dem Zeitrang des Streitpatents unterscheiden, ein Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1 auszuführen.
Dabei bedeutet Ausführen eines Diagnostizierverfahrens gemäß Merkmal 1 im Kontext des Merkmals 2 nichts anderes, als ein in labormedizinischer Hinsicht praktikables immunanalytisches Verfahren zur Ermittlung der Konzentration an Gesamt-Procalcitonin in einer Probe aus dem Blut eines Patienten einzusetzen, nicht jedoch einen für die labormedizinische Diagnostik unbrauchbaren, weil sehr kosten- und zeitaufwändigen Nachweis von Procalcitonin 3-116 in einer Sammelprobe von Sepsispatienten gemäß dem experimentellen Teil A der Beschreibung des Streitpatents zu führen.
Lediglich eine spezifische und differenzierte Bestimmung der Konzentration von Procalcitonin 3-116 (vgl. hierzu gutachtlich NiK10) würde eine Diagnosestellung anhand von Procalcitonin 3-116 ermöglichen. Eine solche Lehre ist aber im Streitpatent auch nicht als erfindungsgemäß offenbart und wäre zudem – wie noch auszuführen sein wird – im Zeitpunkt der Anmeldung nicht ausführbar gewesen. Sie steht aber auch zwischen den Parteien als erfindungsgemäß nicht zur Diskussion.
1.3 Dass der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1, hier das anspruchsgemäße Diagnostizierverfahren, nicht bereits in den ursprünglichen Unterlagen der Stammanmeldung NiK3 beansprucht worden war, ist unerheblich, da ursprüngliche Patentansprüche nur Formulierungsvorschläge sind, die im Verlauf des Prüfungsverfahrens im Rahmen der ursprünglichen Gesamtoffenbarung geändert werden können und der Anmelder den gesamten Offenbarungsgehalt der Voranmeldung ausschöpfen darf (BGH GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal), innerhalb dessen deshalb Patentansprüche weiter gefasst werden können als in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen (BGH GRUR 2010, 910 – Fälschungssicheres Dokument, m. w. N.).
2. Auch soweit die Klägerin zu 3 ihren Nichtigkeitsangriff auf fehlende Ausführbarkeit des Streitpatents nach Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. b EPÜ gestützt hat, ist die Klage ohne Erfolg. Denn das Patent offenbart die Erfindung so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
2.1 Der Senat sieht bereits ansatzweise keine Umstände für eine fehlende Ausführbarkeit der richtig verstandenen Lehre des Streitpatents: Dass der Fachmann nicht ohne erfinderisches Zutun und ohne unzumutbare Schwierigkeiten in der Lage war, die Lehre des erteilten Patentanspruchs auf Grund der Gesamtoffenbarung der Patentschrift in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmelde- oder Prioritätstag praktisch so zu verwirklichen, dass der angestrebte Erfolg erreicht wird (BGH, Urteil vom 4. Oktober 1979 – X ZR 3/76, GRUR 1980, 166, 168 – Doppelachsaggregat; Urteil vom 11. Mai 2010 – X ZR 51/06, GRUR 2010, 901 Rn. 31 – Polymerisierbare Zementmischung), hat die Klägerin zu 3 nur ausgehend von ihrem Verständnis der erfindungsgemäßen Lehre geltend gemacht, nämlich Procalcitonin 3-116 in Serumproben spezifisch und selektiv nachzuweisen. Hierauf ist aber die angegriffene Lehre gerade bei der gebotenen Auslegung der angegriffenen Patentansprüche nicht festgelegt, wenn auch die Lehre eine solche spezifische Detektion umfasst.
2.2 Dass unter anderem eine solche spezifische Detektion ebenfalls von der Lehre nach Patentanspruch 1 umfasst und unter Schutz gestellt ist, führt ebenfalls nach ständiger nationaler Rechtsprechung nicht zum Erfolg der Klage. Denn nach ständiger nationaler Rechtsprechung ist jedenfalls bei erteilten Patenten (vgl. hierzu BGHZ 184, 300 = GRUR 2010, 414 – Thermoplastische Zusammensetzung; Senat GRUR 2013, 487 – Fixationssystem) zur Beurteilung eines hierauf gerichteten Angriffs auf den Bestand des Patents eine Ausführbarkeit der patentierten Lehre über die gesamte Anspruchsbreite nicht erforderlich, wie es auch nicht erforderlich ist, dass alle denkbaren unter den Wortlaut des Patentanspruchs fallenden Ausgestaltungen ausgeführt werden können. Die Grenze ist erst dort zu ziehen, wo die dem Fachmann an die Hand gegebene Lösung so weit verallgemeinert wird, dass der Patentschutz über den Beitrag der Erfindung zum Stand der Technik hinausgeht (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – X ZR 17/16; Urteil vom 7. Oktober 2014 – X ZR 168/12; GRUR 2013, 1210 – Dipeptidyl-Peptidase-Inhibitoren; BGHZ 184, 300 = GRUR 2010, 414 – Thermoplastische Zusammensetzung; GRUR 2010, 901, 903 – Polymerisierbare Zementmischung; GRUR 2003, 223 – Kupplungsvorrichtung II).
Auch darf die Rechtsfrage der Ausführbarkeit der in einem Patentanspruch umschriebenen technischen Lehre nicht mit der Erreichbarkeit derjenigen Vorteile gleichgesetzt werden, die der Erfindung möglicherweise in der Beschreibung zugeschrieben werden. Ausführbar ist die Lehre vielmehr grundsätzlich bereits dann, wenn der Fachmann mit Hilfe seines Fachwissens in der Lage ist, den in den Sachansprüchen beschriebenen Gegenstand herzustellen und diejenigen Verfahrensschritte auszuführen, die in den Verfahrensansprüchen bezeichnet sind (BGH GRUR 2015, 472 – Stabilisierung der Wasserqualität), oder dem Fachmann mit dem Patentanspruch ein generelles Lösungsschema an die Hand gegeben wird (BGH, Urteil vom 8. Juni 2010 – X ZR 71/08 m. w. N.) oder er die in der Beschreibung an die Hand gegebene Lösung verallgemeinert (BGH GRUR 2013, 1210 – Dipeptidyl-Peptidase-Inhibitoren).
2.3 Selbst wenn demnach zu berücksichtigen ist, dass die erfindungsgemäße Lehre umfasst
- das unspezifische Detektieren von Procalcitonin 3-116 durch herkömmliche, gegebenenfalls handelsübliche immunanalytische Tests zur Bestimmung der Konzentration von Gesamt-Procalcitonin in einer Probe aus dem Blut eines Patienten im Sinne des bloßen Miterfassens von Procalcitonin 3-116 als mengenmäßig unbestimmter Anteil an dem Gesamt-Procalcitonin,
- das spezifische Detektieren im Sinne der Isolierung und Identifizierung von Procalcitonin 3-116 gemäß dem experimentellen Teil A des Streitpatents in einer (Sammel-) Probe aus dem Blut eines Patienten,
- das spezifische Detektieren von Procalcitonin 3-116 im Sinne der selektiven Bestimmung seiner Konzentration in einer Probe aus dem Blut eines Patienten,
ist dennoch eine Ausführbarkeit der Lehre des erteilten Patentanspruchs 1 anzuerkennen, auch wenn sich – wie noch ausgeführt wird – das spezifische Detektieren von Procalcitonin 3-116 als nicht ausführbar erweist.
2.3.1 Denn jedenfalls die Lehre eines Miterfassens bzw. unspezifischen Detektierens von Procalcitonin 3-116 bei der Bestimmung der Konzentration bzw. der Immunaktivität von Gesamt-Procalcitonin ist unter Berücksichtigung der Beschreibung des Streitpatents unzweifelhaft und auch unbestritten ausführbar.
Das Miterfassen bzw. unspezifische Detektieren von Procalcitonin 3-116 bei der Bestimmung der Konzentration bzw. der Immunreaktivität von Gesamt-Procalcitonin ist sowohl in dem experimentellen Teil A (vgl. NiK1, S. 4 Z. 31–33) als auch in anderen Textstellen des Streitpatents mittels des zum Prioritätszeitrang im Handel erhältlichen LUMItest® PCT beschrieben und damit so deutlich und vollständig offenbart, dass hinsichtlich der Ausführbarkeit für einen Fachmann keine Bedenken bestehen. Denn dieser handelsübliche immunanalytische Test bedient sich dem Fachmann geläufiger Grundoperationen bzw. Arbeitsweisen der biochemisch-immunologischen Analytik und ist damit auch ohne weitere Angaben und experimentelle Einzelheiten durchführbar. Die auf diese Weise ermittelte Konzentration an Gesamt-Procalcitonin, die das im Blut eines Patienten vorhandene Procalcitonin 3-116 umfasst, wird als Messwert zum Erstellen einer Diagnose gemäß Merkmal 1 im Rahmen eines i. d. R. mehrstufigen Diagnostizierverfahrens herangezogen.
2.3.2 Ausführbar, wenngleich wenig praktikabel ist auch die umfasste Lehre einer spezifischen Detektion von Procalcitonin 3-116 durch dessen Identifizierung nach aufwändiger Aufarbeitung aus dem Blut eines Patienten, entsprechend des nacharbeitbar beschriebenen experimentellen Teils A des Streitpatents. Für diese Art der spezifischen Detektion bedarf es allerdings einer zeit- und kostenintensiven Aufarbeitung einer Sammelprobe aus Seren mehrerer Sepsispatienten, nebst diese Aufarbeitung begleitender nicht-spezifischer Immunanalytik mittels des LUMItest® PCT sowie einer umfangreichen und kostenintensiven Analytik des gereinigten und isolierten Procalcitonin 3-116 durch MALDI-TOF und N-terminale Sequenzanalyse durch Edman-Abbau (vgl. NiK1, S. 4–5 Experimenteller Teil A, insbesondere S. 5 Z. 8–27). Anders als im experimentellen Teil A des Streitpatents mit einem Volumen von 68 ml einer Sammelprobe wäre in der täglichen labormedizinischen Praxis, ein für eine zeitnahe Routinediagnostik und damit für ein Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1 nicht praktikabler Aufwand für die Aufarbeitung und Analyse erforderlich, zumal dort bei wesentlich kleineren Blutprobenvolumina für jeweils eine einzige Serumprobe eines Patienten, nicht nur ein qualitativer Nachweis entsprechend dem experimentellen Teil A, sondern vor allem eine quantitative Detektion der Konzentration von Procalcitonin 3-116 erforderlich ist.
2.3.3 Als nicht ausführbar erweist sich damit lediglich die – im Streitpatent auch nicht beschriebene – Lehre einer spezifischen und selektiven Detektion von Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten im Sinne einer quantitativen und gegenüber Procalcitonin 1-116 und/oder Gesamt-Procalcitonin differenzierten Bestimmung. Diese mangels verfügbarer, für Procalcitonin 3-116 selektiver (monoklonaler) Antikörper zum Zeitpunkt der Anmeldung des Streitpatents bzw. der Prioritätsschrift nicht ausführbare Lehre betrifft nicht nur die quantitative und selektive Bestimmung durch einen geeigneten selektiven immunanalytischen Test, der erst später entwickelt wurde (vgl. hierzu auch die gutachtlich zu bewertende nachveröffentlichte NiK10), sondern auch die Messung bzw. Bestimmung von Procalcitonin 3-116 durch Immunadsorption gemäß Patentanspruch 10 der Anmeldungen NiK3 und NiK4, aus denen das Streitpatent hervorgegangen ist. Deswegen offenbart das Streitpatent auch kein nacharbeitbares, auf einer spezifischen und selektiven Detektion von Procalcitonin 3-116 basierendes Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1.
2.3.4 Wenn dem Vorbringen der Klägerin zu 3 damit zwar insoweit beizutreten ist, dass weder im Streitpatent noch im Stand der Technik bis zum Anmelde- bzw. Prioritätstag des Streitpatents ein Verfahren beschrieben ist, um Procalcitonin 3-116 in einer Probe aus dem Blut eines Patienten spezifisch und selektiv im Zuge eines in labormedizinischer Hinsicht praktikablen Diagnostizierverfahrens zu bestimmen (vgl. hierzu gutachtlich NiK10), so reicht dies nicht aus, um der Lehre des erteilten Patentanspruchs 1 in der breitesten Form der Erfindung, die insbesondere auch das bloße Miterfassen des Procalcitonin 3-116 als Teil der Konzentration bzw. der Immunaktivität an Gesamt-Procalcitonin im handelsüblichen LUMItest® PCT umfasst, die Ausführbarkeit abzusprechen. Denn wenn auch die Lehre des erteilten Patentanspruchs 1 insoweit eine partielle Unausführbarkeit darstellt, wird nicht die durch das Streitpatent insgesamt geschützte Lehre über die erfindungsgemäße, dem Fachmann in der Beschreibung an die Hand gegebene Lösung hinaus derart verallgemeinert, dass der mit dem Patentanspruch gewährte Patentschutz über seinen Beitrag zum Stand der Technik hinausgeht und ein Schutz gewährt wird, zu dessen Erschließung die Erfindung keinen Beitrag leistet und damit eine ungerechtfertigte Monopolisierung begründet bzw. eine unangemessene Belohnung der erfinderischen Leistung darstellt (BGHZ 184, 300 = GRUR 2010, 414 – Thermoplastische Zusammensetzung; BGHZ 195, 364 – Neurale Vorläuferzellen II; vgl. auch BGH Urteil vom 10. November 2015, X ZR 88/13 und BGH Urteil vom 7. Oktober 2014, X ZR 168/12).
Eine weite Auslegung des Merkmals 2 im Kontext des Merkmals 1 in der Bedeutung und nach dem Verständnis des Miterfassens von Procalcitonin 3-116 zusammen mit anderen Vorläufersubstanzen des Calcitonin, insbesondere Procalcitonin 1-116, unter dem immunanalytischen Messwert von (Gesamt-) Procalcitonin steht im Einklang sowohl mit der ursprünglichen Offenbarung als auch mit der Streitpatentschrift mit der Folge, dass die Lehre des Patentanspruchs 1 in dieser weiten Auslegung – wie vorstehend im Einzelnen dargelegt – zwar ursprünglich offenbart und ausführbar ist, jedoch gegenüber dem Stand der Technik und dem darin zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Erkrankungen und damit in einem Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1 eingesetzten immunanalytischen Test – wie nachstehend im Einzelnen dargelegt – nicht mehr neu ist.
Bei enger Auslegung des Merkmals 2 in der Bedeutung und nach dem Verständnis einer spezifischen und gegenüber anderen Vorläufersubstanzen des Calcitonin differenzierten Detektion von Procalcitonin 3-116 ist ein Diagnostizierverfahren gemäß Patentanspruch 1 sowohl in den ursprünglichen Unterlagen als auch im Streitpatent nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann es in einer labormedizinisch praktikablen Art und Weise ausführen kann.
3. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 erweist sich als nicht neu nach Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a, Art. 54 EPÜ gegenüber denjenigen Druckschriften mit früherem Zeitrang, in denen die Messung von Procalcitonin und anderen Vorläufersubstanzen des Calcitonin zum Zweck der Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen beschrieben ist und bei dieser Messung – wenngleich unerkannt – auch Procalcitonin 3-116 als eine unter mehreren Vorläufersubstanzen des Calcitonin miterfasst wird. Dies trifft insbesondere für die NiK5 oder die NiK6 zu, in denen jeweils mittels des bereits aus NiK11 bekannten immunanalytischen Tests neben nativem Procalcitonin 1-116 auch sämtliche mittels dieses Tests erfassbaren Calcitonin-Vorläufer und damit unter anderem und zwangsläufig auch Procalcitonin 3-116 als Bestandteil des Gesamtmesswertes der Procalcitonin-Immunreaktivität mitbestimmt und damit im Wortsinn der Lehre des Streitpatents detektiert werden.
3.1 Aus der vorveröffentlichten NiK5 sowie aus deren Familienmitglied NiK6 geht hervor, dass in einem Verfahren zur Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen (vgl. NiK5 und NiK6, jeweils Bezeichnung i. V. m. Anspruch 1 sowie Tab. 1 Z. 2 – Merkmal 1) mittels eines bereits vorbeschriebenen Tests (vgl. NiK5, S. 4 Z. 50–52; NiK6, S. 11 letzter Abs.; darin jeweils zitiert NiK11) nicht nur Procalcitonin 1-116, sondern auch weitere proteolytische Abbauprodukte des aus einer Sequenz von 141 Aminosäuren bestehenden Präprocalcitonin in Summe und damit undifferenziert bestimmt werden (vgl. NiK5, S. 2 Z. 62 bis S. 3 Z. 51, insbesondere S. 3 Z. 7–13 sowie Z. 32–36; NiK6, S. 4 Abs. 2 bis S. 8 Abs. 1, insbesondere S. 4 vorletzte Z. bis S. 5 Abs. 1 sowie S. 6 Z. 8–14). Dabei wird explizit ausgeführt, dass auch ggf. weitere existierende Varianten mit vergleichbarer Immunreaktivität bestimmt werden (vgl. NiK5, S. 3 Z. 10–11; NiK6, S. 5 Z. 4–6). Gemeint sind solche Abbauprodukte des Präprocalcitonin bzw. des Procalcitonin, die im betreffenden, auf das Vorhandensein der Aminosäuren 96-107 und 70-76 des Procalcitonin ansprechenden Immunassay erfasst werden (vgl. NiK5, S. 3 Z. 24–51, insbesondere Z. 24–36 i. V. m. S. 3 Z. 5–7; NiK6 S. 5 letzter Abs. bis S. 8 Abs. 1, insbesondere S. 5 letzter Abs. bis S. 6 Z. 14 i. V. m. S. 4 sechstletzte Z. bis vorletzte Z.).
Den Beleg für das Miterfassen von Procalcitonin 3-116 bei der Ausführung der vor dem Zeitrang des Streitpatents vorbeschriebenen und damit bereits bekannten immunanalytischen Tests liefern die wissenschaftlichen Erläuterungen in der NiK5 und NiK6. Demnach beruht das Erfassen von Procalcitonin und anderen nahe verwandten Peptiden bzw. Varianten mit vergleichbarer (Immun-) Reaktivität insbesondere durch den in NiK11 beschriebenen und in NiK5 und NiK6 verwendeten monoklonalen Radioimmunassay (vgl. NiK5, S. 3 Z. 7–13; NiK6, S. 4 vorletzte Z. bis S. 5 Abs. 1) auf einem als herkömmlicher Sandwich ausgebildeten immunanalytischen Verfahren, in dem sowohl monoklonale anti-Katacalcin Antikörper als auch monoklonale anti-Calcitonin Antikörper als Reagenzien verwendet werden und damit Calcitonin selbst nicht miterfasst wird (vgl. NiK5, S. 3 Z. 24–51; NiK6, S. 5 letzter Abs. bis S. 8 Abs. 1). Denn der monoklonale anti-Katacalcin Antikörper ist selektiv für die außerhalb der Calcitoninsequenz liegende Region bzw. Bindungsstelle des Katacalcins, die auch in sämtlichen Vorläufersubstanzen des Calcitonin, nicht jedoch im Calcitonin selbst enthalten ist, während der monoklonale anti-Calcitonin Antikörper selektiv an eine Region bzw. Bindungsstelle innerhalb der Calcitoninsequenz bindet. Damit wird bewirkt, dass die im Sandwich-Test erfassten Peptide zwingend sowohl die Katacalcin- als auch die Calcitonin-Sequenz aufweisen und – darüber hinaus – sämtliche erfassten Peptide hinsichtlich ihres Aminoterminus bzw. ihrer aminoterminalen Sequenz „unempfindlich“ sind, das heißt neben Procalcitonin 1-116 auch beliebige andere Vorläufersubstanzen des Calcitonin erfassen, soweit diese – auch – die Katacalcinsequenz aufweisen und damit verschieden von Calcitonin sind (vgl. NiK5, S. 3 Z. 24–36; NiK6, S. 5 letzter Abs. bis S. 6 Abs. 1). Dieser in NiK5 und NiK6 beschriebene Sachverhalt ist in der dort jeweils zitierten NiK11 (vgl. NiK5, S. 3 Z. 48–51; NiK6, S. 8 Abs. 1) graphisch dargestellt (vgl. NiK11, S. 6846 li. Sp. Fig. 1).
Darüber hinaus wird in NiK5 und in NiK6 auch auf die Anwendbarkeit anderer immunanalytischer Verfahren hingewiesen (vgl. NiK5, S. 4 Z. 15–26; NiK6, S. 9 vorletzte Z. bis S. 10 Abs. 1), wobei als Beispiel die Kombination von mono- oder polyklonalen Antikörpern gegen die Aminosäuren 51 bis 57 des Procalcitonin 1-116 bzw. des N-terminalen Spaltpeptids N-Procalcitonin 1-57 zusammen mit den markierten monoklonalen Antikörpern gegen die Calcitonin-Sequenz genannt ist. Im Falle des Einsatzes von Antikörpern gegen die Region der Aminosäuresequenz 51 bis 57 werden sämtliche Calcitonin-Vorläufer erfasst, unabhängig davon, welche N-terminale Aminosäuresequenz sie aufweisen, also sowohl das native Procalcitonin 1-116 als auch das um das aminoterminale Dipeptid Ala-Pro verkürzte Procalcitonin 3-116 als natürlich auftretendes proteolytisches Abbauprodukt. Dieser bereits aus dem Stand der Technik zu entnehmende und dem Fachwissen zuzurechnende Sachverhalt wird darüber hinaus durch die gutachtlich zu wertende nachveröffentlichte NiK10 bestätigt, deren Erstautor zudem Miterfinder des Streitpatents ist (vgl. NiK10, insbesondere S. 1672 li. Sp. Abschnitt „Background“ i. V. m. S. 1678 re. Sp. Abs. 2 Z. 3–4). Auch die im Streitpatent ausgesprochene Vermutung, dass das im Falle von Sepsis und anderen entzündlichen systemischen Infektionen auftretende und eine aktive Rolle spielende Procalcitonin das am Aminoterminus um zwei Aminosäuren verkürzte Procalcitonin 3-116 sein dürfte (vgl. NiK1, S. 3 Abs. [0013] Z. 15–17), wird in der NiK10 dahingehend präzisiert, dass Procalcitonin 1-116 nicht ausschließlich, sondern gemeinsam mit Procalcitonin 3-116 auftritt, und beide Molekülspezies im herkömmlichen Procalcitonin-Assay als Bestandteile des Gesamt-Procalcitonin erfasst werden (vgl. NiK10, zusätzlich insbesondere S. 1678 Fig. 5).
Zwar werden die proteolytische Bildung des Procalcitonin 3-116 sowie dessen Erfassen im immunanalytischen Test weder in NiK5 noch in NiK6 expressis verbis beschrieben. Für die Erfüllung des Merkmals 2 des streitpatentgemäßen Verfahrens genügt jedoch, dass die Aminosäuresequenz des Procalcitonin 3-116 in den bereits vor dem Zeitrang des Streitpatents bekannten Strukturen des Präprocalcitonin und des Procalcitonin 1-116 enthalten und damit vollständig vorgebildet ist, mit der Folge, dass Procalcitonin 3-116 im Falle seines Auftretens im Gemisch mit anderen proteolytischen Abbauprodukten des Präprocalcitonin und des Procalcitonin 1-116 mittels der verfügbaren immunanalytischen Tests – wie im vorangehenden Absatz dargelegt – zwangsläufig miterfasst wird.
3.2 Die Bestimmung von Procalcitonin und anderen proteolytischen Abbauprodukten des Präprocalcitonin bzw. der Calcitonin-Vorläufersubstanzen in einem Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1 und damit das Miterfassen bzw. unspezifische Detektieren von Procalcitonin 3-116 geht darüber hinaus auch aus den vorveröffentlichten NiK19 und NiK20 hervor – darin jeweils durch die Bezugnahme auf einen immunanalytischen Test auf Grundlage von NiK11 (vgl. NiK19, Abstract i. V. m. S. 644 li. Sp. Abs. 2, S. 644 li. Sp. letzter Abs. bis re. Sp. Artikelende, sowie S. 642 li. Sp. Abschnitt „Procalcitonin assay“ Satz 1; NiK20, S. 302 Abschnitte „Résumé“ und „Summary“ i. V. m. insbesondere Fig. 1 bis 4, S. 306 li. Sp. Abs. 1, S. 306 re. Sp. letzter Abs. sowie S. 303 li. Sp. Abschnitt „Dosage des précurseurs de la calcitonine“ Abs. 1 etwa Mitte „... adaptée ... par Ghillani et al. …“) –, so dass auch diese beiden Druckschriften – entsprechend der Bewertung von NiK5 und NiK6 in Abschnitt 3.1 – dem streitpatentgemäßen Diagnostizierverfahren neuheitsschädlich entgegenstehen.
3.3 Nicht neuheitsschädlich erweist sich allerdings die NiK11. In dem Bestimmungsverfahren der in NiK5, NiK6, NiK19 und NiK20 zitierten NiK11 wird Procalcitonin 3-116, wenngleich unerkannt, im Zuge des darin beschriebenen Aufarbeitungsverfahrens in der Summe der Calcitonin-Vorläufer CT-pr zwangsläufig miterfasst (vgl. NiK11, Fig. 2 i. V. m. S. 6846 li. Sp unten bis re. Sp Abs. 1 Abschnitt „Affinity Chromatographies“, sowie S. 6847 re. Sp. Abs. 2, darin insbesondere „... we separated biosynthetic CT precursors from CT in serum of a given MCT patient ...“). Demnach können Vorläufersubstanzen des Calcitonin getrennt von Calcitonin bestimmt werden, wobei nicht nur immunreaktive Produkte mit einem Molekulargewicht von etwa 14 kD (etwas höher als der theoretische Wert von etwa 13 kD für Procalcitonin 1-116), sondern auch von anderen biosynthetischen Zwischenstufen, etwa mit 8 kD mittels des Radioimmunassay m-IRMA erfasst werden (vgl. NiK11, S. 6849 re. Sp. letzte Z. bis S. 6850 li. Sp. Abs. 2, insbesondere S. 6849 re. Sp. letzte Z. bis S. 6850 li. Sp. Z. 4 sowie S. 6850 li. Sp. Abs. 2 vorletzter und letzter Satz).
Die insoweit in NiK11 beschriebene Affinitätschromatographie unterscheidet sich nicht, jedenfalls nicht wesentlich von dem affinitätschromatographischen Verfahrensschritt des experimentellen Teils A des Streitpatents (vgl. NiK1, S. 4 Z. 30–40, insbesondere Z. 35 i. V. m. Z. 36–40), der als Grundlage für den ursprünglich formulierten Patentanspruch 1 diente (vgl. NiK2, Anspruch 1 i. V. m. S. 4 Z. 26–36, insbesondere Z. 31 i. V. m. Z. 32–36), und belegt damit letztlich das Miterfassen von Procalcitonin 3-116 in dem immunanalytischen Verfahren gemäß NiK11, das wiederum in NiK5, NiK6, NiK19 und NiK20 verwendet wird. Daraus ergibt sich, dass im Patientenblut in mehr oder minder hoher Konzentration zwangsläufig enthaltene Vorläufersubstanzen des Calcitonin, darunter insbesondere das Procalcitonin 1-116 sowie – vor dem Zeitrang des Streitpatents unerkannt – auch das Procalcitonin 3-116 mittels eines für Vorläufersubstanzen des Calcitonin spezifischen (Bindungs-) Reagenzes erfasst werden, sowohl in analytischer Hinsicht als auch zwecks Reinigung und Isolierung. Denn in technisch-wissenschaftlicher Hinsicht gilt der Grundsatz, dass gleiche bzw. vergleichbare Arbeitsweisen regelmäßig zu gleichen bzw. vergleichbaren Ergebnissen führen.
Allerdings nimmt die NiK11 dadurch das streitpatentgemäße Verfahren noch nicht vorweg, da in NiK11 Procalcitonin 1-116 und andere Vorläufersubstanzen des Calcitonin nicht zum Zweck der Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen, sondern bei verschiedenen Krebserkrankungen bestimmt werden.
3.4 Der Verweis der Beklagten auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs GRUR 2016, 1027 – Zöliakiediagnoseverfahren (vgl. VP3) und GRUR 2017, 493 – Borrelioseassay (vgl. VP7) sowie auf eine Kommentierung des Urteils BGH-Zöliakiediagnoseverfahren (vgl. VP9) führt zu keiner anderen Bewertung.
Zwar betreffen auch diese beiden BGH-Entscheidungen – ebenso wie der vorliegende Streitgegenstand – das Gebiet der Immundiagnostik. Der dortige Erfindungsgegenstand lag jedoch in dem erstmaligen Auffinden und der erstmaligen Bereitstellung der bis dahin in ihrer Struktur unbekannten jeweiligen Antigene als diagnostische Reagenzien zur Bestimmung von in ihrer Struktur ebenfalls unbekannten (Auto-) Antikörpern in Patientenseren. Im Gegensatz dazu waren im vorliegenden Streitfall nicht nur sowohl die Reagenzien (monoklonale Antikörper) als auch der zu bestimmende Analyt Procalcitonin und mehrere seiner proteolytischen Spaltprodukte bereits in ihrer Funktion bekannt, sondern sogar ein dementsprechender diagnostischer Test im Handel erhältlich.
So wird im streitpatentgemäßen Diagnostizierverfahren mittels eines bereits handelsüblichen Immuntests (LUMItest® PCT – vgl. VP13) in einem sogenannten Sandwich-Verfahren unter Verwendung zweier monoklonaler Antikörper als Reagenzien (vgl. VP13) die Konzentration des körpereigenen Prohormons Procalcitonin (Analyt) bestimmt (vgl. NiK1, S. 4 Z. 31–33), während demgegenüber sowohl in BGH-Zöliakiediagnoseverfahren als auch in BGH-Borrelioseassay die vom Patienten gebildeten Autoantikörper, also Immunglobuline des Typs IgG und/oder IgA, den bzw. die Analyten und damit die nachzuweisende(n) Substanz(en) darstellen, die mittels den bis dahin unbekannten Reagenzien Gewebstransglutaminase (tTG) als Autoantigen der Zöliakie einerseits und vlsE (variable lipoprotein surface-exposed protein) als für Borrelia-Infektionen spezifisches Fremd-Antigen andererseits bestimmt werden (vgl. EP 0 912 898 B1, Ansprüche 1 bis 3 sowie 7 i. V. m. S. 4 Z. 34–41; EP 0 894 143 B2, Anspruch 16 i. V. m. Ansprüche 8 und 9).
Die Entscheidungen BGH-Zöliakiediagnoseverfahren und BGH-Borrelioseassay sind insbesondere wegen des unterschiedlich gelagerten technischen Sachverhalts nicht präjudizierend für den vorliegenden Streitfall. Denn das streitpatentgemäße Diagnostizierverfahren basiert – anders als im Fall BGH-Zöliakiediagnoseverfahren – gerade nicht auf dem Einsatz und damit nicht auf der Verwendung des erstmals im Blut von Sepsispatienten aufgefundenen Procalcitonin 3-116 als Reagenz.
Auch die Bezugnahme der Beklagten auf die Ausführungen zur Neuheit des Zöliakiediagnoseverfahrens in VP9 führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn im vorliegenden Streitpatent wird lediglich die Entdeckung und Isolierung des sich bei Sepsis im Blut bildenden Stoffwechselproduktes Procalcitonin 3-116 beschrieben, jedoch keine Lehre offenbart, um diese Entdeckung in einem Verfahren zur Diagnose von Sepsis mit Procalcitonin 3-116 als Analyt gezielt und selektiv zu verwerten. Das vorliegende Streitpatent verwendet lediglich und ausschließlich das herkömmliche und handelsübliche, durch den Einsatz bereits bekannter Reagenzien gekennzeichnete Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1, nicht jedoch das in dem Schlusssatz des betreffenden Abschnitts der VP9 geforderte Verfahren zum Nachweis eines bestimmten Stoffes, hier des Procalcitonin 3-116, im Sinne seiner selektiven Identifizierbarkeit. Denn das Streitpatent lehrt nicht ein zur Identifizierung von Procalcitonin 3-116 erforderliches selektives Reagenz und damit im Gegensatz zur Lehre einer Gewebe-Transglutaminase des Zöliakiediagnoseverfahrens nicht annähernd Vergleichbares.
IV.
Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 1
Das Streitpatent hat auch in der Fassung nach Hilfsantrag 1 und dem hinzugefügten Merkmal 1.1 „mit Procalcitonin 3-116 als Marker“ keinen Bestand, da sich diese Anspruchsfassung bereits als unzulässig erweist und deshalb das Streitpatent nicht in dieser Fassung beschränkt verteidigt werden kann.
1. Soweit die Klägerinnen geltend gemacht haben, dass der von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 7. August 2018 eingereichte Hilfsantrag 1 als verspätet gemäß § 83 Abs. 4 PatG zurückzuweisen sei, ist dem nicht zu folgen.
Die durch das 2009 in Kraft getretene Patentrechtsmodernisierungsgesetz (PatRModG) erfolgte Neufassung des § 83 PatG und die damit in das Nichtigkeitsverfahren eingeführten Präklusionsregeln sehen grundsätzlich die Möglichkeit vor, verspätetes Vorbringen zurückzuweisen. Voraussetzung hierfür ist nach § 83 Abs. 4 PatG, dass das Vorbringen unter Versäumung der nach § 83 Abs. 2 PatG gesetzten Frist erfolgt, die betroffene Partei die Verspätung nicht genügend entschuldigt und die Berücksichtigung des neuen Vortrags eine Vertagung des Termins zur mündlichen Verhandlung erfordert hätte. Insbesondere ist hierfür stets erforderlich, dass der neue Vortrag tatsächliche oder rechtliche Fragen aufkommen lässt, die unmittelbar in der mündlichen Verhandlung nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu klären sind (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Modernisierung des Patentrechts, BlPMZ 2009, 307, 315; BPatG, Urteil vom 20. November 2012, 3 Ni 20/11 (EP); Urteil vom 29. November 2012, 2 Ni 7/11 (EP); Urteil vom 15. Januar 2013, 4 Ni 13/11 – Dichtungsring; Urteil vom 12. November 2013, 4 Ni 53/11 (EP) – Abdeckung für eine Kühlhandelswarenlagereinheit). Kann das an sich verspätete Vorbringen dagegen noch ohne weiteres in die mündliche Verhandlung einbezogen werden, ohne dass es zu einer Verfahrensverzögerung kommt, liegen die Voraussetzungen für eine Zurückweisung nach § 83 Abs. 4 PatG nicht vor (vgl. BPatG, Urteil vom 10. März 2016 – 4 Ni 12/13 (EP), Rn. 147, juris).
Vorliegend konnte der von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 7. August 2018 überreichte neue Hilfsantrag 1 ohne weiteres in die mündliche Verhandlung einbezogen werden. Eine Vertagung des bereits anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung war damit nicht erforderlich. Denn das im Vergleich zum Hauptantrag hinzugekommene Merkmal des neuen Hilfsantrags 1 (Aufnahme von Procalcitonin 3-116 als Marker) ist bereits in dem ursprünglichen Hilfsantrag 1 enthalten, den die Beklagte mit Schriftsatz vom 11. April 2017 fristgerecht eingereicht hatte. Hierzu haben die Klägerinnen zu 1 und 2 und die Klägerin zu 3 mit Schriftsätzen jeweils vom 3. Mai 2017 Stellung genommen. Auch wurde der ursprüngliche Hilfsantrag 1 bereits im ergänzenden qualifizierten Hinweis des Senats vom 10. Mai 2017 ausführlich diskutiert. Hierzu hatten die Klägerinnen bis zur mündlichen Verhandlung über ein Jahr später ebenfalls ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme, die sie mit Schriftsätzen vom 20. Juni 2018 (Klägerinnen zu 1 und 2) bzw. vom 20. Juli 2018 (Klägerin zu 3) wahrgenommen haben. Allein der im neuen Hilfsantrag 1 vorgenommene Kategoriewechsel – vom Verwendungsanspruch (zurück) zum Verfahrensanspruch – macht eine Vertagung nicht erforderlich, zumal auch bereits der erteilte Patentanspruch 1 nach Hauptantrag ein Verfahrensanspruch ist.
2. Die Fassung der Patentansprüche nach Hilfsantrag 1 ist bereits unzulässig.
Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass mit dieser Fassung von Patentanspruch 1 lediglich noch deutlicher herausgestellt werden solle, dass die Diagnose erkenntnisbegleitet mit dem Einsatz des Procalcitonin 3-116 als Marker erfolge, im Übrigen dieser Patentanspruch aber sowohl die allgemeine sowie die selektive und nichtselektive Detektion von Procalcitonin 3-116 umfasse, dieses aber nicht identifiziert werde und lediglich im Gesamtwert enthalten sei. Auf Frage des Vorsitzenden, ob der Patentanspruch quasi eine Auswahlregel dergestalt bedeute, dass eine Anzahl von Assays daraufhin untersucht werde, Procalcitonin 3-116 detektieren zu können und danach die Auswahl erfolge, hat die Beklagte dieses Verständnis bestätigt.
Es kann vorliegend im Ergebnis offen bleiben, ob der Fachmann dieser Auffassung folgend die Lehre im Ergebnis nicht anders versteht als die Beklagte bereits die Lehre des erteilten Patentanspruchs 1 verstanden haben wissen will und dem Merkmal damit eine lediglich klarstellende Bedeutung zukäme oder ob nicht der Patentanspruch so zu verstehen ist, dass nunmehr einschränkend nur noch die spezifische Detektion von Procalcitonin 3-116 erfasst wird, welches bewusst detektiert werden muss. Denn im Ergebnis erweist sich die Fassung des Patentanspruchs 1 in beiden Fällen bereits als unzulässig.
2.1 Der Senat teilt allerdings – den durchaus zulässigen – Klarheitseinwand des Art. 84 EPÜ (BGH GRUR 2010, 709 – Proxyserversystem) der Klägerinnen in der Sache nicht, da der Begriff „Marker“ dem Fachmann auch im Kontext der konkreten Lehre keinerlei Verständnisschwierigkeiten bereitet, und auch nicht dazu führt, das bereits nach dem erteilten Patentanspruch 1 bestehende Verständnis der Lehre (zusätzlich) zu erschweren, ob die erfindungsgemäße Lehre auch auf ein undifferenziertes Miterfassen von Procalcitonin 3-116 in dem handelsüblichen immunanalytischen Test als Komponente von Gesamt-Procalcitonin gerichtet ist oder nunmehr nur eine spezifische Detektion von Procalcitonin 3-116 betrifft.
Denn der Senat sieht – wie bereits dargelegt – mit der Aufnahme des Merkmals nunmehr aus Sicht des Fachmanns nur noch eine Lehre beansprucht, welche zwingend mit dem Begriff „Marker“ eine spezifische und damit selektive Bestimmung der Konzentration eines als Marker zu qualifizierenden physiologischen Stoffes untrennbar verbindet, hier eine gegenüber dem bereits als (Bio-) Marker qualifizierten Procalcitonin 1-116 differenzierende Bestimmung der Konzentration des Procalcitonin 3-116.
2.2 Ein derartiges spezifisches, selektives und differenzierendes, in labormedizinischer Hinsicht brauchbares Messverfahren des Procalcitonin 3-116 ist im Streitpatent jedoch nicht offenbart und war dem Fachmann auch aus dem Stand der Technik nicht bekannt, so dass ein streitpatentgemäßes Diagnostizierverfahren gemäß Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 1, wie bereits dargelegt und von der Beklagten auch zugestanden wird, nicht ausführbar ist.
2.3 Wollte man dagegen dem Verständnis der Patentinhaberin folgen und dem neuen Merkmal 1.1 nur eine klarstellende Funktion beimessen, so wäre die mit Hilfsantrag 1 verteidigte Fassung ebenso bereits unzulässig, da nach ständiger Rechtsprechung eine ausschließlich klarstellende Änderung eines erteilten Patentanspruchs keine zulässige Beschränkung darstellen kann (BGH GRUR 1988, 757 – Düngerstreuer; Senat Urteil vom 2. Juli 2018, 4 Ni 8/17; Schulte, PatG, 10. Aufl., § 81 Rn. 120). Im Übrigen würde ein nur klarstellendes Merkmal 1.1 keine abweichende Entscheidung in der Sache zur Bewertung des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag rechtfertigen.
Insoweit scheitert dieser Ansatz der Beklagten aber auch daran, dass sich nach richtigem Verständnis weder im Patentanspruch 1 erteilter Fassung nach Hauptantrag noch nach derjenigen des Hilfsantrags 1 eine technische Lehre niederschlägt und zum Ausdruck kommt, welche eine gezielte Auswahl nur solcher Assays umfasst, die geeignet sind, Procalcitonin 3-116 zu detektieren bzw. spezifisch und selektiv nachzuweisen. Dies ist zum Hauptantrag bereits erläutert worden und ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Merkmals 1.1 aus den bereits zur Auslegung genannten Gründen.
V.
Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2
Soweit das Streitpatent in der Fassung nach Hilfsantrag 2 verteidigt wird, geht die als nebengeordnet anzusehende Teillehre einer kumulativen Verwendung der dort genannten Kalibratoren über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus, so dass das Streitpatent insoweit bereits im Hinblick auf die unzulässige Fassung der Patentansprüche nicht erfolgreich verteidigt werden kann (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. c, Art. 123 Abs. 2 EPÜ). Dies gilt auch, soweit sich die aus Sicht des Senats zulässig verteidigte eingeschränkte Teillehre des Hilfsantrags 2 auf die Verwendung (nur) von Procalcitonin 1-116 als Kalibrator bezieht, da diese sich mangels Neuheit als nicht patentfähig erweist (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a, Art. 54 EPÜ).
Soweit das Streitpatent in der Fassung gemäß Hilfsantrag 2 mit der zulässig eingeschränkten und isoliert bestandsfähigen Teillehre zu Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator verteidigt wird, führt die Klage jedoch nicht zum Erfolg und ist abzuweisen, da sich der hiergegen gerichtete Nichtigkeitsangriff im Hinblick auf die von den Klägerinnen zu 1 bis 3 geltend gemachten Nichtigkeitsgründe der unzulässigen Änderung des Inhalts der Anmeldung sowie der mangelnden Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a, c EPÜ) als nicht begründet erweist.
1. In der in Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 2 gewählten UND/ODER-Kombination verschiedener Kalibratoren sieht der Senat jeweils nebengeordnete Teillehren mit insoweit jeweils isolierter Bewertung der Zulässigkeit und Patentfähigkeit. In diesen nebengeordneten Teillehren sind die Merkmale 1 und 2 der erteilten Fassung des streitpatentgemäßen Verfahrens demnach kombiniert mit
- Procalcitonin 1-116 als Kalibrator (Merkmale 3, 3.1),
- Procalcitonin 2-116 als Kalibrator (Merkmale 3, 3.2),
- Procalcitonin 3-116 als Kalibrator (Merkmale 3, 3.3),
- Procalcitonin 1-116 und Procalcitonin 2-116 als Kalibratoren (Merkmale 3, 3.1, 3.2),
- Procalcitonin 1-116 und Procalcitonin 3-116 als Kalibratoren (Merkmale 3, 3.1, 3.3),
- Procalcitonin 2-116 und Procalcitonin 3-116 als Kalibratoren (Merkmale 3, 3.2, 3.3),
- Procalcitonin 1-116 und Procalcitonin 2-116 und Procalcitonin 3-116 als Kalibratoren (Merkmale 3, 3.1, 3.2, 3.3).
2. Soweit das Streitpatent in der Fassung des Hilfsantrags 2 mit den jeweils nebengeordneten Teillehren einer kumulativen Verwendung der in Patentanspruch 1 genannten Kalibratoren verteidigt wird, gehen diese Teilgegenstände über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. c EPÜ), so dass sich die verteidigte Anspruchsfassung bereits insoweit als unzulässig erweist.
In den ursprünglichen Unterlagen (vgl. NiK2, S. 6 Z. 13–15; NiK3, S. 13 vorletzter Abs.) wie auch im Streitpatent (vgl. NiK1, S. 6 Abs. [0038]) wird bei identischem Wortlaut die Möglichkeit einer Verwendung von Procalcitonin 3-116 als Kalibrator für Procalcitonin-Assays jeweils nur an einer einzigen Stelle beschrieben, in der internationalen Anmeldung NiK3 zusätzlich auch in einem Patentanspruch formuliert (vgl. NiK3, Anspruch 9), während die Möglichkeit einer Verwendung von Procalcitonin 1-116 und von Procalcitonin 2-116 als Kalibrator zwar jeweils aus der Beschreibung hervorgeht (vgl. NiK2, S. 6 Z. 13–15; NiK3, S. 13 vorletzter Abs.; NiK1, S. 6 Abs. [0038]), jedoch ursprünglich nicht beansprucht war (vgl. NiK2 und NiK3, jeweils Anspruchsfassung, insbesondere NiK3, Anspruch 9).
Wenngleich sich daraus die Lehre zum Einsatz jedes einzelnen dieser Procalcitonine als Kalibrator in Procalcitonin-Assays und damit in einem Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1 zum Zweck der Detektion von Procalcitonin 3-116 gemäß Merkmal 2 als offenbart herleiten lässt, kann diese Lehre nicht auf eine Offenbarung eines kombinierten Einsatzes von zwei oder gar aller drei dieser Kalibratoren in einem Verfahren gemäß Patentanspruch 1 gelesen werden, da eine Kombination von Kalibratoren eine andere Lehre bildet, welche der Fachmann auch nicht als mögliche – wenn auch allgemeinste – Ausgestaltung der angemeldeten Erfindung der Offenbarung entnehmen kann (BGH GRUR 2015, 249 – Schleifprodukt; GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal; GRUR 2014, 1026 – Analog-Digital-Wandler). Die nebengeordneten Teillehren einer kumulativen Verwendung der in Patentanspruch 1 genannten Kalibratoren stellen deshalb eine unzulässige Änderung des Inhalts der Anmeldung dar.
Ein solches erweitertes Verständnis dieser Offenbarungsstelle der ursprünglichen Anmeldung (vgl. NiK2, S. 6 Z. 13–15; NiK3, S. 13 vorletzter Abs.) leitet der Fachmann auch nicht aus dem gattungsgemäßen Stand der Technik und einem hieraus resultierenden Vorverständnis her, da auch dort jeweils nur ein einzelner Kalibrator zum Einsatz gelangt (vgl. NiK19, S. 642 li. Sp. Abschnitt „Procalcitonin assay“ viertletzter Satz; NiK20, S. 303 li. Sp. Abschnitt „Dosage des précurseurs de la calcitonine“ Abs. 1 vorletzter Satz). Nichts anderes ergibt sich aus der Erklärung der Beklagten, wonach sowohl der ursprüngliche als auch der geänderte LUMItestÒ PCT jeweils nur einen Kalibrator verwenden (vgl. VP13, S. 1 Abs. 2 bis letzter Abs. i. V. m. „Tabellarische Übersicht“ Zeile „Standardmaterial“).
3. Soweit sich die verteidigte eingeschränkte Teillehre des Hilfsantrags 2 auf die Verwendung von Procalcitonin 1-116 als Kalibrator bezieht, ist diese zwar zulässig, sie erweist sich aber als nicht patentfähig (Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ). Denn dem streitpatentgemäßen Diagnostizierverfahren mit den Merkmalen 1, 2, 3 und 3.1 gemäß Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 2, das sich sowohl aus der ursprünglichen Anmeldung (vgl. NiK2, S. 6 Z. 13–15; NiK3, S. 13 vorletzter Abs.) als auch aus der Beschreibung des Streitpatents (vgl. NiK1, S. 6 Abs. [0038]) herleiten lässt und damit als zulässig zu erachten ist, mangelt es gegenüber der NiK19 oder der NiK20 an der erforderlichen Neuheit (Art. 54 EPÜ).
3.1 Sowohl in der vorveröffentlichten NiK19 als auch in der vorveröffentlichten NiK20 ist die Verwendung von Procalcitonin 1-116 als Standard und damit als Kalibrator zur Bestimmung der Konzentration von Procalcitonin zum Zweck der Diagnose von Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen beschrieben (vgl. NiK19, S. 642 li. Sp. Abschnitt „Procalcitonin assay“ viertletzter Satz i. V. m. S. 641 Abstract letzter Satz sowie S. 644 li. Sp. Z. 3–10; NiK20, S. 303 li. Sp. Abschnitt „Dosage des précurseurs de la calcitonine“ Abs. 1 vorletzter Satz i. V. m. z. B. S. 302 Abschnitt „Summary“ letzter Satz). Dass mit dem verwendeten, bereits aus NiK11 bekannten Bestimmungsverfahren neben nativem Procalcitonin 1-116 auch weitere Procalcitonine erfasst werden, wurde bereits dargelegt.
3.2 Insoweit steht der Berücksichtigung der NiK19 und NiK20 auch nicht der von der Beklagten geltend gemachte Verspätungseinwand nach § 83 Abs. 4 PatG entgegen, da die von der Klägerin zu 3 mit Schriftsatz vom 20. Juli 2018 eingereichten Entgegenhaltungen NiK19 und – die auf Französisch abgefasste – NiK20 ohne weiteres in die mündliche Verhandlung am 7. August 2018 einbezogen werden konnten und es deshalb bereits an dem von § 83 Abs. 4 PatG vorausgesetzten Vertagungserfordernis fehlt. Denn der vorgenannte Schriftsatz der Klägerin zu 3 samt der hier in Rede stehenden Entgegenhaltungen war der Beklagten bereits vorab per Fax am 25. Juli 2018, also knapp zwei Wochen vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung, übermittelt worden. Die Beklagte musste davon ausgehen, dass Entgegenhaltungen zum Stand der Technik in einer der Amtssprachen des Europäischen Patentamts, zu denen neben Deutsch und Englisch auch Französisch gehört, vorgelegt werden. Im Übrigen hatte sie nach Übermittlung des o. g. Schriftsatzes noch genügend Zeit, entweder die Einreichung insbesondere der NiK20 ohne gleichzeitige Beifügung einer deutschen Übersetzung sofort zu reklamieren oder sich noch rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung Hilfe bei der Übersetzung zu holen. Letztlich ist der wesentliche Inhalt der NiK20 auch auf Englisch im „Summary“ beschrieben, zudem wurden die hier maßgeblichen wenigen Sätzen auf Seite 2, linke Spalte, zweiter Absatz unter „Matériel et méthodes“ in der mündlichen Verhandlung übersetzt. Eine eingehende Erörterung dieser beiden Druckschriften war deshalb auch in der mündlichen Verhandlung problemlos und abschließend möglich.
4. Die daneben jeweils zulässig verteidigte eingeschränkte Teillehre unter Verwendung von Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator erweist sich hingegen als patentfähig, da sie sowohl neu ist als auch auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Art. 54, 56 EPÜ). Der insbesondere auf die Schriften NiK19 und NiK20 gestützte Angriff der Klägerinnen ist insoweit nicht erfolgreich.
4.1 Hinsichtlich der Zulässigkeit der beiden, durch den Einsatz von entweder Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator gekennzeichneten Teillehren eines Diagnostizierverfahrens gemäß Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 bestehen nach Ansicht des Senats im Hinblick auf den Inhalt der Stammanmeldung und eine mögliche Erweiterung des Schutzbereichs des erteilten Patents keine Bedenken, da anspruchsgemäße Verfahren mit insoweit einschränkenden Ausgestaltungen bereits bekannter Procalcitonin-Assays in den ursprünglichen Unterlagen (vgl. NiK2, S. 6 Z. 13–15; NiK3, S. 13 vorletzter Abs.) unmittelbar und eindeutig als erfindungsgemäß offenbart sind. Auch ist nicht ersichtlich, dass die mit Hilfsantrag 2 insoweit verfolgte Fassung den Schutzbereich der geltenden Patentansprüche entgegen Art. 123 Abs. 3 EPÜ erweitert und sich insoweit als unzulässig erweist, da der erteilte Patentanspruch 1 nach Hauptantrag erkennbar weiter gefasst ist und die Einschränkung einer Verwendung von Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator nicht enthält.
Der Einwand der Klägerinnen, die betreffende Textstelle des Streitpatents (vgl. NiK1, S. 6 Z. 16–18) beziehe sich lediglich auf den Einsatz dieser Kalibratoren, soweit sie gentechnologisch hergestellt sind, vermag die Zulässigkeit nicht in Frage zu stellen. Denn diese Textstelle ist in Bezug auf die Verwendbarkeit von Procalcitonin 1-116, Procalcitonin 2-116 und von Procalcitonin 3-116 als Kalibratoren verallgemeinernd über deren gentechnologische Herstellung hinaus zu verstehen. So ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Ermittlung dessen, was dem Fachmann zum Zeitpunkt der Einreichung der Patentanmeldung als Erfindung gehörend offenbart wird, wertenden Charakter hat und eine unangemessene Beschränkung des Anmelders bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts der Voranmeldung zu vermeiden ist (BGH GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal). Entscheidend ist danach, ob der Fachmann den Gegenstand des Patents der Gesamtheit der in den ursprünglichen Unterlagen offenbarten technische Lehre als mögliche – wenn auch allgemeinste – Ausgestaltung der angemeldeten Erfindung entnehmen kann (BGH GRUR 2015, 249 – Schleifprodukt; GRUR 2014, 1026 – Analog-Digital-Wandler). Eine unzulässige Erweiterung des Inhalts der Anmeldung liegt deshalb erst vor, wenn der Gegenstand des Patents sich für den Fachmann nur aufgrund eigener, von seinem Fachwissen getragener Überlegungen ergibt, nachdem er die ursprünglichen Unterlagen zur Kenntnis genommen hat, so wenn die Hinzufügung einen technischen Aspekt betrifft, der den ursprünglich eingereichten Unterlagen in seiner konkreten Ausgestaltung oder wenigstens in abstrakter Form nicht als zur Erfindung gehörend zu entnehmen ist (BGH GRUR 2013, 809 – Verschlüsselungsverfahren). Dies ist aber vorliegend nicht der Fall.
4.2 Auch bestehen aus Sicht des Senats keine Zweifel an der Ausführbarkeit eines derart ausgestalteten Diagnostizierverfahrens, da es sich sowohl bei Procalcitonin 3-116 als auch bei Procalcitonin 2-116 um den Einsatz von Peptiden als Kalibratoren in solchen immunanalytischen Tests handelt, die bereits vor dem Zeitrang des Streitpatents in der Fachliteratur beschrieben (vgl. z. B. NiK11, NiK19, NiK20) und zumindest in einer Ausgestaltung bereits im Handel verfügbar waren (vgl. z. B. NiK1, S. 4 Z. 31–33). Dass im Streitpatent nur die gentechnologische Herstellung von Procalcitonin 3-116 expressis verbis beschrieben ist und entsprechend dazu auch das demgegenüber um die Aminosäure Prolin verlängerte Procalcitonin 2-116 nach Klonierung der entsprechenden cDNA, Expression und Aufreinigung gentechnologisch ohne Weiteres herstellbar ist, steht dem nicht entgegen. Denn synthetisches, gemeint ist durch chemische Synthese hergestelltes Procalcitonin 1-116 war bereits vor dem Zeitrang des Streitpatents verfügbar (vgl. z. B. NiK19, S. 642 li. Sp. Abschnitt „Procalcitonin assay“ viertletzter Satz und in NiK20, S. 303 li. Sp. Abschnitt „Dosage des précurseurs de la calcitonine“ Abs. 1 vorletzter Satz) und dementsprechend waren auch Procalcitonin 3-116 und Procalcitonin 2-116 – neben der im Streitpatent beschriebenen gentechnologischen Herstellung – unter Verwendung handelsüblicher hocheffizienter Peptid Synthesizer ohne Weiteres durch chemische Synthese zugänglich.
4.3 Die nach Hilfsantrag 2 verteidigte eingeschränkte Teillehre von Patentanspruch 1 unter Verwendung von Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator erweist sich auch in der Sache als bestandsfähig. In keiner der vorgebrachten Druckschriften sind Procalcitonin 2-116 und/oder Procalcitonin 3-116 als individuelle Peptide beschrieben. Sie sind daher als Einzelstoffe nicht vorbeschrieben mit der Folge, dass nicht nur deren stoffliche Neuheit, sondern auch die Neuheit ihrer Verwendung als Kalibratoren in einem Diagnostizierverfahren gemäß Merkmal 1, in dem Procalcitonin 3-116 gemäß Merkmal 2 detektiert wird, anzuerkennen ist.
Zwar lassen sich sowohl Procalcitonin 2-116 als auch Procalcitonin 3-116 unter das Stoffkollektiv der Vorläufersubstanzen von Calcitonin und damit proteolytischen Abbauprodukten des Standes der Technik subsumieren, zumal ihre Aminosäuresequenz und damit ihre Primärstruktur in Präprocalcitonin und Präcalcitonin 1-116 zwangsläufig enthalten und damit vorgebildet ist (vgl. z. B. NiK11, insbesondere Abstract i. V. m. Fig. 1; NiK5, S. 2 Z. 62 bis S. 3 Z. 17; NiK1, S. 2 Z. 20–21). Eine gezielte Lehre zur individuellen stofflichen Bereitstellung ist damit jedoch nicht verbunden, erst recht nicht mit dem Zweck der Verwendung als Kalibratoren zur Detektion von Procalcitonin 3-116.
4.4 Der Einsatz von Procalcitonin 2-116 oder von Procalcitonin 3-116 als Kalibrator zum Zweck der Detektion von Procalcitonin 3-116 war dem Fachmann auch nicht durch den im Verfahren befindlichen Stand der Technik nahegelegt (Art. 56 EPÜ).
4.4.1 Für die Beurteilung, ob eine beanspruchte Lösung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, ist von dem auszugehen, was die Erfindung gegenüber dem Stand der Technik im Ergebnis tatsächlich leistet (st. Rspr. gemäß BGH GRUR 2010, 607, Tz. 18 – Fettsäurezusammensetzung; GRUR 2010, 602, Tz. 27 – Gelenkanordnung). Dabei können für die Beantwortung der Frage, ob die beanspruchte technische Lehre für den angesprochenen Fachmann im Zeitpunkt der Anmeldung bzw. im Prioritätszeitpunkt nahelag, nicht nur der sogenannte „nächstliegende“ Stand der Technik, sondern verschiedene Ausgangspunkte in Betracht zu ziehen sein (BGH GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger; BGH GRUR 2009, 382 – Olanzapin; BPatG GRUR 2004, 317 – Programmartmitteilung), welche unter Berücksichtigung der objektiv gebotenen Problemlösung das Sprungbrett zu erfindungsgemäßen Lösung bilden können.
Berücksichtigt man, dass die Formulierung der objektive Aufgabe sich an solchen Problemen zu orientieren hat, die durch die Erfindung gegenüber dem Stand der Technik tatsächlich gelöst werden (BGH GRUR 2010, 607 – Fettsäurezusammensetzung; GRUR 2010, 814 – Fugenglätter; GRUR 2003, 693 – Hochdruckreiniger), lässt sich im vorliegenden Fall daraus als objektive Aufgabe des Fachmanns ableiten, den bekannten Diagnosetest auf Sepsis durch Procalcitonin zu optimieren.
4.4.2 Als zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevanter Stand der Technik sind vorliegend diejenigen der vorgebrachten und vorveröffentlichten Druckschriften als mögliches Sprungbrett zur Lösung des sich dem Fachmann objektiv stellenden Problems zu berücksichtigen, die sich mit der quantitativen Bestimmung von Procalcitonin und anderen proteolytischen Abbauprodukten des Präprocalcitonin bzw. Vorläufersubstanzen des Calcitonin im Zuge eines immunanalytischen Tests befassen, insbesondere diejenigen Druckschriften, in denen unmittelbar oder mittelbar durch Zitate auf den bereits vor dem Zeitrang des Streitpatents handelsüblichen LUMItestÒ PCT oder andere Procalcitonin-Assays unter Einsatz von Kalibratoren Bezug genommen wird (vgl. NiK5, S. 4 Z. 50–52; NiK6, S. 8 Abs. 1; NiK11, S. 6846 li. Sp. Abschnitt „Development of Monoclonal Immunoradiometric Assays ...“ letzter Satz; NiK13, S. 329 re. Sp. vorletzter Abs.; NiK14, S. 582 re. Sp. letzter Abs.; NiK19, S. 642 li. Sp. Abschnitt „Procalcitonin Assay“ viertletzter Satz und NiK20, S. 303 li. Sp. Abschnitt „Dosage des précurseurs de la calcitonine“ Abs. 1 vorletzter Satz).
Als beim handelsüblichen LUMItestÒ PCT vor dem Zeitrang des Streitpatents zum Einsatz gelangenden Kalibrator ist die von der Beklagten vorgebrachte eidesstattliche Versicherung VP13 gutachtlich zu werten und insoweit zu berücksichtigen. Demnach wurden vor dem Zeitrang des Streitpatents entweder synthetisches Procalcitonin in seiner vollständigen Aminosäuresequenz (vgl. NiK19, S. 642 li. Sp. Abschnitt „Procalcitonin Assay“ viertletzter Satz und NiK20, S. 303 li. Sp. Abschnitt „Dosage des précurseurs de la calcitonine“ Abs. 1 vorletzter Satz) oder synthetische Peptide mit einer gegenüber Procalcitonin 1-116 stark verkürzten Aminosäuresequenz (vgl. NiK11, S. 6846 li. Sp. Abschnitt „Development of Monoclonal Immunoradiometric Assays ...“ letzter Satz; VP13) als Kalibrator in einem immunanalytischen Test auf Procalcitonin eingesetzt.
Die Möglichkeit, als Kalibrator ein lediglich um eine oder zwei der beiden N-terminalen Aminosäuren verkürztes Procalcitonin einzusetzen, wird weder im Stand der Technik angesprochen noch finden sich dort Anregungen auf den eventuell vorteilhaften Einsatz einer verkürzten Aminosäuresequenz, so dass eine Anregung oder ein Anlass zur Ausgestaltung des streitpatentgemäßen Diagnostizierverfahrens gerade durch die Auswahl eines Kalibrators gemäß Merkmal 3.2 oder 3.3 für den Fachmann nicht bestanden hat (BGH GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger).
Hierbei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass erfahrungsgemäß die technische Entwicklung nicht notwendigerweise diejenigen Wege geht, die sich bei nachträglicher Analyse der Ausgangsposition als sachlich plausibel oder gar mehr oder weniger zwangsläufig darstellen und es – abgesehen von denjenigen Fällen, in denen für den Fachmann auf der Hand liegt, was zu tun ist – in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe dafür bedarf, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen (BGH GRUR 2009, 746 – Betrieb einer Sicherheitseinrichtung).
In der nachgebrachten, gutachtlich zu wertenden eidesstattlichen Versicherung VP13 hat die Beklagte darüber hinaus dargelegt, dass durch den – wie oben ausgeführt – bereits nicht nahegelegten Wechsel von einem geeigneten Kalibrator mit stark verkürzter Aminosäuresequenz hin zu Procalcitonin 2-116 als Kalibrator zusätzlich der Vorteil einer von etwa 2 Stunden auf etwa 1 Stunde verkürzten und damit etwa halbierten Inkubationszeit einhergeht. Dieser für ein anspruchsgemäßes Diagnostizierverfahren in Bezug auf einen praktikablen Immuntest besonders wertvolle Effekt war aufgrund des vorgebrachten Standes der Technik, insbesondere in seinem zahlenmäßigen Ausmaß, nicht ohne Weiteres zu erwarten und stellt deshalb zusätzlich ein Anzeichen für eine erfinderische Tätigkeit dar.
Insoweit kommt es für die Begründung einer erfinderischen Tätigkeit nicht einmal darauf an, dass mit der Verwendung von Procalcitonin 3-116 als Kalibrator zudem die als Kern des Streitpatents zu wertende Entdeckung, dass bei einer Sepsis und sepsisähnlichen systemischen Infektionen im Serum von Patienten in vergleichsweise hohen Konzentrationen Procalcitonin 3-116 vorhanden ist (NiK1, Abs. [0008]) und durch den handelsüblichen LUMItest® PCT detektiert wird, nunmehr – anders als in der nach Haupt- und Hilfsantrag 1 beanspruchten Lehre – in eine technische Lehre umgesetzt wird, die zudem zum Zeitrang des Streitpatents auch ausführbar war.
4.4.3 Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht das Vorbringen der Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung, dass durch die NiK19 und NiK20, in denen jeweils synthetisches Procalcitonin 1-116 mit vollständiger Aminosäuresequenz als Kalibrator eingesetzt wird, auch die Verwendung von sequenzverkürztem Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116, die in der Sequenz des Procalcitonin 1-116 enthalten und damit vorgebildet sind, nahegelegt sei, und VP13 gerade keinen Vergleich mit diesen strukturell nächstkommenden Procalcitoninen anstelle. Gerade weil die Aminosäuresequenz von Procalcitonin 2-116 und Procalcitonin 3-116 vollständig in dem nativen Procalcitonin 1-116 enthalten und insoweit dessen Bestandteil ist, bestand für den Fachmann kein Anlass, von einem in dem handelsüblichen LUMItestÒ PCT bewährten, lediglich aus einer Sequenz von 47 Aminosäuren bestehenden kurzkettigen Kalibrator – einem Fragment des Procalcitonin 1-116 – (vgl. VP13) abzuweichen und eine längerkettige Sequenz zu verwenden. So geht weder aus NiK19 noch aus NiK20 ein mit dem Einsatz eines längerkettigen bis hin zum vollständigen Procalcitonin 1-116 gegebenenfalls verbundener oder zu erwartender technischer Effekt hervor. Zudem stehen dem Wechsel des Kalibrators eines handelsüblichen Immuntests zu einem in seiner Sequenz mehr als doppelt so langen Peptid als Kalibrator die damit verbundenen erheblichen Mehrkosten des Testkits als Hinderungsgrund entgegen, was den Fachmann gerade nicht in diese Entwicklungsrichtung geleitet hätte.
Zwar war dem Fachmann bereits geraume Zeit vor dem Zeitrang des Streitpatents bekannt, dass N-terminale X-Pro-Dipeptide, unter anderen das N-terminale Ala-Pro-Dipeptid, von Prohormonen durch Dipeptidyl Peptidase IV (DPP IV) unter physiologischen Bedingungen abgespalten werden (vgl. z. B. S1, insbesondere S. 49 re. Sp. Abs. 2 bis S. 57 re. Sp. Abs. 2), darunter auch einige der im Streitpatent aufgeführten Prohormone (vgl. NiK1, S. 7 Tab. 2 i. V. m. Abs. [0045] bis [0049]). Bekannt ist daraus auch die Abspaltung des Ala-Pro-Dipeptids des im Streitpatent gesondert untersuchten ProGRP durch DPP IV (vgl. NiK1, S. 7 Abschnitt D.1; S1, S. 55 Abs. re. auf li. Sp., insbesondere den die Spalten überbrückenden Satz; S2, Abstract).
Im Hinblick darauf, dass die N-terminale Sequenz Ala-Pro des Procalcitonin bereits spätestens seit dem Zeitrang der im Streitpatent Seite 2, Zeile 21 zitierten wissenschaftlichen Arbeit S3 bekannt war, musste der Fachmann damit rechnen, dass unter physiologischen Bedingungen ein proteolytischer Abbau des Prohormons Procalcitonin unter anderem auch zu dem um die zwei N-terminalen Aminosäuren bzw. das N-terminale Dipeptid Ala-Pro verkürzten Procalcitonin – im Streitpatent als Procalcitonin 3-116 bezeichnet – stattfindet.
Insofern sind die Ausführungen der Klägerinnen zu 1 und 2 zwar durchaus nachvollziehbar, dass dem Fachmann bekannt gewesen sei, dass unter die „ggf. weiteren existierenden Varianten“ des Procalcitonin auch Procalcitonin 3-116 fällt (vgl. Schriftsatz vom 3. Mai 2017, S. 5 Abs. 2). Aber selbst wenn der Fachmann die Abspaltung des N-terminalen Ala-Pro-Dipeptids des Procalcitonin 1-116 ausgehend von den in NiK5 bzw. NiK6 vorbeschriebenen höhermolekularen proteolytischen Spaltprodukten und der bekannten Struktur des Procalcitonin annehmen konnte, gab ihm auch dieses Wissen noch keine Anregung und keinen Anlass, das um die beiden N-terminalen Aminosäuren verkürzte Procalcitonin 3-116 als Kalibrator in einem immunanalytischen Test einzusetzen, das heißt zur Problemlösung den konkreten Weg der erfindungsgemäßen Lösung nach der mit Hilfsantrag 2 verteidigten eingeschränkten Teillehre des Streitpatents zu beschreiten.
5. Mit dem Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 2 in der Fassung der teilbestandsfähigen Lehre zu Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator haben auch die auf ihn rückbezogenen Untersprüche 2 und 3 insoweit Bestand.
VI.
Die von der Nichtigkeitsklägerin zu 3 mit Schriftsatz vom 27. August 2018 beantragte Berichtigung/Ergänzung des Protokolls über die mündliche Verhandlung vom 7. August 2018 war abzulehnen. Eine der Berichtigung im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 2 PatG, § 164 ZPO zugängliche Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Niederschrift liegt nicht vor. Das Protokoll wäre nur dann unrichtig, wenn der das Diktat aufnehmende Vorsitzende Richter die von der Nichtigkeitsklägerin zu 3 dargelegten Äußerungen der Nichtigkeitsklägerinnen in das Diktat aufgenommen hätte und sie gleichwohl nicht im schriftlichen Protokoll wiedergegeben worden wären. Das wird von der Nichtigkeitsklägerin zu 3 nicht geltend gemacht. Vielmehr macht sie sinngemäß geltend, dass das von ihr dargelegte Vorbringen, das in der mündlichen Verhandlung gehalten worden sei, in das zusammenfassende Diktat hätte aufgenommen werden müssen und das Protokoll insoweit zu ergänzen sei. Ihr Antrag ist daher auf die Aufnahme weiterer Äußerungen in das Protokoll im Sinne des § 160 Abs. 4 ZPO gerichtet. Ein solcher Antrag auf Protokollaufnahme kann jedoch nur bis zum Schluss derjenigen mündlichen Verhandlung gestellt werden, über die das Protokoll aufgenommen ist (vgl. BPatG, Beschluss vom 19. Mai 2014 – 2 Ni 11/12 (EP); OLG Schleswig, MDR 2011, 751; Schulte, PatG, 10. Aufl., § 92 Rn. 6; Zöller, ZPO, 32. Aufl., § 160 Rn. 15; Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl., § 160 Rn. 13). Ein später gestellter Antrag ist unzulässig. Für die beantragte Ergänzung des Protokolls ist daher kein Raum.
VII.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Vor dem Hintergrund, dass die Beklagte das Streitpatent mit den Fassungen nach Hauptantrag und Hilfsantrag 1 nicht erfolgreich verteidigen konnte, sondern sich die durch die Verwendung von Kalibratoren deutlich eingeschränkte Fassung nach Hilfsantrag 2 und diese auch nur, soweit die jeweilige Teillehre zu Procalcitonin 2-116 oder Procalcitonin 3-116 als Kalibrator isoliert verteidigt wurde, als bestandsfähig erwies, bewertet der Senat das Obsiegen der Beklagten auf weniger als 1/10 des Gebührenstreitwerts. Da die vorliegende Entscheidung damit nur sehr geringfügig hinter dem Antrag der Klägerinnen zurückbleibt, erscheint eine vollständige Auferlegung der Kosten auf die Beklagte nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 ZPO gerechtfertigt und entspricht der Billigkeit.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 99 Abs. 1 PatG, § 709 ZPO.