Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 27.03.2018


BVerwG 27.03.2018 - 1 A 4/17

Verhältnismäßigkeit einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG angesichts der Schwere einer drohenden terroristischen Gefahr


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
27.03.2018
Aktenzeichen:
1 A 4/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:270318U1A4.17.0
Dokumenttyp:
Urteil
Zitierte Gesetze
Art 11 EGRL 115/2008
Art 4 EUGrdRCh
Art 41 EUGrdRCh
Art 47 EUGrdRCh
Art 48 EUGrdRCh
Art 3 MRK
Art 6 MRK
Art 8 MRK

Tatbestand

1

Der Kläger, ein russischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen eine auf § 58a AufenthG gestützte Abschiebungsanordnung.

2

Der Kläger wurde im ... in der Russischen Föderation (Dagestan) geboren. Er reiste 2002 mit weiteren Familienmitgliedern nach Deutschland ein und stellte gemeinsam mit diesen unter falschem Namen erfolglos Asylanträge. Nach Ablehnung des ersten Asylantrags konnte er mehrere Jahre lang wegen fehlender Heimreisedokumente nicht abgeschoben werden. Im April 2012 wurde dem Kläger - nach Richtigstellung der Personalien der Familie - erstmalig eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, die zuletzt bis März 2018 verlängert worden ist.

3

Im Jahr 2014 erließ die zuständige Ausländerbehörde gegen den Kläger ein Ausreiseverbot, nachdem zutage getreten war, dass er eine Ausreise nach Syrien geplant hatte.

4

Mit Verfügung vom 13. März 2017 ordnete der Senator für Inneres der Beklagten - gestützt auf § 58a AufenthG - die Abschiebung des Klägers in die Russische Föderation an. Die Abschiebungsanordnung wurde mit der Gefahr begründet, dass der Kläger einen terroristischen Anschlag verüben oder an einem solchen mitwirken werde. Er habe sich seit 2014 zunehmend islamistisch radikalisiert und sympathisiere mit der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" ("IS"). In einem "Chat" habe er sich zur Beteiligung an einem Anschlag bereit erklärt. Bei der Auswertung seines Smartphones sei u.a. ein Video mit einer Schritt-für-Schritt Anleitung zur Herstellung einer Splitterbombe mit einfachsten Mitteln gefunden worden. Daraus und aus weiteren Einzelheiten, auf die im Rahmen der Entscheidungsgründe eingegangen wird, ergebe sich die auf Tatsachen gestützte Prognose, dass von ihm eine terroristische Gefahr ausgehe. Vor diesem Hintergrund überwiege bei der Ermessensentscheidung auch unter Berücksichtigung seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland, des erlangten Hauptschulabschlusses, der sozialen Bindungen an seine Familie und seine religiös angetraute Ehefrau das Interesse an einer Ausreise das private Interesse am Verbleib. Die Verfügung wurde dem Kläger am 14. März 2017 ausgehändigt; am gleichen Tag wurde er zur Sicherung der Abschiebung in Haft genommen. Während seiner Inhaftierung trennten sich der Kläger und seine Partnerin.

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Am 24. März 2017 hat der Kläger beim Bundesverwaltungsgericht Klage erhoben. Er hält § 58a AufenthG für verfassungswidrig. Unabhängig davon sei die Abschiebungsanordnung formell und materiell rechtswidrig. Sie sei unter Verstoß gegen § 28 BremVwVfG ohne vorherige Anhörung ergangen. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 58a AufenthG lägen nicht vor. Die Auslegung der Vorschrift durch den Senat führe zu einer unzulässigen Absenkung der Gefahrenschwelle. Die Gefahrenprognose beruhe auf einer unrichtigen und unzureichenden Tatsachengrundlage und sei insbesondere nicht hinreichend sachverständig erfolgt. Sie beruhe zudem auf Angaben des Klägers, die in einem Strafprozess wegen Verletzung seiner Verteidigungsrechte nicht verwertbar wären. Ein Zusammenhang zwischen den beim Kläger gefundenen Videos und Fotos und einem erwartbaren Verhalten des Klägers sei nicht herzustellen. Seine Äußerungen zeigten, dass er selbst noch auf der Suche nach der eigenen Weltsicht und Motiven für das eigene Handeln sei. Es fehle auch an einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Klägers. Die Abschiebungsanordnung sei ferner unvereinbar mit Art. 8 EMRK. Der Kläger sei in Deutschland integriert, seine Familie lebe hier, und er spreche kein Russisch. Schließlich bestehe ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, weil zu erwarten sei, dass der Kläger in der Russischen Föderation einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt sei. Er befürchte, inhaftiert und gefoltert sowie zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Die russischen Stellen könnten die Gründe für seine Abschiebung unschwer den Medien entnehmen. Eine vom Kläger eingeholte Auskunft einer russischen Nichtregierungsorganisation vom 19. August 2017 bestätige seine Befürchtungen. Er könne sich in der Russischen Föderation jedenfalls nicht ohne erhebliche Gefährdung registrieren lassen. Den für die Registrierung erforderlichen Inlandspass könne er nur in Dagestan beantragen. Sowohl zur Frage des Erfordernisses einer Anhörung nach Unionsrecht als auch zur Frage der Vereinbarkeit einer Abschiebung ohne vorherige Befristung mit der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG bedürfe es eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).

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Der Kläger beantragt,

die Verfügung des Senators für Inneres der Freien Hansestadt Bremen vom 13. März 2017 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Sie verteidigt die angegriffene Verfügung. In Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen führt sie vorsorglich aus, dass die Ermessensentscheidung auch dann zu Lasten des Klägers ausgehe, wenn er nicht über Grundkenntnisse der russischen Sprache und in der Russischen Föderation außerhalb Dagestans nicht über familiäre Kontakte verfügen sollte.

9

Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Auffassung der Beklagten an.

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Mit Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - hat der Senat einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt. Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - nicht zur Entscheidung angenommen. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine auf Antrag des Klägers am 31. Juli 2017 erlassene vorläufige Untersagung der Abschiebung am 29. August 2017 wieder aufgehoben hatte, wurde der Kläger am 4. September 2017 nach P. (Russische Föderation) abgeschoben. Mit Entscheidung vom 7. November 2017 (Nr. 54646/17) hat der EGMR die Beschwerde des Klägers in der Hauptsache hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung von Art. 3 EMRK als unzulässig, weil offensichtlich unbegründet, zurückgewiesen.

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Der Senat hat eine Liste von Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand Februar 2018) erstellt und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Senators (VV), die Ausländerakte des Klägers (AA), die Akten des 62. Kommissariats der Polizei Bremen (6 Bände P1 bis P6, und ein Hefter, Polizei K 62), die beigezogenen Akten verschiedener familiengerichtlicher Verfahren (Amtsgericht Bremen 71 F 172/17 SO, 71 F 212/17 EAUB, 71 F 211/17 EASO, 71 F 134/17 EAUB, 71 F 591/17 UB) sowie die beigezogene Strafakte (Staatsanwaltschaft Bremen 508 Js 9347/17, Hauptakte Bd. I und II sowie Beweismittelordner).

Entscheidungsgründe

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Die in der mündlichen Verhandlung ohne nähere Substantiierung erhobene Besetzungsrüge greift nicht durch. Die aus dem Rubrum ersichtliche Besetzung des Senats entspricht seinem Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2018.

14

Die Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Senators für Inneres vom 13. März 2017 ist zulässig, aber unbegründet.

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1. Der Zulässigkeit der Klage steht die zwischenzeitliche Abschiebung des Klägers nicht entgegen. Hierdurch hat sich die Abschiebungsanordnung nicht erledigt, da von ihr weiterhin rechtliche Wirkungen ausgehen. Sie bildet unter anderem die Grundlage für die Rechtmäßigkeit der Abschiebung und darauf aufbauende Rechtsfolgen, etwa die Haftung des Klägers für die durch seine Abschiebung entstandenen Kosten nach §§ 66, 67 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 12).

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2. Die Klage ist aber unbegründet. Die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Senators für Inneres vom 13. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Maßgeblich für die gerichtliche Beurteilung einer Abschiebungsanordnung ist in Fällen, in denen der Ausländer - wie hier - in Vollzug der gegen ihn ergangenen Entscheidung bereits abgeschoben worden ist, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Abschiebung. Mit dem Vollzug der Abschiebungsanordnung ist der mit dieser Maßnahme verfolgte Zweck eingetreten, und die Berücksichtigung nach der Abschiebung eintretender neuer Umstände - zu Gunsten wie zu Lasten des Betroffenen - widerspräche ihrem Charakter als Vollstreckungsmaßnahme. Nachträgliche Änderungen sind daher in einem Verfahren nach § 11 AufenthG zu berücksichtigen. Auch in Bezug auf die - inzidente - Prüfung von Abschiebungsverboten kommt es nur darauf an, ob diese im Zeitpunkt der Abschiebung vorlagen. Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der hinsichtlich der Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung im Zielstaat auf den Zeitpunkt der Abschiebung abstellt und nachträglich bekannt werdende Tatsachen nur ergänzend heranzieht (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 14 unter Hinweis auf EGMR, Urteil vom 14. März 2017 - Nr. 47287/15, Ilias u. Ahmed/Ungarn - Rn. 105 m.w.N.).

18

Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen.

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2.1 Diese Regelung ist formell und materiell verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 16; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 20 ff. und vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - NVwZ 2017, 1530 Rn. 18). In seiner Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz, auf die insoweit verwiesen wird (Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 9 ff.), hat sich der Senat mit den gegen die Verfassungsmäßigkeit erhobenen Einwänden des Klägers auseinandergesetzt. Diese Beurteilung ist vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet worden. Der weitere Verlauf des Klageverfahrens und der mündlichen Verhandlung gibt keine Veranlassung, davon abzuweichen.

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2.2 Die Abschiebungsanordnung ist - wie bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren dargelegt - formell rechtmäßig. Der formellen Rechtmäßigkeit steht insbesondere nicht entgegen, dass der Kläger vor Erlass der Verfügung möglicherweise nicht hinreichend angehört worden ist.

21

a) Nach nationalem Verfahrensrecht war eine Anhörung entbehrlich. § 58a AufenthG schreibt eine Anhörung weder ausdrücklich vor noch verbietet er eine solche, so dass § 28 BremVwVfG anzuwenden ist. Nach dieser Regelung ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Abs. 1). Nach § 28 Abs. 2 BremVwVfG kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist, etwa wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint (Nr. 1).

22

Es kann offenbleiben, ob hier vor der Übergabe der Abschiebungsanordnung eine hinreichende Anhörung durch die für deren Erlass zuständige Behörde stattgefunden hat oder diese in der Folgezeit nachgeholt worden ist; denn jedenfalls durfte auf eine Anhörung nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 BremVwVfG verzichtet werden, weil eine sofortige Entscheidung im öffentlichen Interesse notwendig war. § 58a AufenthG zielt auf die Bewältigung von beachtlichen Gefahren für hochrangige Rechtsgüter. Bei der mit einer Anhörung verbundenen "Vorwarnung" bestünde regelmäßig die Gefahr, dass sich der Betroffene durch Untertauchen der Abschiebung entzieht oder sonst den mit der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung verfolgten Zweck vereitelt. Der Gesetzgeber selbst anerkennt dies in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG, nach dem ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen ist, wenn eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann; auch ist bei einer Abschiebungsanordnung eine freiwillige Ausreise nicht zu ermöglichen. Unabhängig davon war eine sofortige Entscheidung auch deshalb im öffentlichen Interesse notwendig, weil vom Kläger eine terroristische Gefahr ausgeht, die sich jederzeit aktualisieren kann (siehe näher unten). Die Anordnung von Abschiebungshaft ist erst möglich, wenn die Abschiebungsanordnung bereits ergangen ist (§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG). Besondere, atypische Umstände, die hier vor Erlass der Abschiebungsanordnung eine umfassende vorherige Anhörung ohne Gefährdung des Zwecks der Abschiebungsanordnung oder zumindest eine eingehendere Begründung der Ermessensentscheidung für den Verzicht auf eine Anhörung erfordert hätten, liegen nicht vor (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 17).

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b) Das Vorgehen der Behörde ist auch mit den Vorgaben des Unionsrechts, wie sie vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) zu beachten sind, vereinbar. Es kann daher offenbleiben, ob diese Richtlinie auf Rückkehrverfahren, die - wie hier - nicht zu migrationsbedingten Zwecken, sondern zum Schutz der öffentlichen Sicherheit bei einer terroristischen Gefahr gegen eine zuvor legal aufhältige Person durchgeführt werden, überhaupt Anwendung findet (vgl. zu der Problematik BVerwG, Beschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 Rn. 6).

24

Die Richtlinie 2008/115/EG selbst enthält nicht ausdrücklich ein Anhörungsgebot vor Erlass einer Rückkehrentscheidung. Dieses gilt aber als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. näher EuGH, Urteil vom 5. November 2014 - C-166/13 [ECLI:EU:C:2014:2336], Mukarubega - Rn. 40 - 45; BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 19). Das Recht auf Anhörung garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen. Die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, soll der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sind Grundrechte wie das Recht auf Beachtung der Verteidigungsrechte aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 [ECLI:EU:C:2014:2431], Boudjlida - Rn. 43). Dabei ist auch das Ziel der Richtlinie, nämlich die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in ihr Herkunftsland, zu berücksichtigen (ebenda, Rn. 45).

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Weitergehende Anforderungen ergeben sich entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung und der von ihr in diesem Zusammenhang angeregten EuGH-Vorlage (Schriftsatz vom 27. März 2018, Frage I.) auch nicht aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC). Soweit sie sich auf das Recht auf eine gute Verwaltung nach Art. 41 GRC beruft, das nach Art. 41 Abs. 2 Spiegelstrich 1 GRC insbesondere das Recht jeder Person umfasst, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass sich aus dem Wortlaut des Art. 41 GRC eindeutig ergibt, dass sich dieser nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet (EuGH, Urteil vom 5. November 2014 - C-166/13 - Rn. 44 m.w.N.). Ein schrankenloser Anspruch auf Anhörung vor Erlass einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme durch eine nationale Ausländerbehörde ergibt sich auch nicht aus Art. 47 GRC (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht) und Art. 48 GRC (Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte), ohne dass sich in diesem Zusammenhang eine dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegende entscheidungserhebliche Zweifelsfrage stellt.

26

Danach bedurfte es hier auch unionsrechtlich nicht zwingend einer Anhörung des Klägers durch die Beklagte vor Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung. Mit der grundsätzlichen Entbehrlichkeit einer Anhörung vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG wird u.a. bezweckt zu verhindern, dass sich die vorausgesetzte besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder terroristische Gefahr (die hier auch tatsächlich besteht, s.u.) in der Zwischenzeit realisiert (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5). Dies wäre bei Durchführung einer vorherigen Anhörung durch die zuständige Behörde - wie oben ausgeführt - nicht hinreichend sicher gewährleistet. Angesichts des überragenden Gewichts der Gründe, die in einem solchen Fall für ein Absehen von der Anhörung sprechen, liegt darin auch im Falle eines - wie hier - bis dahin legalen Aufenthalts kein unverhältnismäßiger Eingriff in das unionsrechtlich gewährleistete Anhörungsrecht, zumal dem Betroffenen das Recht auf rechtliches Gehör im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden gerichtlichen Rechtsbehelfe verbleibt.

27

2.3 Die Verfügung ist - wie der Senat bereits im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ausgeführt hat - auch materiell rechtmäßig. Die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ist gegenüber der Ausweisung nach §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie zielt auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder einer terroristischen Gefahr. Eine solche Gefahr ging vom Kläger bei Abschiebung aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose aus.

28

a) Der Begriff der "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" ist - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - nach der Rechtsprechung des Senats enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinen Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <120> = juris Rn. 17). In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 21).

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Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet haben. Diese sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt und gefährden die Sicherheitsinteressen auch anderer Staaten. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3) sowie dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) gewonnen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern geeignet sind (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 22).

30

Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr bei der ersten Alternative bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Dafür spricht auch die Regelung in § 11 Abs. 5 AufenthG, die die Abschiebungsanordnung in eine Reihe mit Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellt. Geht es um die Verhinderung schwerster Straftaten, durch die im "politischen/ideologischen Kampf" die Bevölkerung in Deutschland verunsichert und/oder staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmten Handlungen genötigt werden sollen, ist regelmäßig von einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und jedenfalls von einer terroristischen Gefahr auszugehen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 23).

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Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Ungeachtet ihrer tatbestandlichen Verselbstständigung ähnelt die Abschiebungsanordnung in ihren Wirkungen einer für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung ist sie aber mit Verkürzungen im Verfahren und beim Rechtsschutz verbunden. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AufenthG). Da es keiner Abschiebungsandrohung bedarf (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AufenthG), erübrigt sich auch die Bestimmung einer Frist zur freiwilligen Ausreise. Zuständig sind nicht die Ausländerbehörden, sondern grundsätzlich die obersten Landesbehörden (§ 58a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG). Die Zuständigkeit für den Erlass einer Abschiebungsanordnung begründet nach § 58a Abs. 3 Satz 3 AufenthG zugleich eine eigene Zuständigkeit für die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG ohne Bindung an hierzu getroffene Feststellungen aus anderen Verfahren. Die gerichtliche Kontrolle einer Abschiebungsanordnung und ihrer Vollziehung unterliegt in erster und letzter Instanz dem Bundesverwaltungsgericht (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen gestellt werden (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die mit dieser Ausgestaltung des Verfahrens verbundenen Abweichungen gegenüber einer Ausweisung lassen sich nur mit einer direkt vom Ausländer ausgehenden terroristischen und/oder dem gleichzustellenden Bedrohungssituation für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 24).

32

Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts überschreiten, bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, die zur Abwehr einer besonderen Gefahr lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose verlangt. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen angesichts des hohen Schutzguts und der vom Terrorismus ausgehenden neuartigen Bedrohungen für einen abgesenkten Gefahrenmaßstab, weil seit den Anschlägen vom 11. September 2001 damit zu rechnen ist, dass ein Terroranschlag mit hohem Personenschaden ohne großen Vorbereitungsaufwand und mit Hilfe allgemein verfügbarer Mittel jederzeit und überall verwirklicht werden kann. Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 25).

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Diese Auslegung steht trotz der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Einklang mit dem Grundgesetz (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42). Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche der Gefahrenabwehr mit dem Ziel schon der Straftatenverhinderung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Dann bedarf es aber zumindest einer hinreichend konkretisierten Gefahr in dem Sinne, dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen. Hierfür reichen allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, vielmehr müssen bestimmte Tatsachen im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung gewichtiger Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 26; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 45). Allerdings kann in Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerechtfertigt und die Teilnahme am sogenannten "Jihad" als verpflichtend ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - juris Rn. 18).

34

Für diese "Gefahrenprognose" bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen bzw. Spekulationen nicht ausreichen. Zugleich definiert dieser Hinweis einen eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss für ein Einschreiten nach § 58a AufenthG eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen kann (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 27).

35

Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Dabei kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - in der Gesamtschau ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, auch schon daraus ergeben, dass sich ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 28).

36

Der obersten Landesbehörde steht bei der für eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erforderlichen Gefahrenprognose aber keine Einschätzungsprärogative zu. Als Teil der Exekutive ist sie beim Erlass einer Abschiebungsanordnung - wie jede andere staatliche Stelle - an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) und unterliegt ihr Handeln nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der vollen gerichtlichen Kontrolle. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen behördlichen Beurteilungsspielraum. Auch wenn die im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche Prognose besondere Kenntnisse und Erfahrungswissen erfordert, ist sie nicht derart außergewöhnlich und von einem bestimmten Fachwissen abhängig, über das nur oberste (Landes-)Behörden verfügen. Vergleichbare Aufklärungsschwierigkeiten treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Der hohe Rang der geschützten Rechtsgüter und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung erfordern ebenfalls keine Einschätzungsprärogative der Behörde (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 29; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42).

37

b) In Anwendung dieser Grundsätze ging vom Kläger im (maßgeblichen) Zeitpunkt der Abschiebung aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG aus, auch wenn den Sicherheitsbehörden kein konkreter Plan des Klägers zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat bekannt geworden ist. Es bestand ein zeitlich und sachlich beachtliches Risiko, dass er einen terroristischen Anschlag begehen oder sich an einem solchen beteiligen würde, bei dem Unbeteiligte ums Leben kämen. Dieser Einschätzung liegt folgender Sachverhalt zugrunde (dazu aa) bis dd)):

38

aa) Der Kläger hat sich bereits seit dem Alter von 15 Jahren islamistisch radikalisiert. Ende 2014 war er häufiger Besucher des - inzwischen verbotenen - Kultur- und Familienvereins in B., der die "F. Moschee" betrieb und sich durch eine stark extremistische Auslegung des Islam auszeichnete. Die F. Moschee besuchte er, obwohl ihm in einer anderen Moschee mit der Begründung davon abgeraten worden war, dass er sonst "in zwei Wochen in Syrien" landen werde (P1 Bl. 35). Nach dem Freitagsgebet am 5. Dezember 2014 erfolgten dort Durchsuchungen aufgrund vereinsrechtlicher Verbotsmaßnahmen. Der anwesende Kläger wurde dabei polizeilich erfasst (AA Bl. 185). Bei anschließenden Internetrecherchen wurde ein mit großer Wahrscheinlichkeit dem Kläger zuzuordnendes ask.fm-Profil eines "C. J." aufgefunden, das die Flagge des sogenannten Islamischen Staates zeigte und weitere salafistische Inhalte aufwies. Der Nutzer gab an, dass es sein Ziel sei, "die höchste Stufe im Paradies zu bekommen", die nach jihadistischer Vorstellung den Märtyrern vorbehalten ist, und bezeichnete Kritiker des "IS" als "Medien-Opfer" (AA Bl. 179 ff., 186). Am 4. Dezember 2014 hatte der Kläger sich als Facebook-Nutzer "C. Aus F." nach Möglichkeiten erkundigt, wie er als Minderjähriger allein über die Türkei nach Syrien ausreisen könne. Drei seiner Freunde seien kürzlich ausgereist; außerdem halte sich seine ältere Schwester seit einem Monat in Raqqa/Syrien auf und stehe über Skype mit ihm in regelmäßigem Kontakt. Als Grund für seine Ausreiseabsicht gab er familiäre Probleme an, insbesondere die ablehnende Haltung seiner Eltern gegenüber seiner strenggläubigen Sicht. Kurze Zeit später traf sich der Kläger mit einem Bekannten, der schon einmal Richtung Syrien ausgereist, aber wieder zurückgekehrt war und der sich bereit erklärt habe, ihm ein Flugticket zu besorgen sowie ein Formular, das ihm die Ausreise ohne seine Eltern ermögliche (AA Bl. 184 ff.). Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzte die Ausreiseabsicht als glaubhaft ein und hielt fest, die Internetauftritte des Klägers und die Abkehr von seinem Bruder, der den "IS" ablehne, ließen eine Sympathie mit dem "IS" vermuten (AA Bl. 187). Aufgrund der für den 12. Dezember 2014 konkret geplanten Ausreise wurde die Wohnung des Klägers und seiner Eltern durchsucht; dabei wurden sein Reisepass, ein Laptop und ein Smartphone sichergestellt (P1 Bl. 31). Auf dem Smartphone wurden u.a. Videos mit Syrien- und "IS"-Bezug (u.a. Kriegsszenen, Bombenattentate, "IS"-Flagge) sowie sogenannte Nasheeds (Musik mit islamisch-religiösem Inhalt, P1 Bl. 67) gefunden.

39

Mit Verfügung vom 11. Dezember 2014 untersagte die Stadt Bremen dem Kläger unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland (AA Bl. 189). Bei seiner polizeilichen Befragung hatte der Kläger auf die Frage, warum so viele Menschen nach Syrien gehen, angegeben: "Um Shahid zu werden. Also ein Märtyrer. Man kommt sofort ins Paradies. Allah zeigt dann deren Häuser, sie kriegen nicht zwei, sondern 70 Frauen. Und wenn die Eltern des Gläubigen im Leben zu viele Sünden begangen haben und in der Hölle landen, können die Märtyrer sie aus der Hölle befreien. Das steht so im Koran." Ein Märtyrer sei für ihn "einer, der keine Muslime tötet." Er habe eigentlich nicht nach Syrien gehen, sondern im Internet nur damit angeben wollen. Seine Schwester wohne in O. und nicht in Syrien; er habe nicht mal die Pässe seiner Eltern (P1 Bl. 39). Sein Bekannter habe ihm auch gesagt, dass er sich noch gedulden und erstmal seine Religion lernen solle und dass "man für den Jihad auch eine Elternerlaubnis braucht". Er habe sich umentschieden und wolle das nun wegen seiner Eltern und seiner Zukunftspläne nicht (P1 Bl. 41). Im Februar 2015 stellten seine Lehrer im Gespräch mit einem Mitarbeiter des Beratungsnetzwerks "k.", der den Kläger regelmäßig betreute, fest, dieser sei ernsthaft gefährdet, nach Syrien auszureisen und sich dort den Kämpfern des "IS" anzuschließen. Er werde derzeit falsch beschult und wolle nach Syrien, "um dort seine Ruhe zu haben".

40

Entgegen der Auffassung des Klägers bedarf es nicht der Beiziehung der Verwaltungsvorgänge des Bundesamts für Verfassungsschutz, um der Gefährdungsprognose zugrunde zu legen, dass er eine Ausreise nach Syrien seinerzeit allem Anschein nach ernsthaft beabsichtigt hat. Hiervon ist allein aufgrund der geschilderten äußeren Umstände, die der Kläger nicht bestritten hat und die aktenkundig belegt sind, auszugehen. Die Vorbereitungen waren danach so weit gediehen, dass das Vorhaben - ungeachtet der "aufgebauschten", unzutreffenden Angaben über den Aufenthaltsort der Schwester - nicht mehr als eine reine Internet-Prahlerei eingestuft werden kann. Dies hat der Kläger letztlich auch selbst eingeräumt, indem er angegeben hat, er habe sich "umentschieden". An dieser Sachverhaltswürdigung hält der Senat fest, ohne dass darin - wie der Kläger meint - eine "eklektizistische Heranziehung einzelner als Tatsachen angenommener Erkenntnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz" liegt.

41

bb) Ab Juli 2015 war der Kläger wegen eines angespannten Verhältnisses zu seinen Eltern vorübergehend freiwillig durch das Jugendamt in einer Pflegefamilie untergebracht (P1 Bl. 71). Kurz nach Rückkehr in sein Elternhaus teilte seine Mutter der Polizei mit, ihr älterer Sohn, der "Wahhabit" sei, übe einen starken Einfluss auf den Kläger aus. Der Kläger trage seither lange Gewänder, suche regelmäßig eine Moschee in Hamburg auf und beteilige sich dort an den Koranverteilungsständen (P1 Bl. 77). Nach einem Vermerk einer Lehrerin des Klägers berichtete dieser im November 2015, dass er vor zwei Monaten in Köln ein Mädchen in einer Moschee geheiratet habe. Sie trage Burka; er kenne sie aus dem Internet und werde sie in einem Jahr nach Bremen holen. Er werde ihr erlauben zu arbeiten, und sie dürfe auch an Sportveranstaltungen nur mit Mädchen teilnehmen. Nach deutschen Gesetzen werde er nicht heiraten, da ihm dies seine Religion verbiete. Er vermeide alle deutschen Gesetze, soweit dies einigermaßen möglich sei. Er würde lieber in einem islamischen Land wohnen. Ein Schüler, der im Fach Kunst zum Thema "Karikatur" das "Kopftuchtragen" karikieren wollte, habe der Lehrerin nach Schulschluss gesagt, er traue sich nicht, wenn der Kläger in der Klasse sei. Er wolle nicht enden wie bei "Charlie Hebdo" (AA Bl. 242). Der Polizei gelangte zur Kenntnis, dass der Kläger das von den Sicherheitsbehörden überwachte Islamische Kulturzentrum ... (...) aufsuchte (AA Bl. 236, 260) und sich zudem im August 2015 an mehreren Infoständen der Koranverteilungsaktion "Siegel der Propheten" (SdP) in Hamburg beteiligt hatte, die der salafistischen Szene um Pierre Vogel und Sven Lau zuzurechnen sei. Unter den Facebook-Freunden des Klägers befänden sich viele SdP-Anhänger, die der salafistischen Szene angehörten (VV Bl. 34, AA Bl. 236). Der Kläger nahm Arabisch-Unterricht bei einem T. H., der der salafistischen Szene zuzurechnen ist und Kontakte zu Personen pflegte, die nach Syrien ausgereist waren oder dies versucht hatten. Inwieweit der Kläger auch Kontakt zur "IS"-Szene pflegte, war der Polizei seinerzeit nicht bekannt (AA Bl. 260).

42

Am 14. April 2016 fand an der Wohnanschrift des Klägers im Beisein seiner Mutter und seines Erziehungsbeistandes eine Gefährderansprache statt, nachdem er zuvor nur noch mit langem Gewand und Bart zur Schule gekommen war und dort mehrmals behauptet hatte, mit dem Leben abgeschlossen und vor dem Tod keine Angst zu haben (AA Bl. 258, VV Bl. 57). Ein Antrag auf Aufhebung der Ausreiseuntersagung wurde mit Bescheid vom 28. Juni 2016 abgelehnt (AA Bl. 269).

43

Im November 2016 schrieb der Kläger über einen Instagram-Account einen nach Syrien ausgereisten 19-Jährigen an, von dessen Ausreise er wusste (P1 Bl. 92). Im Dezember 2016 wurde der Kläger zum Zweck einer Befragung und Gefährderansprache von der Polizei aufgesucht (Polizei K 62 Bl. 75).

44

cc) Im Januar 2017 wurde dem Landeskriminalamt (LKA) Bremen ein Vermerk des Bundesamtes für Verfassungsschutz nebst einem 30-seitigen Chatverlauf (P2 Bl. 10 ff. = Strafverfahren 508 Js 9347/17 Hauptakte Bd. I Bl. 112 ff.) übermittelt, nach dem sich ein "M. M." aus E. - nach gescheiterter Ausreise zum "IS" - gegenüber einem unbekannten Chatpartner gedanklich mit der Umsetzung eines Anschlagsvorhabens in Deutschland mittels eines Sprengstoffgürtels oder einer Schusswaffe auseinandersetzte ("Vllt. Mache ich hier eine Operation") und dafür Unterstützung suchte. Er gab an, bereits mit zwei weiteren "Brüdern" in Kontakt zu stehen, darunter dem Kläger. Weiter bat er um Unterstützung seines Vorhabens und erkundigte sich bei jenem nach Möglichkeiten zur Herstellung eines Sprengstoffgürtels. Als Anschlagsort hatte M. das E. in Q. ins Auge gefasst, da es "[d]er meist besuchteste Ort Europas" sei und sich dort viele "kuffar" aufhielten.

45

Auf einer sogenannten Fake-News-Seite wurde ein - vom Kläger eingestellter - Eintrag über einen "K. C." gefunden, der angeblich nach Syrien ausgereist sei und zum Jihad aufruft (P2 Bl. 44 f., 173 ff.).

46

Bei der anschließenden Durchsuchung der Wohnung des Klägers und seiner Eltern wurden diverse mobile Endgeräte und Speicherkarten sichergestellt und der Kläger befragt (Polizei Bremen K 62 P 2 Bl. 48 ff., 53 ff.). Er gab u.a. an, "der E.er" habe ihm über seinen Account erzählt, dass er eine Operation in Deutschland machen wolle, und ihn gefragt, ob er mitmachen wolle. Er habe dann Ja gesagt. Warum, wisse er selber nicht ganz genau. Aber dann habe der andere gesagt, dass er alle Zivilisten, auch Frauen und Kinder töten wolle, was er - der Kläger - nicht gut gefunden habe. Er habe dies aber nicht gesagt, sondern sei bei "ja" geblieben. Er wisse aber nicht, was genau geplant sei. Erst sei von "Gürtelbombe", dann von "Pistole" und dann von beidem die Rede gewesen. Er - der Kläger - wolle eigentlich keinen Anschlag in Deutschland begehen, sondern eine Ausbildung machen. Der "IS" übertreibe zwar, er finde diesen aber besser als die Ex-Nusra. Was Anis Amri gemacht habe, sei nicht gut. Es seien alles unschuldige Menschen auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. Die Aufrufe zu Attentaten missbillige er auch beim "IS". Auf die Frage, wann ein Mensch einen anderen töten dürfe, antwortete er:

"Wenn der einen mit einem Messer angreift oder so. Oder wenn die Muslime bekämpft werden. Oder einen Soldaten, der einen Krieg gegen die Muslime führt. Alle unschuldigen Menschen sind raus. Man darf nur die töten, die mit Messer oder Waffe gegen die Muslime kämpfen. Oder hier in Deutschland: wenn ein Nichtmoslem einen Moslem tötet und andere Muslime sehen das, dann dürfen sie den auch töten. Das sagt der Koran. So wie Rache."

47

Auf die Frage, warum er denn so einer Operation zustimme:

"Ich wusste ja nicht, was er machen will. Gegen Zivilisten will ich ja nicht. Hätte ja auch sein können, dass es zum Beispiel gegen ein Justizgebäude geht, wo Muslime gefangen sind. Da hätte ich dann anders drüber gedacht. Oder ein Soldatenstützpunkt. Da hätte ich auch anders drüber nachgedacht." Vom Kläger handschriftlich ergänzt: "Anders nachgedacht drüber hätte ich es, aber es nie getan."

"Polizei nicht. Aber für den IS wäre eine Polizeistation schon okay."

48

Sein Glaube sage, dass ein Anschlag auf einen Soldatenstützpunkt okay wäre. Aber sein Herz tue dabei weh.

49

Auf die Frage, ob er bereit wäre, sich selbst zu opfern, gab der Kläger an:

"Das will ich nicht. Das habe ich dem aus E. aus gesagt. Das will ich gar nicht. Den Gelehrten, denen ich glaube, sagen alle, dass der Selbstmord nicht mit den Gesetzen Allahs vereinbar ist. Also kann ich zum Beispiel nie einen Anschlag mit Sprengstoffgürtel machen, weil das ja Selbstmord wäre. Das habe ich ihm auch gesagt. Da wollte ich dann nämlich nicht mitmachen. Aber da kam er mit seinem Scheinargument, dass man dann bei der Operation sowieso noch erschossen wird." Vom Kläger handschriftlich geändert: "vorstellen soll, was passiert, wenn man nicht erschossen wird, weil das Ziel ist, zu sterben."

50

Auf die Frage nach der Art der Operation:

"Ich habe ihn erstmal gefragt, wo er das machen will. Da meinte er, auf alle. Das fand ich dann ja nicht gut. Also einfach laufen und schießen und erschossen werden. Auf keinen Fall Selbstmord. Ich weiß aber ehrlich nicht, was genau mein Ziel ist. Ich bin mit meinem Glauben noch nicht so weit. Ich habe Angst ins Höllenfeuer zu kommen. Deswegen weiß ich auch nicht, warum ich ja gesagt habe. Vielleicht weil ich früher unbedingt nach Syrien wollte, um dort eine Waffe zu tragen. (...)"

51

Abschließend gab er an:

"Also gut finde ich Anschläge nicht. Ich stimme vielleicht am Anfang zu, bin mir aber sicher, dass ich am Ende nicht mitmache. Kurz vorm Ende würde ich dann sagen, dass ich nicht mitmache. Er meinte zu mir, dass wenn ich austrete, dass ich dann ein Heuchler bin. Meine Religion erlaubt es, aber ich finde es nicht gut und würde es nie mitmachen. Für mich ist ja Deutschland kein Land, was die Muslime angreift. So wie die Nazis halt. Deswegen würde ich hier keinen Anschlag machen."

52

Er habe seinem Gesprächspartner dann noch seinen Namen zur Kontrolle geschickt. Die wüssten ja über viele Muslime in der Welt Bescheid und könnten das prüfen. Jetzt bereue er das. Er habe nicht gewusst, dass es so weit komme, und alles für ein Spiel gehalten. Seinen Namen habe er nur gegeben, um zu erfahren, was der "IS" über ihn wisse. Er habe bei der ganzen Sache eigentlich nur den Exfreund seiner Freundin an den E.er vermitteln wollen, um ihn loszuwerden. Von ihm gehe keine Gefahr aus. Er habe bei der Operation ja auch gar nicht mitmachen wollen, sondern eher daran gedacht, dass es Spaß machen könne, mit einer Waffe rumzulaufen und zu schießen, also nicht auf Menschen, sondern zum Beispiel als Sport auf Zielscheiben. Er wolle aber gar keine Menschen töten. Die Fake-News betreffend seine Ausreise nach Syrien habe er selbst erstellt, so als Scherz. Das sei nur von jemand anderem kopiert gewesen (P2 Bl. 58).

53

Im Nachgang der Befragung brach der Kläger plötzlich zusammen und berichtete dem ihn begleitenden Polizeibeamten von Depressionen und Suizidgedanken:

"Ich habe seit drei bis vier Jahren Depressionen und Selbstmordgedanken. Meine Eltern haben mich früher geschlagen und es geht mir schon lange sehr schlecht. Ich habe diese Kontakte in das radikale Milieu mit der Religion und diesen Anschlagsplanungen nur, weil ich eigentlich einfach sterben will und nicht mehr hier sein möchte. Es geht bei diesen Kreisen viel um das Leben nach dem Tod und den Tod und deswegen beschäftige ich mich damit. Einfach weil ich sterben will. Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen.

Letztes Jahr wollte ich mich eigentlich schon vor einen Zug werfen und hatte einen Abschiedsbrief fertig geschrieben. Ich habe dann aber kurz vorher abgebrochen, weil ich nach Allahs Gesetzen ja ins Höllenfeuer komme, wenn ich Selbstmord begehe. Ich will unbedingt sterben und deswegen suche ich immer den Kontakt zu solchen radikalen Leuten. Die Religion ist da eigentlich gar nicht so im Vordergrund.

Ich will einfach ins Paradies kommen und nicht im Höllenfeuer landen. Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich kann mit niemandem darüber sprechen. Ich hatte erst heute, ca. zwei Stunden bevor sie bei mir zuhause waren, Selbstmordgedanken. Ich denke sehr viel darüber nach und will einfach weg hier. Ich weiß einfach nicht weiter. Deswegen habe ich zu dem Plan des Anschlags in Deutschland auch 'Ja' gesagt. Ich will unbedingt sterben, aber darf nach meinem Glauben nicht durch Selbstmord sterben." (P2 Bl. 64).

54

Der Kläger wurde sodann zunächst nach § 16 PsychKG, anschließend gemäß § 1631b BGB zwecks Erstellung eines Gutachtens zur Fremd- und Eigengefährdung im Klinikum B. untergebracht, wo er sich vom 14. Januar bis 2. März 2017 aufhielt (AA Bl. 428). Bei der Aufnahmeuntersuchung ist aufgrund einer psychiatrischen Untersuchung des Klägers als vorläufige Diagnose festgehalten "schwere depressive Episode mit suizidalen Gedanken"; der Kläger könne sich vorstellen, im Rahmen eines Attentats zu sterben (P2 Bl. 69 f.). Dem anordnenden Richter gegenüber erklärte er bei seiner Anhörung: Er könne sich niemals vorstellen, Selbstmord zu begehen, auch keinen Selbstmordanschlag. Das verbiete ihm der Islam. Die Kontaktperson aus E. habe ihm gegenüber geäußert, er wolle sich mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft sprengen und dabei auch Zivilisten mit in den Tod reißen. Er, der Kläger, habe ihn dann gefragt, ob er Beweise dafür habe, dass das nach islamischem Recht erlaubt sei, die Beweise habe dieser ihm aber nicht nennen können. Der Mann aus E. wolle jedenfalls einen Anschlag durchführen, wobei es geeignete Ziele überall in Europa gebe. Die Gelehrten des sogenannten "Islamischen Staates", die Selbstmordanschläge billigten oder dazu aufriefen, seien selbsternannte Gelehrte. Die richtigen Gelehrten, nach denen er sich richte, die vor mehreren hundert Jahren gelebt hätten, und die heutigen richtigen Gelehrten (etwa der Großmufti von Saudi-Arabien) würden den Suizid verbieten, auch Selbstmordanschläge, bei denen "Ungläubige" getötet würden. Jeder, der sich umbringe, komme ins Höllenfeuer. Daran glaube er, deshalb würde er sich nicht umbringen. Es sei von Anfang an nicht ernst gemeint gewesen, sich an Anschlägen zu beteiligen. Man dürfe Ungläubige nicht töten. Etwas anderes könne gelten, wenn zum Beispiel jemand ein Land besetze, dann dürfe man sich wehren (Polizei K 62 Bl. 73 f.).

55

Bei der Auswertung des sichergestellten Smartphones des Klägers wurden insgesamt ca. 42 000 Bilddateien mit Enthauptungsszenen und anderen Gewaltdarstellungen, Anschlagsszenarien, "IS"-Propagandamaterial, Abbildungen und Bedienungsanweisungen von Kurzwaffen etc. aufgefunden (Polizei K 62 am Ende; P3 Bilder). Eine Vielzahl der ca. 1 000 Videodateien enthielten Bezüge zum sogenannten Islamischen Staat (religiöse Lehrvideos, Märtyrerverherrlichungen, Propagandavideos des "IS", militärische Ausbildung von Kindern für den "IS") sowie brutale Gewalt- bzw. Folterdarstellungen oder entstellte Leichname (P2 Bl. 129). Ein Video, auf das zuletzt am 28. Dezember 2016 zugegriffen worden war, enthielt eine konkrete Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Herstellung einer Splitterbombe mit einfachsten Mitteln. Eine weitere Videosequenz zeigte einen Kurzfilm, in dem eine vermummte Person erklärt, wie ein Mensch mit einem einfachen Messer zu töten ist (P3 Videodateien). Aufgrund dieser Funde wurde gegen den Kläger ein Strafverfahren gemäß § 91 Abs. 1 Nr. 2 StGB eingeleitet (Staatsanwaltschaft Bremen 508 Js 9347/17).

56

Weiter wurde ein Chatverlauf gefunden, in dem der Kläger einem "C.U." bestätigt, er wolle mitmachen und habe mit einem "C.W." (M. aus E., vgl. P2 Bl. 130) bereits über eine "Op" gesprochen. Dieser habe ihm gesagt, dass die "Op von höchste abteilung von Dawla kommt", dass "wir nen wagen brauchen", und dass "jeder für die glock 2 monition bekommt". Auf Nachfrage des Chatpartners, ob er schon mal mit anderen Brüdern über eine Operation nachgedacht habe, erklärte der Kläger, er habe drei oder vier gefragt, einer überlege, die anderen wollten nicht und seien "Weicheier". Auf die Frage des Chatpartners, ob sie schon konkretere Planungen hätten, antwortete der Kläger: "Von C. W. nicjt • Er meinte wenn du der bist dass du es iwie planst • Er weiss nicht mal weöche stadt". Sein Chatpartner erwiderte, dies sei ein Missverständnis, er könne "von hier aus nichts planen", sondern sei nur um Rat gefragt worden. Der Kläger gab nunmehr an, er kenne sich in Bremen gut aus, wisse, wo die Polizeistationen, Justiz oder viele Menschen seien. Es gebe "hier auch kurdendemo usw". Schlussendlich erklärte er: "Ich plane dann mit C. W. • Aber woher das geld fpr sacjen kaufen • Und woher die sachen zum bomben bauen? • Und woher die GLOCK?" (Akte Polizei K 62, nicht nummeriert).

57

Nach einer Gefährderansprache am 13. Januar 2017 ging die Polizei von der Einschätzung aus, zum jetzigen Zeitpunkt bestehe keine unmittelbar bevorstehende Gefährdungslage, der Sachverhalt sei jedoch ernst zu nehmen (siehe auch VV Bl. 70: "hohe Gefahr, jedoch keine unmittelbare konkrete Gefahr"). Der Kläger stehe grundsätzlich für die Durchführung von Attentaten zur Verfügung. Er habe jedoch keinen eigenen Plan zur Durchsetzung, mithin keinen Tatentschluss. Es seien keine Vorbereitungshandlungen festgestellt worden. Hinweise auf direkte Kontakte zur terroristischen Organisation "Islamischer Staat" lägen derzeit nicht vor (P2 Bl. 60).

58

In seiner Beschuldigtenvernehmung im Strafverfahren am 7. Februar 2017 erklärte der Kläger, dass er wisse, um welches Video mit einer Bombenbauanleitung es gehe. Er habe sich dieses nur zum Teil angeschaut. Dieses und weitere Videos habe er aus einer Telegram-Chatgruppe, in welcher Werbung für den "Islamischen Staat" gemacht werde, heruntergeladen, um sie teilweise später anzuschauen. Zu dem Chatverkehr erläuterte er die dort erwähnten Personen. Er habe ein paar Leute gefragt, ob sie mitmachen wollen, einen aus Br. und einen aus S., den er nicht persönlich kenne und der gleich abgelehnt habe (P2 Bl. 130, 136).

59

Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Dr. K. führte in seinem Gutachten vom 16. Februar 2017 u.a. aus: Der Kläger habe noch zum Aufnahmezeitpunkt im Klinikum konkrete Suizidgedanken benannt, die er eigenen Angaben zufolge bereits längere Zeit und wiederholt gehabt habe; von Anschlagsgedanken zumindest auf nicht-zivile Ziele habe er sich nicht ausreichend distanzieren können. Die verbale Einstellungsänderung könne aufgrund des kurzen Klinikaufenthalts kaum das Resultat einer intensiven therapeutischen Einflussnahme sein. Ob wegen der salafistisch-religiösen Einstellung eine konkrete Fremdgefährdung bestehe, könne er - der Sachverständige - nicht differenziert beurteilen. Allerdings sei der Salafismus identitätsstiftend und fördere das Zusammengehörigkeitsgefühl. Der Kläger verfüge über eine beeinträchtigte Empathie. Durch die Kontakte zur radikal-islamistischen Szene habe er sich wohl deutlich aufgewertet. Eine gesicherte psychiatrische Diagnosestellung sei zum Untersuchungszeitpunkt nicht möglich. Die Reife des - leicht beeinflussbaren - Klägers entspreche ohne Zweifel dem Stand eines Jugendlichen und nicht dem eines Erwachsenen.

60

Zusammenfassend kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, es bestehe derzeit weiterhin die Gefahr bzw. ein "mittleres Risiko", dass der Kläger gravierende gewalttätige Handlungen unter Einschluss einer Eigen- und Fremdgefährdung bis hin zur Tötung begehe. Diese Gefährdung sei jedoch nicht als akut einzuschätzen (d.h. innerhalb von Stunden oder Tagen). Um mittel- und langfristig eine Gefahr für das Wohl des Betroffenen auszuschließen, sei ein Aufenthalt von zumindest einem halben Jahr in einer geschlossenen Jugendhilfeeinrichtung erforderlich, der nach Eintritt der Volljährigkeit allerdings seine Zustimmung voraussetze.

61

dd) Die Bedenken des Klägers gegen die Verwertung dieses Gutachtens im Rahmen der Gefahrenprognose greifen nicht durch. Dass das Gutachten in einem anderen Kontext und mit einer anderen Zielrichtung erstellt worden ist, steht der - nur ergänzenden und inhaltlich wertenden - Heranziehung im Rahmen der vorliegend anzustellenden Gefahrenprognose nach der ergänzenden Stellungnahme des Gutachters vom 22. Mai 2017 nicht entgegen (Gerichtsakte - GA - 1 VR 3.17 Bl. 319). Der Gutachter räumt ein, dass die Manuale HCR 20 und SAVRY, nach denen die Prognosebeurteilung vorgenommen worden ist, für Personen entwickelt worden sind, die bereits durch gewalttätige Straftaten in Erscheinung getreten sind. Auch wenn daher keine 1:1-Übersetzung vorgenommen werden könne, seien die Kriterien dieser Prognoseinventare in einer gesamtkontextuellen Bewertung dennoch zweckmäßig anzuwenden. Grundsätzlich würden zum Teil auch bei Personen, die noch keine strafrechtlich relevanten Taten begangen hätten, die in den genannten Prognosemanualen angeführten Kriterien überprüft. Er habe die Prognoseinventare als orientierende Leitlinie genutzt und sei sich dabei deren eingeschränkter Anwendbarkeit bewusst gewesen. Elemente der Begutachtung könnten daher durchaus für die vorliegende Fragestellung Verwendung finden. Jedenfalls beruht das Ergebnis des Gutachtens auf einer umfassenden Auswertung des dem Gutachter zur Verfügung gestellten Aktenmaterials, aus dem der Gutachter Schlüsse zieht, die auch unabhängig von den dem Senat im Einzelnen nicht bekannten Prognosemanualen nachvollziehbar erscheinen und im Einklang mit der ordnungsrechtlichen Gefahrenbewertung stehen, wie sie auch nach dem Akteninhalt im Übrigen veranlasst ist. Die Einschränkung des Sachverständigen, er könne nicht differenziert beurteilen, ob aus Gründen salafistischer Einstellungen eine Fremdgefährdung bestehe, da er Kinder- und Jugendpsychiater und kein Islamforscher sei (GA 1 VR 3.17 Bl. 320), begründet ebenfalls keine grundsätzlichen Zweifel an der nur ergänzenden, die Prognose im Übrigen stützenden Heranziehung dieses Gutachtens.

62

Entgegen der Auffassung des Klägers (GA 1 VR 3.17 Bl. 365) begründet die Übermittlung des Schriftsatzes seiner Prozessbevollmächtigten an den Sachverständigen durch die Beklagte zwecks Stellungnahme zu der dort angeführten Kritik an seinem Gutachten jedenfalls im Ergebnis kein Verbot, diese im gerichtlichen Verfahren zu verwerten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Fehlen einer Entbindung des Gutachters von der Schweigepflicht seitens des Klägers - dessen sich der Gutachter im Übrigen bewusst war - den von diesem gegebenen, lediglich abstrakten und die zugrunde gelegten Prognosemaßstäbe betreffenden Antworten entgegenstehen könnte. Auch sonst begegnet die Verwertung der ergänzenden Stellungnahme des Gutachters ebenso wie die Verwertung des Gutachtens als solches, das bereits von der Beklagten für die angefochtene Anordnung herangezogen und ausgewertet worden war, ohne dass dies beanstandet worden wäre, und auf das vom vormaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers selbst Bezug genommen worden ist, im vorliegenden Verfahren mit Blick auf den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) nach Vorlage der entsprechenden Akten jedenfalls im Ergebnis keinen durchgreifenden Bedenken (s.a. § 98 VwGO i.V.m. § 411a ZPO ). Zu einer näheren Auseinandersetzung mit den Prognosemanualen sieht der Senat auch weiterhin keinen Anlass, zumal er das Gutachten nur wie eine in die Gefahrenprognose einfließende Stellungnahme und nicht wie ein echtes Sachverständigengutachten, dessen es hier nicht bedarf (siehe unten), verwertet.

63

Unerheblich ist, ob die - z.T. vorstehend wiedergegebenen - mündlichen Angaben, die der Kläger bei verschiedenen Befragungen u.a. durch die Polizei gemacht hat, in einem Strafverfahren verwertbar wären, was er weiterhin bezweifelt. Die im Klageverfahren aufrecht erhaltenen und vertieften Rügen des Klägers betreffen insoweit spezifisch strafprozessuale Garantien (z.B. die Eröffnung vor einer Vernehmung, welche Tat einem Beschuldigten zur Last gelegt wird <§ 136 Abs. 1 Satz 1 StPO>, Belehrung über das Schweigerecht, das Recht, vor der Vernehmung einen Verteidiger zu befragen <§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO> oder die Notwendigkeit der Zuziehung eines Pflichtverteidigers; jugendspezifische Modifikationen solcher Belehrungen gemäß § 70a JGG), die im vorliegenden gefahrenabwehrrechtlichen Zusammenhang nicht einschlägig sind, weshalb ihre - unterstellte - Missachtung in diesem Zusammenhang kein Verwertungsverbot begründen könnte. Darin liegt keine "Umgehung" strafprozessualer Garantien. Dass die Befragungen elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen, zu denen etwa das Folterverbot zählt, oder Grundsätzen rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung nicht genügt haben könnten, woraus ggf. auch im gefahrenabwehrrechtlichen Kontext ein - verfassungsunmittelbares - Verwertungsverbot erwachsen könnte, ist anhand der Einwände des Klägers und unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Polizei vom 12. Mai 2017 (Verwaltungsvorgang = VV Bl. 447) nicht erkennbar.

64

ee) Dieser Sachverhalt rechtfertigt die Bewertung, dass von dem Kläger ein beachtliches Risiko ausgeht, dass er einen terroristischen Anschlag, bei dem Unbeteiligte ums Leben kämen, begeht oder sich an einem solchen beteiligt. Nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden ist er der radikal-islamistischen Szene in Deutschland zuzurechnen und pflegt Kontakte mit Personen aus diesem Umfeld. Er sympathisiert mit der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" sowie deren Märtyrerideologie und billigt die Anwendung von Gewalt bis hin zur Tötung von Menschen unter bestimmten, selbstdefinierten Voraussetzungen. Die von ihm gemachten Einschränkungen (keine Zivilisten/unschuldige Menschen) schließen zum einen terroristische Anschläge, etwa auf Soldatenstützpunkte oder Justizgebäude, nicht aus. Zum anderen sind sie nicht glaubhaft, weil der Kläger in dem erwähnten Chat mit der "C. U." genannten Person auch geäußert hat, er wisse, wo sich in B. "viele Menschen" oder eine "Kurdendemo" befänden. Auch der M. wollte nach Angaben des Klägers einen Anschlag auf Zivilisten planen; hierzu erklärte sich der Kläger ohne Einschränkungen bereit. Warum er in diesem Zusammenhang nicht widersprach, wenn er dies eigenen Angaben zufolge nicht billigte, konnte er nicht erklären. Die Schädigung auch und vor allem von Zivilisten entspricht im Übrigen dem typischen Bild der in den letzten Jahren in Europa verübten, dem "IS" zugerechneten Terroranschläge. Dies ist auch dem Kläger bekannt, auf dessen Smartphone u.a. Bildmaterial zu dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz aufgefunden worden ist.

65

Ohne Erfolg wendet der Kläger gegen die Würdigung der verschiedenen Chats ein, der Senat habe bestimmte Widersprüche übersehen (Schriftsatz vom 9. Februar 2018, S. 3 f.). Dieser Annahme liegen vielmehr Missverständnisse des Klägers zum Akteninhalt und zum Senatsbeschluss zum vorläufigen Rechtsschutz zugrunde. Soweit M. M. nach polizeilichen Erkenntnissen davon ausgegangen ist, dass sein Chatpartner nach Syrien ausgereist sei (vgl. Strafanzeige vom 8. Februar 2017, Strafakte Hauptakte Bd. I, Bl. 3 ff.), betrifft dies den Chat mit einem unbekannten Partner, also nicht dem Kläger (Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 40). Die Angaben des Klägers in seiner Beschuldigtenvernehmung am 7. Februar 2017 (P2 Bl. 136) deuten dabei darauf hin, dass es sich bei diesem Unbekannten um die "C. U." genannte Person handelt, mit der der Kläger seinerseits später gechattet hat. Auch wird in Rn. 40 des zitierten Beschlusses keineswegs ausgeführt, der Kläger habe gegenüber M. M. aus E. angegeben, eine "Operation in Deutschland zu planen". Soweit die Aussagen und Angaben des Klägers im Übrigen von Ambivalenzen durchsetzt sind, unterliegen auch diese der gerichtlichen Beweiswürdigung.

66

Die Hinwendung des Klägers zu einer gewaltbejahenden, jihadistischen Ausrichtung des Salafismus kommt schließlich in der von ihm ins Internet gestellten Fake-News zum Ausdruck, in der er offen zum Jihad aufruft: "Wenn ihr schon nicht auswandert und kämpft, dann macht es hier. Allah gibt euch die Möglichkeit, den Jihad auch hier zu führen". Sie wird weiter bestätigt durch die Menge und insbesondere den Inhalt des auf seinem Smartphone aufgefundenen "IS"-Propagandamaterials. Inwieweit er dieses bereits angesehen hat, spielt dabei keine Rolle. Denn jedenfalls ist davon auszugehen, dass er im Wesentlichen wusste, was er dort herunterlud, und die Dateien irgendwann auch ansehen wollte. Der Einwand, kriminologisch bestehe kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Konsum medialer Gewalt und deren Anwendung in der außervirtuellen Realität, mag für allgemeine Gewalthandlungen dem überwiegenden Forschungsstand entsprechen, der aber nicht auf ideologisch motivierte Gewalthandlungen bezogen ist. Dies führt daher ebenso wenig zu einer günstigeren Prognose wie der Umstand, dass nicht alles, was der Kläger im Internet gepostet hat, eine Entsprechung in der Realität hat. Denn die im Verhalten des Klägers jedenfalls nicht nur punktuell oder vorübergehend zum Ausdruck kommende gewaltbejahende Haltung ist vorliegend nur ein Element im Rahmen einer vom Senat vorgenommenen umfassenden Persönlichkeitsbewertung.

67

Der Kläger hat sich auch nicht nur passiv abwartend verhalten oder auf Anstöße Dritter lediglich positiv reagiert. Er hatte vielmehr eigenen Angaben zufolge bereits mehrere andere Personen gefragt, ob sie sich an einem Anschlag beteiligen würden. Nicht zuletzt das Herunterladen einer konkreten Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Bau einer Splitterbombe mit einfachen Mitteln dokumentiert, dass der Kläger ernsthaft mit dem Gedanken eines Anschlags spielte. Dies bestätigte er in dem aus der Abschiebehaft heraus gegebenen Interview, in dem er angesprochen auf das Bombenbau-Video erklärte, dieses aus Interesse heruntergeladen zu haben. Auch im Rahmen seiner richterlichen Vernehmung zur Anordnung von Untersuchungshaft hat der Kläger eine intensive Befassung mit diesem Video und ein ohne Anschlagspläne nicht hinreichend erklärliches, ausgeprägtes Interesse an den Verwendungsmöglichkeiten und Auswirkungen von Bomben erkennen lassen (Strafverfahren 508 Js 9347/17, Hauptakte Bd. II, Bl. 244).

68

Die Einschätzung, dass ein Terroranschlag unter Beteiligung des Klägers in überschaubarer Zukunft im Zeitpunkt seiner Abschiebung hinreichend wahrscheinlich war, wird auch durch die von ihm selbst gegenüber verschiedenen Adressaten (Schule, Polizei) geäußerten Suizidgedanken bestätigt. Seine spätere Distanzierung hiervon rechtfertigt keine andere Beurteilung, weil sie Ausdruck der vielfältigen Stimmungs- und Meinungsschwankungen des Klägers und im Übrigen nicht glaubhaft ist. In einem Vermerk der Polizei ist festgehalten, dass der Kläger "in der damaligen Situation seine Depression und Suizidgedanken sehr eindringlich und überzeugend darstellte. Zu Beginn sackte er vor KOK B. zu Boden und schilderte in Folge über einen längeren Zeitraum immer wieder unter Tränen gegenüber der Polizei sowie dem Sozialpsychiatrischen Dienst seine Suizidgedanken". Noch im Gespräch mit dem Sachverständigen Anfang 2017 hat sich der Kläger von Suizidgedanken nicht eindeutig distanziert, sondern diese letztlich bestätigt. So hat der Kläger ausweislich des Gutachtens von Dr. K. angegeben: "Die Selbstmordgedanken seien erst nach der Razzia gekommen, das sei so gewesen wie nach der ersten Razzia vor etwa drei Jahren. Sonst habe er niemals Selbstmordgedanken gehabt. Er habe auch niemals ein Attentat machen wollen. Das Ziel des Sterbens sei doch lediglich, ins Paradies zu kommen, das wolle er." Der Sachverständige geht von einer zum Zeitpunkt der stationären Einweisung akuten suizidalen Gefährdung aus. Bezogen auf den Zeitpunkt der Gutachtenerstellung erkannte er weiterhin die - lediglich nicht (mehr) akute - Gefahr, dass der Betroffene sich selber tötet oder erheblichen Schaden zufügt oder aber in diesem Zusammenhang auch andere tötet oder diesen erheblichen Schaden zufügt (VV Bl. 183). Dies erscheint auch angesichts des vergleichsweise kurzen Klinikaufenthalts und der vom Kläger selbst geschilderten, bereits wiederholt aufgetretenen Suizidgedanken für den Senat nachvollziehbar.

69

Zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung - etwa durch eine vom Kläger angeregte Vernehmung der beiden bei seinem Zusammenbruch anwesenden Polizeibeamten - hatte der Senat in diesem Zusammenhang angesichts des hinreichend stimmigen Bildes keinen Anlass. Einen förmlichen Beweisantrag hat der Kläger im Übrigen hierzu in der mündlichen Verhandlung nicht gestellt.

70

Gegen eine vom Kläger ausgehende Gefahr eines Terroranschlags spricht auch nicht, dass er immer wieder betont hat, ein Selbstmord sei mit seinem Glauben nicht zu vereinbaren. Selbst wenn man die Glaubensüberzeugung als verfestigte annimmt, hindert dies nicht die Begehung eines Anschlags, bei dem er in Kauf nimmt, selbst getötet zu werden ("Also einfach laufen und schießen und erschossen werden", s.o.).

71

Bei der Gefährdungseinschätzung ist weiter zu berücksichtigen, dass der Kläger als naiv, leicht beeinflussbar und seine Meinungen rasch ändernd beschrieben wird, was durch zahlreiche seiner Äußerungen bestätigt wird. Soweit er durch seine bei Anhörungen und Vernehmungen und in den in der Haft verfassten Briefen getätigten Aussagen den Eindruck vermittelt hat, einem "friedlichen" Zweig des Salafismus zuzuneigen, wonach ein Selbstmordanschlag verboten sei, und denjenigen "Gelehrten" zu vertrauen, die dies ablehnen, handelt es sich erkennbar auch um verfahrensangepassten Vortrag. Überdies weist es nicht auf eine hinreichend gefestigte Meinungs- und Einstellungsänderung, weil an anderer Stelle angegeben wird, er sei ein "Suchender" und wisse "ehrlich nicht, was genau mein Ziel ist. Ich bin mit meinem Glauben noch nicht so weit" (AG Bremen 71 F 134/17 EAUB Bl. 57, 58). Er oszillierte zwischen einer gemäßigten und einer klar jihadistischen Ausrichtung seiner religiösen Vorstellungen jedenfalls verbal hin und her und hat auch für letztere deutliche Sympathien gezeigt. Zu den nicht hinreichend stabilen und zudem verfahrensangepassten Äußerungen rechnet auch seine zuletzt erfolgte Distanzierung von jihadistischen Vorstellungen. So bezeichnete er nunmehr C. Y. und weitere distanzierend als "Hassprediger, die zum IS aufrufen. Die radikalisierten lernen ALLE von den" (VV Bl. 353). Dabei ließ er aber unerwähnt, dass er laut einem Chat mit seiner Partnerin von Dezember 2016 die "gleiche aqidah" (Glaubensüberzeugung, Fundament) wie C. Y. hat und zu diesem auch persönlich Kontakt hatte (P6 Chatverlauf U. G.).

72

Angesichts seiner von vielen Beobachtern - darunter auch seiner Mutter - beschriebenen Leichtgläubigkeit und Beeinflussbarkeit brauchte es nach der Einschätzung des Senats selbst dann, wenn der Kläger im Zeitpunkt seiner Abschiebung von der Begehung eines Terroranschlags noch nicht überzeugt gewesen sein sollte, nur eines geringen Anstoßes durch "Freunde" bzw. "IS"-Kontakte, um ihn zu einem solchen Schritt zu bewegen. Dazu konnte etwa ausreichen, dass ihn jemand davon überzeugte, Deutschland sei ein Land, das die Muslime "angreift". Von eben dieser Ideologie gehen seiner Meinung nach die "Hassprediger, die zum IS aufrufen", aus, und er hat in einem handschriftlichen Brief eingeräumt, diesen bis vor kurzem auch gefolgt zu sein. Erst drei Wochen zuvor habe er sich von diesen Leuten abgewandt und sich von dieser Ideologie distanziert. Gründe für diesen plötzlichen Sinneswandel hat er jedoch nicht benannt. Auch Dr. K. hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass ein Mangel an tiefgreifender Einsicht bestehe und die vorgegebenen Einsichten eher oberflächlicher Natur seien. Dessen Einschätzung, die gezeigte plötzliche Reue und Einsicht könne kaum die Folge eines reflektierten Prozesses in dieser Kürze der Zeit sein, sondern dürfte lediglich unter dem Eindruck der eingeleiteten Maßnahmen entstanden sein und sei insofern nicht als ausreichend tiefgreifend und stabil anzusehen (Gutachten S. 48), ist für den Senat ohne Weiteres nachvollziehbar und wird durch die beigezogenen Verwaltungsvorgänge bestätigt.

73

Der Kläger konnte einer weiteren Einflussnahme durch Internetkontakte und schnell als Freunde betrachtete Bekannte aus der salafistischen Szene etwa in dem von ihm frequentierten Islamischen Kulturzentrum ... (...) aus seiner Persönlichkeit heraus, aufgrund familiärer Einbindung oder Betreuung durch die Jugendhilfe im Zeitpunkt seiner Abschiebung auch nichts (Hinreichendes) entgegensetzen (siehe auch Gutachten S. 49). Wie ein Polizeibeamter festgestellt hat und sich auch aus seinen zur Akte gelangten handschriftlichen Schreiben ergibt, kreiste sein ganzes Denken praktisch ausschließlich um den Islam und die Frage, was die Religion ihm gebietet. Trotz mehrerer Gefährderansprachen und einer ihm zur Seite gestellten Erziehungsbeistandschaft hat er sich von der radikalen islamistischen Szene nicht lösen können. Noch nach Erlass der angefochtenen Verfügung suchte er aus der Abschiebehaft heraus Kontakt zu einer der Personen, die er zwecks Teilnahme an einem Attentat angefragt hatte, sowie zu dem M. aus E., der nach Angaben des LKA D. eine psychische Erkrankung/Schizophrenie aufweisen soll. Letzterer sowie zwei weitere Personen, die zwecks Ausreise nach Syrien in die Türkei gereist und dort festgenommen worden waren, hätten nach Einschätzung des Klägers ihre Ansichten nunmehr geändert und seien nicht mehr radikal. Dem M. vertraue er jetzt (P2 Bl. 220). Schließlich hat der Kläger weiterhin Kontakt zu seinem Freund und Arabisch-Lehrer T. H. unterhalten, der - u.a. als Besucher des ... - der salafistischen Szene in B. zuzurechnen ist (vgl. AA Bl. 260) und ihn in der Abschiebehaft besuchen wollte (GA 1 VR 3.17 Bl. 360, 379 ff.). Dies bekräftigt die bei Abschiebung gerechtfertigte Prognose, dass der Kläger auch zukünftig nicht in der Lage sein wird, sich aus der radikal-salafistischen Szene zu lösen, und dass er aufgrund seiner bereits tiefen Verstrickung in diese und seinen absolut überzeugten religiösen Ansichten zeitnah wieder an einen Punkt gelangen kann und wird, an welchem er terroristischen Handlungen zuneigt (s.a. P2 Bl. 226).

74

Für eine weiter fortschreitende Empfänglichkeit für radikales Gedankengut und eine dieses umsetzende Gewaltbereitschaft spricht auch, dass der Kläger in den radikal-salafistischen Kreisen eine Aufwertung und ein Gefühl des Dazugehörens erfahren hat, die ihm im sonstigen Leben angesichts weitgehenden schulischen Versagens und den daraus resultierenden Konflikten mit seinen Eltern nicht zuteil geworden sind. Zahlreiche Einschätzungen etwa von Lehr- und Betreuungspersonen, Polizeibeamten sowie des Pflegepersonals im Klinikum wiesen auf eine schwierige Zukunftsperspektive hin. So hat etwa ein Polizeibeamter seine Eindrücke dahin geschildert, dass sich die Interessen des Klägers ganz auf den Islam fokussierten: "Der Betroffene wirkte sehr schlicht und naiv. Er weist keine seinem Alter entsprechende Intelligenz auf. Sein Wissen dreht sich nur über den Islam. Dadurch wird das Allgemeinwissen komplett in den Hintergrund gedrängt. Viele ihm gestellte Fragen konnte der Betroffene nicht beantworten oder er gab eine Antwort, die keinen Sinn ergab" (AA Bl. 259). Ebenso wenig konnte darauf vertraut werden, dass eine stabile Beziehung zu seiner Freundin/islamisch angetrauten Ehefrau im Ernstfall geeignet sein könnte, ihn von der Begehung eines Terroranschlags abzuhalten. Diese bewegt sich in den gleichen islamistischen Kreisen wie der Kläger. Ihr früherer Lebensgefährte soll ihr geraten haben, den Kläger in der Haftanstalt mit einem Bombengürtel zu besuchen. Mit diesem früheren Lebensgefährten U. C. hat auch der Kläger Kontakte gepflegt. Er ist eine der Personen, die der Kläger für die Beteiligung an einem Anschlag angefragt hat ("S"), und auch in einem Chat mit seiner Freundin tauschten beide sich umfangreich über U. C. und dessen Ausreisepläne aus (Kläger: "Er lösst dich vllt hier - Und geht mit mir" ). Unabhängig davon war die Beziehung des Klägers zu seiner Partnerin nach dem Schriftsatz seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 11. Juni 2017 (S. 13) aber noch vor seiner Abschiebung beendet und kam schon deshalb als mögliches "Korrektiv" nicht mehr in Betracht.

75

Aus den vorstehend genannten Gründen hält der Senat es - bezogen auf den Zeitpunkt der Abschiebung - tatsachengestützt für hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger in überschaubarer Zukunft einen - ohne großen Vorbereitungsaufwand möglichen - Terroranschlag in Deutschland begehen würde, bei dem auch Unbeteiligte ums Leben kämen. Die von ihm ausgehende Bedrohungssituation konnte sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dieser gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen. Der Senat verkennt nicht, dass auch andere Deutungen der festgestellten Tatsachen und Äußerungen nicht ausgeschlossen sind. Die für einen in überschaubarer Zukunft drohenden Terroranschlag sprechenden tatsächlichen Anhaltspunkte und Gründe waren aber mindestens ebenso gewichtig wie die möglicherweise für eine gegenteilige Prognose sprechenden Gründe. Dies reicht nach den oben dargelegten Maßstäben für das im Rahmen von § 58a AufenthG erforderliche, aber auch ausreichende beachtliche Risiko aus.

76

ff) Der Senat hat bereits im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes darauf hingewiesen, dass er zu dieser bewertenden Gesamtschau gelangen kann, ohne auf das vom Bundeskriminalamt entwickelte Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE (Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus - dazu Pressemitteilung des Bundeskriminalamts vom 2. Februar 2017) oder vergleichbare Instrumente zur Risiko- bzw. Gefährlichkeitseinschätzung (s. dazu Rettenberger, Die Einschätzung der Gefährlichkeit bei extremistischer Gewalt und Terrorismus, Kriminalistik 2016, 532) zurückgreifen zu müssen. Derartige Instrumente können bei Beachtung ihrer methodischen Anwendungsvoraussetzungen und unter Berücksichtigung der Grenzen ihrer Aussagekraft für eine erste Risikoeinschätzung nützlich und hilfreich sein und etwa die sicherheitsbehördliche Entscheidung über das Ob und den Umfang zu treffender Maßnahmen unterstützen; es handelt sich aber nicht um Instrumente, deren Einsatz notwendige Voraussetzung der gebotenen gerichtlichen Gesamtschau ist. Dies bestätigen die Angaben der Vertreter der Beklagten und des LKA Bremen in der mündlichen Verhandlung zur Funktion und Handhabung von RADAR-iTE. Danach handelt es sich hierbei lediglich um ein Instrument zur strukturierten Erhebung der für eine Gefährdungsprognose relevanten Tatsachen, das der Priorisierung der polizeilichen Arbeit dient, eine eigenständige Gefahrenbewertung durch die Polizeibehörden aber nicht ersetzt.

77

Der Vertreter des LKA Bremen hat auf Nachfrage weiter ausgeführt, das Bundeskriminalamt (BKA) habe RADAR-iTE auf den Kläger angewandt und das Ergebnis dem LKA Bremen am 7. Februar 2017 übermittelt. Das LKA Bremen habe sich sodann einen eigenen Eindruck verschafft und eine Gefährdungsbewertung erstellt. Alle der RADAR-iTE-Anwendung und der Gefährdungsbewertung des LKA zugrunde gelegten Tatsachen seien dem Senator für Inneres zur Verfügung gestellt worden und Bestandteil der dem Senat vorliegenden Akten. Im Ergebnis habe RADAR-iTE beim Kläger zu einem Punktwert von 5 geführt, der für sich allein ein "moderates Risiko" bedeute. Der eher geringe Punktwert ergebe sich vor allem daraus, dass hier kein Fall vorliege, in dem der Betroffene bereits unmittelbar physische Gewalt angewandt habe. Zusätzlich seien beim Kläger jedoch zwei "rote Flaggen" festgestellt worden, nämlich die "behördliche oder gerichtliche Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung" sowie Suizidalität bzw. "psychiatrische Erkrankungsvermutung". Der Punktwert 5 in Verbindung mit den beiden "roten Flaggen" bedeute im Ergebnis ein "auffälliges Risiko", d.h. die erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Begehung einer schweren Gewalttat in Deutschland. Dabei seien auch die hohe Beeinflussbarkeit des Klägers, sein verminderter "Überlebensinstinkt", und die Tatsache berücksichtigt worden, dass die Familie keinen ausreichenden "Schutzraum" dargestellt habe. Das BKA habe die RADAR-iTE-Anwendung als Verschlusssache eingestuft, weshalb diese nicht Bestandteil der dem Gericht vorgelegten Verwaltungsvorgänge (sondern aus diesen ausgeheftet worden) sei.

78

Der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers, das Prognoseinstrument RADAR-iTE in das Verfahren einzubeziehen und auf den Kläger anwenden zu lassen, war vor diesem Hintergrund schon deshalb abzulehnen, weil er durch die vorstehenden Angaben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung überholt war. Auch dem Antrag, die so gewonnenen Erkenntnisse im Kontext des aktuellen Forschungsstandes von einem Sachverständigen bewerten zu lassen, brauchte der Senat nicht nachzukommen, weil er nicht auf eine dem Beweis zugängliche Tatsache gerichtet war. Bei beiden Begehren handelte es sich zudem insgesamt um einen Beweisermittlungsantrag.

79

Ebenso wenig war dem Antrag zu entsprechen, die Verwaltungsvorgänge des LKA Bremen und des BKA betreffend die RADAR-iTE-Anwendung auf den Kläger beizuziehen. Es ist weder plausibel dargelegt noch ersichtlich, inwiefern die Beiziehung dieser Akten geeignet sein könnte, zu einer für den Kläger günstigeren Gefährlichkeitsbewertung zu führen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42). Zum einen spricht angesichts der dargelegten Erläuterungen des Vertreters des LKA Bremen nichts dafür, dass diese Vorgänge weitere, bisher im vorliegenden Verfahren nicht aktenkundige Basistatsachen enthalten, die in die Gefahrenprognose einzustellen wären. Zum anderen ist das Ergebnis der RADAR-iTE-Anwendung, es bestehe ein "auffälliges Risiko", mit dem Ergebnis der vom Senat vorgenommenen Prognose auch nicht erkennbar unvereinbar.

80

Anders als der Kläger meint, bedarf es für diese - auf einer breiten Tatsachengrundlage beruhende - Gesamtschau auch nicht der Einholung eines konkret auf die Gefahreneinschätzung im Sinne des § 58a AufenthG bezogenen, "psychowissenschaftlichen" Sachverständigengutachtens. Dem Beweisantrag,

"zum Beweis der Tatsache, dass die von dem Kläger getätigten Äußerungen betreffend terroristische Anschläge jugendtypischem Geltungsbedürfnis entsprungen sind und nicht auf einer tatsächlichen Bereitschaft zu einem terroristischen Anschlag beruhen, dem Kläger das Betreten des Bundesgebiets zu ermöglichen und ihn durch einen im Bereich Jihadismus und Jugendkultur kompetenten Sachverständigen begutachten zu lassen,"

war daher schon wegen eigener hinreichender Sachkunde des Gerichts nicht nachzugehen. Im Gegensatz zur Sicherungsverwahrung hat der Gesetzgeber vor dem Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG die vorherige Einholung eines Gutachtens nicht vorgesehen. Ein solches ist auch nicht von Verfassungs wegen erforderlich. Mit einer Abschiebungsanordnung steht zwar ebenfalls ein schwerwiegender Grundrechtseingriff in Rede, die Auswirkungen einer langfristigen Freiheitsentziehung auf die selbstbestimmte Lebensführung des Betroffenen sind im Vergleich dazu aber noch gewichtiger. Bei Ausweisungen entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass die Behörde bzw. das Gericht die Gefahrenprognose aus eigener Kompetenz treffen können, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung bestehen (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 11. September 2015 - 1 B 39.15 - Buchholz 402.261 § 6 FreizügG/EU Nr. 3 Rn. 12). Der Senat sieht auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass bei Abschiebungsanordnungen nach § 58a AufenthG häufig noch keine Straftat begangen bzw. in einem Strafverfahren rechtskräftig nachgewiesen wurde, keinen Anlass, insoweit von anderen Grundsätzen auszugehen. Danach ist der Senat vorliegend zu einer eigenständigen Gefahreneinschätzung berufen. Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung ist hier zuletzt mit forensisch-psychiatrischer Stellungnahme zur Frage der Haftfähigkeit vom 4. Mai 2017 (AA Bl. 593 ff.) verneint worden. Der Gutachter Dr. K. hatte eine definierte psychiatrische Störung zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung ebenfalls nicht erkennen können, wenngleich ihm eine gesicherte psychiatrische Diagnosestellung nicht möglich war.

81

Der Senat musste den Kläger vor der Entscheidung über die vorliegende Klage auch nicht deshalb sachverständig begutachten lassen, weil sich die Prognosegrundlagen in der Zeit nach dem Beschluss des Senats vom 13. Juli 2017 - wie der Kläger meint - "entscheidend verändert" haben könnten. Eine solche Veränderung ist bis zu der Anfang September 2017 erfolgten Abschiebung als dem für die gerichtliche Überprüfung maßgeblichen Zeitpunkt weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich. Eventuellen Veränderungen nach diesem Zeitpunkt ist in einem Verfahren nach § 11 AufenthG Rechnung zu tragen.

82

Es bestand keine Veranlassung zu der vom Kläger angeregten Beiziehung der "vollständigen Akten" aller Sicherheitsbehörden, deren Einschätzungen und Stellungnahmen dieser Prognose unter anderem zugrunde liegen. Sowohl die Beklagte als auch der Senat haben die Gefahrenprognose auf Mitteilungen anderer Behörden lediglich insoweit gestützt, als diese sich aus den Akten schlüssig ergaben und dem Kläger somit eine Stellungnahme möglich war. Der Kläger teilt nicht mit, an welchen ergebnisrelevanten Einschätzungen anderer Behörden konkrete Zweifel bestünden, die gerade durch Beiziehung weiterer dort vermuteter Unterlagen behoben werden könnten. Der Senat sieht sich jedenfalls nicht gehalten, gewissermaßen ins Blaue hinein bei einer Vielzahl weiterer Bundes- und Landesbehörden das Vorhandensein etwaig einschlägiger, bisher nicht aktenkundiger Unterlagen zu erfragen. Dies ist insbesondere nicht erforderlich, um zu ermitteln, "auf welcher Grundlage die Chatpartner und indirekten Kontakte des Klägers tatsächlich als dem zugehörig betrachtet werden können". Für die Gefahrenprognose ist ausreichend, dass der Chatteilnehmer M. M. aus E. selbst behauptet hat, Verbindungen zum "Islamischen Staat" zu haben und nachweislich zumindest versucht hat, solche aufzunehmen. Das ergibt sich aber hinreichend aus dessen eigenen Angaben im Chatverlauf, wonach er "nach Syrien oder Iraq" wollte und deshalb eine Verfügung mit räumlicher Geltungsbeschränkung seines Personalausweises auf das Inland erhalten hat, sowie aus der Äußerung, dass sein Plan "der beste in der Geschichte von dawla sei"; Dawla werde in die Geschichte eingehen. Auch der Kläger selbst hat angegeben, M. habe ihm gesagt, dass die "Op von höchste abteilung von Dawla kommt". Hinsichtlich des weiteren Chatpartners Abdul Aziz Al Shami hat der Kläger eigenen Angaben zufolge selbst angenommen, dass dieser dem "IS" angehört und ein "Kämpfer" war (Beschuldigtenvernehmung des Klägers vom 7. Februar 2017, S. 2 = Akte P5 Bl. 63; Strafakte Bd. II S. 243). Von weitergehenden Nachweisen für eine tatsächliche Zugehörigkeit des M. oder des C. U. zum "IS" ist die hier zu treffende Risikoeinschätzung nicht abhängig.

83

Abzulehnen war auch der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag, die Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz beizuziehen und Einsicht insbesondere in den darin enthaltenen 30-seitigen Chat aus dem Gefahrermittlungsvorgang der Polizei zu gewähren. Entgegen der Annahme des Klägers befindet sich dieser Chat einschließlich des - hier ungeschwärzten - Übersendungsschreibens des Bundesamtes für Verfassungsschutz an das LKA Bremen und LKA NRW vollständig in der beigezogenen Strafakte (Hauptakte Bd. I, Bl. 111 ff.). Soweit in der Begründung des Antrags die Vermutung angedeutet wurde, es könne sich bei dem Chatpartner um einen "agent provocateur" handeln, wurden Anknüpfungstatsachen für diese (spekulative) Andeutung nicht benannt.

84

Eine persönliche Anhörung des - in die Russische Föderation abgeschobenen - Klägers durch den Senat war schließlich ebenfalls nicht geboten. Die Gefahrenprognose beruht auf einer umfassenden Tatsachengrundlage, die der Senat aus den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgängen, der Strafakte, den Akten des familiengerichtlichen Verfahrens und dem Gefahrermittlungsvorgang der Polizei gewonnen hat. In diesem umfangreichen Aktenmaterial ist auch der Kläger in vielfacher Weise zu Wort gekommen und zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen befragt worden. Im Verfahren über die Abschiebehaft wurde er durch die dafür zuständigen Richter mehrfach persönlich angehört. Im gerichtlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sowie erneut im Klageverfahren vor dem Senat hatte er Gelegenheit, sich über seine Prozessbevollmächtigte schriftlich zu äußern. All dies hat der Senat zur Kenntnis genommen und verwertet; eine weitere Amtsermittlung durch persönliche Anhörung des Klägers, für die dieser nach Erteilung einer Betretenserlaubnis kurzfristig zurück nach Deutschland geholt werden müsste, drängte sich nicht auf.

85

Auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt sich hier kein Anspruch auf persönliches Erscheinen vor dem Bundesverwaltungsgericht. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren, in denen sich ein Kläger gegen seine Abschiebung wendet, bereits nicht anwendbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. März 2002 - 1 C 15.01 - BVerwGE 116, 123 <125>; EGMR , Urteil vom 5. Oktober 2000 - Nr. 39652/98, Maaouia/Frankreich - Rn. 35 ff., EZAR 939 Nr. 1 = InfAuslR 2001, 109 ; ebenso EGMR, Urteile vom 12. Juli 2001 - Nr. 44759/98, Ferrazzini/Italien - Rn. 28 und vom 10. Januar 2012 - Nr. 22251/07, G.R./Niederlande - Rn. 48). Zwar kann sich der Kläger hinsichtlich seiner Rechte aus Art. 3 und 8 EMRK auf das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK berufen; diesem ist aber mit den vorliegend vor dem Bundesverwaltungsgericht eröffneten Rechtsbehelfen (Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit aufschiebender Wirkung und Klage), die das Recht auf Gehör mittels anwaltlicher Vertretung gewährleisten und zu einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung führen, Genüge getan. Einen Anspruch auf persönliche Anhörung vor der nationalen Beschwerdeinstanz in einer mündlichen Verhandlung hat der EGMR aus Art. 13 EMRK hingegen bisher nicht abgeleitet (vgl. Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 13 Rn. 13).

86

c) Unterstellt, dass die Abschiebungsanordnung dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG unterfällt, ist sie auch mit den sich hieraus ergebenden materiellen unionsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren. Eine Frist zur freiwilligen Ausreise musste dem Kläger schon wegen der von ihm ausgehenden Gefahr einer terroristischen Gewalt nicht eingeräumt werden (Art. 7 Abs. 4 Richtlinie 2008/115/EG). Dem steht nicht die Rechtsprechung des EuGH entgegen, wonach nicht automatisch auf normativem Weg oder durch die Praxis davon abgesehen werden darf, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juni 2015 - C-554/13 [ECLI:EU:C:2015:377] - Rn. 70). Denn in den Fällen des § 58a AufenthG liegt bereits in der einzelfallbezogenen Prüfung und Feststellung des Tatbestandes die vom EuGH (ebenda Rn. 50, 57) verlangte einzelfallbezogene Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, die so gravierend ist, dass von einer Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise ganz abgesehen werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 35).

87

Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung steht auch nicht entgegen, dass die Ausländerbehörde es nach Durchführung der Abschiebung mit Verfügung vom 1. Dezember 2017 abgelehnt hat, das Aufenthalts- und Einreiseverbot zu befristen, was bei Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie und daraus folgender Unionsrechtswidrigkeit des in § 11 Abs. 1 AufenthG vorgesehenen gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots als Anordnung eines unbefristeten Einreiseverbots durch die Behörde ausgelegt werden könnte (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 71 f.); diese Verfügung dürfte mit der zunächst gescheiterten, im März 2018 aber wiederholten Bekanntgabe an die Prozessbevollmächtigte des Klägers inzwischen auch wirksam geworden sein. In diesem Zusammenhang bedarf es keiner Entscheidung, ob und inwieweit die Regelung in § 11 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG, wonach bei jeder Abschiebung kraft Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsverbot eintritt, das von der Ausländerbehörde beim Vollzug einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG nicht befristet werden darf, solange die oberste Landesbehörde nicht im Einzelfall eine Ausnahme zulässt, für die hier gegenständliche Fallkonstellation einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG an der Richtlinie 2008/115/EG zu messen und mit dieser ggf. zu vereinbaren ist. Dies hängt davon ab, ob die Richtlinie auch ein Einreiseverbot erfasst, das - wie hier - nicht im Zusammenhang mit einer Rückführung wegen Verletzung geltender Migrationsbestimmungen steht, sondern der Sache nach an eine Abschiebungsanordnung zum Schutze der öffentlichen Sicherheit wegen der von einem Drittstaatsangehörigen ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags anknüpft. Hierbei könnte es sich auch um ein neben der Rückführungsrichtlinie zulässiges nationales Einreiseverbot zu nicht migrationsbedingten Zwecken handeln (vgl. hierzu die Ausführungen des Senats im Verweisungsbeschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 Rn. 6 m.w.N. und der neuerliche Hinweis in der Empfehlung 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames "Rückkehr-Handbuch" , das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist). Diese Frage ist vorliegend aber nicht entscheidungserheblich. Gleiches gilt für die - bei unterstellter Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG - von der Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Frage, ob eine Abschiebung rechtswidrig ist, wenn zuvor nicht eine Befristung eines mit der Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots nach Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG erfolgt ist. Im vorliegenden Verfahren geht es weder um die Rechtmäßigkeit der hier von der Ausländerbehörde erst nach der Abschiebung getroffenen Entscheidung zur Anordnung bzw. Dauer eines unbefristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots noch um die Rechtmäßigkeit der Abschiebung des Klägers. Streitgegenständlich ist nur die Abschiebungsanordnung, die nach nationalem Recht nicht mit einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden ist. Auch eine fehlerhafte oder - wie hier - im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung zunächst unterbliebene behördliche Entscheidung zur Anordnung bzw. Dauer eines Einreiseverbots würde nicht zur Unionsrechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führen. Denn das Einreiseverbot soll zwar im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung angeordnet werden (vgl. Art. 11 Abs. 1a Richtlinie 2008/115/EG: "gehen ... einher"), stellt aber gleichwohl eine eigenständige Entscheidung dar, für die vorliegend eine andere Behörde zuständig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 Rn. 3 f.), und die gesondert anfechtbar ist (vgl. Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 36). Ausgehend davon lassen sich der Richtlinie Anhaltspunkte für einen "Rechtswidrigkeitszusammenhang" zwischen dem Einreiseverbot und seiner Befristung einerseits und der Rückkehrentscheidung andererseits nicht entnehmen. Damit bedarf es auch insoweit nicht des von der Prozessbevollmächtigten des Klägers angeregten Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH (vgl. Schriftsatz vom 27. März 2018, Frage II.).

88

d) Der Erlass einer Abschiebungsanordnung durch die oberste Landesbehörde war im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung weder ermessensfehlerhaft noch unverhältnismäßig. Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73 und 1 BvR 155/73 - BVerfGE 35, 382 <402 f.>, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09 - BVerfGE 141, 220 Rn. 96, 132). Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 58a AufenthG vor, hat die oberste Landesbehörde zu prüfen, ob sie eine Abschiebungsanordnung erlässt oder ggf. anderweitige Maßnahmen durch die Ausländerbehörde - etwa der Erlass einer sofort vollziehbaren Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung - oder Maßnahmen auf der Grundlage des allgemeinen Polizeirechts ausreichen (Entschließungsermessen); ein Auswahlermessen kommt hingegen nur bei mehreren möglichen Zielstaaten in Betracht, was hier nicht der Fall ist (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 39).

89

Vorliegend hat die oberste Landesbehörde ihr Entschließungsermessen fehlerfrei dahin ausgeübt, dass andere im Aufenthaltsgesetz vorgesehene Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung oder sonstige gefahrenabwehrrechtliche Möglichkeiten nicht ausreichen, um der besonderen vom Kläger ausgehenden Gefahr zu begegnen. Mildere, zur Gefahrenabwehr gleich geeignete Mittel waren nicht verfügbar. Eine stationäre, geschlossene Jugendhilfemaßnahme von zumindest einem halben Jahr, die der Sachverständige Dr. K. als die am besten geeignete Maßnahme bezeichnet hat, um das Wohl des Klägers und der Allgemeinheit zu sichern, scheiterte an der seit Volljährigkeit erforderlichen Zustimmung des Klägers, die dieser ungeachtet seiner Bereitschaft, an anderweitigen Maßnahmen mitzuwirken, gerade nicht erteilt hatte. Es ist auch weder vorgetragen noch sonst erkennbar, dass der Kläger diese Entscheidung vor seiner Abschiebung glaubhaft revidiert hätte. Auf die Frage, ob ausreichende Bemühungen entfaltet worden sind, einen entsprechenden Platz für den Kläger zu finden, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an. Die Unterbringung in einer offenen Jugendhilfeeinrichtung ist zu einer effektiven Abwehr der in Deutschland drohenden Anschlagsgefahren demgegenüber nicht gleich geeignet wie eine Abschiebung in die Russische Föderation. Gleiches gilt umso mehr für ambulante Maßnahmen der Betreuung, etwa durch die "k.", die schon in der Vergangenheit eine fortschreitende Radikalisierung des Klägers nicht verhindern konnten.

90

Polizeirechtliche Maßnahmen der Gefahrenabwehr hat die Beklagte ermessensfehlerfrei als nicht hinreichend effektiv angesehen. Auf wiederholte Gefährderansprachen hat der Kläger nicht reagiert. Die vom Amtsgericht Bremen durch Beschlüsse vom 17. Januar 2017 (nicht umgesetzt aufgrund der Unterbringung des Klägers) und vom 27. Februar 2017 auf Antrag der Polizei jeweils für einen Monat getroffenen Anordnungen längerfristiger verdeckter Observation nach § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 BremPolG (P2 Bl. 100 und 139) sind nicht gleichermaßen geeignet wie eine Abschiebung, eine Realisierung der vom Kläger ausgehenden terroristischen Gefahr in Deutschland zu verhindern. Nichts anderes gilt für denkbare andere polizeirechtliche Maßnahmen wie die elektronische Fußfessel, eine Überwachung der Internetkommunikation oder gar die dem Kläger durch Verfügung vom 24. Februar 2017 auferlegte Meldepflicht (vgl. P2 Bl. 146).

91

Die Abschiebungsanordnung erweist sich angesichts der vom Kläger ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags auch im Übrigen als verhältnismäßig und mit Art. 8 EMRK vereinbar. Die oberste Landesbehörde hat bei ihrer Entscheidung gewürdigt, dass sich der im Zeitpunkt seiner Abschiebung ...-jährige Kläger seit fünfzehn Jahren (2002) im Bundesgebiet aufhielt, hier den Hauptschulabschluss erlangt hat, bis zu seiner Verhaftung weiter die Schule besuchte und über soziale Bindungen an Eltern und Geschwister verfügt, in deren Haushalt er lebte, sowie an Freunde und die nach religiösem Ritus angetraute deutsche Ehefrau, die in einem getrennten Haushalt lebte. Dabei ist die Beklagte zutreffend davon ausgegangen, dass diese Ehe jedoch nicht dem Schutz des Art. 6 GG unterfällt (zur fehlenden aufenthaltsrechtlichen Anerkennung vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - BVerwGE 133, 72 Rn. 16). Unabhängig davon war diese Beziehung nach den Angaben im Schriftsatz des Klägers vom 11. Juni 2017 noch vor seiner Abschiebung beendet und konnte einer Abschiebung schon deshalb nicht mehr entgegenstehen. Die Beklagte hat ihre Ermessenserwägungen zudem im Klageverfahren sinngemäß dahin ergänzt, dass das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das private Interesse des Klägers am Verbleib in Deutschland auch dann überwiege, wenn der Kläger kein Russisch spreche und in den für eine Rückkehr in Frage kommenden Regionen seines Herkunftslandes nicht über familiäre Verbindungen verfüge.

92

Diese Ermessenserwägungen sind rechtlich nicht zu beanstanden (§ 114 Satz 1 und 2 VwGO). Insbesondere war die Aufenthaltsbeendigung unter den hier gegebenen Umständen auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig. Zwar stellt die Abschiebung einen Eingriff in das Recht des Klägers auf Familien- und Privatleben dar (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 23. Juni 2008 - Nr. 1638/03, Maslov/Österreich - Rn. 61 ff.). Dieser ist aber gesetzlich vorgesehen, verfolgt mit der Abwehr terroristischer Gefahren für die Bevölkerung in Deutschland ein legitimes Ziel von höchstem Rang und erweist sich vor diesem Hintergrund auch als in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich.

93

Hierbei war dem Kläger der langjährige Aufenthalt in Deutschland, wo er seine gesamte Schulausbildung erworben hat, zugute zu halten, wie auch seine Bindung an die in Deutschland legal aufhältigen Eltern und Geschwister, die russische Staatsangehörige sind. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang allerdings auch, dass er mit seinen Eltern und Geschwistern zunächst erfolglos unter falschem Namen Asylverfahren betrieben hat und erst - nachdem eine Abschiebung wegen Passlosigkeit jahrelang nicht möglich war - seit dem Jahr 2012 (nach Richtigstellung der Personalien) über einen legalen Aufenthalt verfügte, der bis zu seiner Abschiebung in befristeten Aufenthaltserlaubnissen bestand. Demgegenüber verfügte er außerhalb Dagestans - soweit im Zeitpunkt der Abschiebung bekannt - über keine familiären Bindungen in seinem Herkunftsland Russische Föderation, das ihm weitgehend unbekannt gewesen sein dürfte. Der Senat geht im Klageverfahren zudem zugunsten des Klägers davon aus, dass er nicht über Grundkenntnisse der russischen Sprache verfügt (anders noch Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 77). Der Kläger hat angegeben, außer Deutsch nur die in Dagestan gebräuchliche und in seiner Familie allein verwendete Sprache Kumykisch zu sprechen. Dies ist ihm ohne weitere Sachverhaltsaufklärung nicht zu widerlegen. Da sich die Aufenthaltsbeendigung - wie im Folgenden ausgeführt wird - auch dann als verhältnismäßig erweist, wenn der Kläger im Zeitpunkt der Abschiebung nicht über Russischkenntnisse verfügte, waren die Beweisanträge des Klägers, zum Beweis fehlender Grundkenntnisse der russischen Sprache drei namentlich benannte Zeugen zu vernehmen, als für die Entscheidung unerheblich abzulehnen.

94

Da der Kläger im Zeitpunkt der Abschiebung nicht in seine Heimatrepublik Dagestan zurückkehren konnte (siehe dazu unten e) aa)), musste davon ausgegangen werden, dass die Integration in die russischen Lebensverhältnisse ihm angesichts der fehlenden Sprachkenntnisse, fehlenden familiären Rückhalts und seiner Unerfahrenheit erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde. Mit Blick auf die von ihm ausgehende überaus schwerwiegende Gefahr eines terroristischen Anschlags lagen hier aber überragend wichtige Gründe vor, die eine Abschiebung gleichwohl rechtfertigten. Das gilt selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Radikalisierung und die der Abschiebungsanordnung zugrunde gelegten Tatsachen noch in die Zeit seiner Minderjährigkeit fallen. Der EGMR hat anerkannt, dass schwere Gewalttätigkeiten eine Ausweisung auch dann rechtfertigen können, wenn sie von einem Minderjährigen begangen worden sind (vgl. EGMR, Urteil vom 23. Juni 2008 - Nr. 1638/03 - Rn. 84 f.). Dies ist auf Fälle übertragbar, in denen eine Begehung - noch schwerer wiegender - terroristischer Gewalttaten droht. Dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abschiebungsanordnung schon dann erfüllt sind, wenn ein beachtliches Risiko für einen terroristischen Anschlag besteht, ohne dass die künftige Entwicklung sicher prognostiziert werden kann, führt hier entgegen der Auffassung des Klägers nicht zu einem anderen Ergebnis.

95

Auch ohne die Unterstützung durch Verwandte oder Bekannte sowie ohne Russischkenntnisse, die die Integration in die russischen Lebensverhältnisse zweifellos erleichtern würden, war es dem volljährigen und arbeitsfähigen Kläger im Zeitpunkt seiner Abschiebung zuzumuten, sich in der Russischen Föderation eine Existenz aufzubauen. Daran ändert der Umstand nichts, dass er von seiner Persönlichkeitsentwicklung und Reife noch einem Jugendlichen entsprochen haben mag. Dies bedeutete nicht, dass ihm ein Leben ohne familiäre Unterstützung und anfangs ohne Kenntnisse der russischen Sprache unter Berücksichtigung der hier bestehenden hohen Zumutbarkeitsschwelle nicht möglich sein würde. Vielmehr war davon auszugehen, dass sich der Kläger Sprachkenntnisse, die für das tägliche Leben und einfache (Hilfs-)Arbeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreichen, vor Ort rasch aneignen kann. Unabhängig davon hat das Klagevorbringen nach der Abschiebung, wonach der Kläger in Nordwestrussland bei einem entfernteren Bekannten seiner Eltern aufgenommen wurde, aber auch erwiesen, dass er entgegen früherer Behauptung in der Russischen Föderation außerhalb Dagestans durchaus über Kontakte und Hilfestellung verfügt.

96

Bei der Frage der Zumutbarkeit auch größerer Integrationserschwernisse in der Russischen Föderation kann schließlich nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger die einzige Maßnahme der Jugendhilfe - eine solche stationärer Art -, die mit Aussicht auf Erfolg erzieherisch auf ihn hätte einwirken können, abgelehnt hat. Weiter berücksichtigt der Senat, dass die Ausländerbehörde des Beklagten vor der Abschiebung Maßnahmen getroffen hat, die dem Kläger die erste Orientierung in P. erleichtern sollten (vgl. die Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 18. August 2017 im Verfahren Nr. 54646/17 vor dem EGMR sowie Schreiben des Migrationsamts vom 26. Juli 2017). Ihm wurden die Kontaktdaten von Hilfsorganisationen mitgeteilt; er wurde auch über mögliche ärztliche Versorgung an den P.er Flughäfen und Verkehrsverbindungen in die Innenstadt sowie Unterkunftsmöglichkeiten informiert. Zudem wurde er vor der Ankunft in P. mit einem Handgeld in Höhe von 300 € versorgt, um nicht mittellos zu sein. Vor diesem Hintergrund und angesichts der vom Kläger ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags führen die gewichtigen privaten und familiären Belange hier nicht zur Unverhältnismäßigkeit der verfügten Aufenthaltsbeendigung und ihres Vollzugs.

97

Die Abschiebungsanordnung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie nach der deutschen Rechtslage - deren Vereinbarkeit mit Unionsrecht im Einzelnen noch offen ist - zunächst mit einer grundsätzlich unbefristeten Fernhaltung vom Bundesgebiet verbunden sein soll (vgl. § 11 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 AufenthG). Auch in diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob das von der Ausländerbehörde nach erfolgter Abschiebung des Klägers angeordnete unbefristete Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtmäßig ist und ob der Kläger möglicherweise unabhängig davon nach seiner zwischenzeitlichen Abschiebung einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot unterliegt. Denn auch der Adressat einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG kann jedenfalls eine nachträgliche Aufhebung oder Verkürzung eines aufgrund behördlicher Anordnung oder kraft Gesetzes entstandenen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 Satz 2 AufenthG erreichen, wenn er glaubhaft darlegen kann, dass von ihm aufgrund nachhaltiger Veränderungen seines Verhaltens keine Gefahr mehr ausgeht. Eine spätere Wiedereinreise in das Bundesgebiet ist mithin - zumindest besuchsweise - nicht ausgeschlossen, auch wenn der Kläger dafür eines neuen Aufenthaltstitels bedürfte.

98

Die Abschiebungsanordnung ist schließlich nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil die Abschiebung von Terrorverdächtigen das internationale Ansehen Deutschlands schädigen würde. Die Auswirkungen derartiger Abschiebungsanordnungen auf das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland sind in § 58a AufenthG mit berücksichtigt. Es ist nicht Aufgabe der rechtsanwendenden Behörden oder Gerichte, die damit vom Gesetzgeber vorgenommene Bewertung zu korrigieren. Dass § 58a AufenthG oder seine Anwendung auf den vorliegenden Einzelfall gegen bindendes Völkerrecht verstoßen könnte (GA 1 VR 3.17, Bl. 270 ff.), vermag der Senat ebenfalls nicht zu erkennen.

99

e) Die Abschiebungsanordnung ist nicht wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots (teil-)rechtswidrig, da im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung des Klägers in die Russische Föderation im September 2017 kein solches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG bestand. Nach der gesetzlichen Konstruktion des § 58a AufenthG führt das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG dazu, dass der Betroffene nicht in diesen Staat, nach (rechtzeitiger) Ankündigung aber in einen anderen (aufnahmebereiten oder -verpflichteten) Staat abgeschoben werden darf. Die zuständige Behörde hat beim Erlass einer Abschiebungsanordnung in eigener Verantwortung zu prüfen, ob der Abschiebung in den beabsichtigten Zielstaat ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG entgegensteht. Dies umfasst sowohl die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder als subsidiär Schutzberechtigter (§ 60 Abs. 2 AufenthG) vorliegen, als auch die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Wird im gerichtlichen Verfahren ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festgestellt, bleibt die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung im Übrigen hiervon unberührt (§ 58a Abs. 3 i.V.m. § 59 Abs. 2 und 3 AufenthG in entsprechender Anwendung).

100

Vorliegend sprach im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung des Klägers einiges dafür, dass hinsichtlich Dagestan bzw. der nordkaukasischen Teilrepubliken der Russischen Föderation die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gegeben waren (aa). Das hinderte jedoch nicht die Vollziehung der Abschiebungsanordnung in andere Teile der Russischen Föderation, in denen dem Kläger eine zumutbare interne Niederlassungsmöglichkeit zur Verfügung stand (bb). Dies zugrunde gelegt bedurfte es keiner Zusicherung menschenrechtskonformer Behandlung seitens russischer Regierungsstellen (cc). Es lag auch kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot wegen Suizidgefahr vor (dd).

101

aa) Der Senat sieht zumindest gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger angesichts des anzunehmenden Bekanntwerdens der Gründe seiner Abschiebung in der Russischen Föderation (dazu (1)) bei einer Rückkehr nach Dagestan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch die dortigen Sicherheitsbehörden einer menschenrechtswidrigen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt worden wäre (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, dazu (2)).

102

(1) Im Zeitpunkt der Abschiebung war davon auszugehen, dass die Gründe und Hintergründe der beabsichtigten Abschiebung des Klägers (Gefahr eines radikal-islamistisch motivierten Terroranschlags, salafistisch-religiöse Einstellung mit grundsätzlicher Billigung der Aktionen des sogenannten "Islamischen Staates") den russischen staatlichen Stellen aller Voraussicht nach bekannt werden würden. Dies war vor allem aufgrund der öffentlichen Berichterstattung in den Medien bzw. im Internet unter Nennung zur Identifizierung hinreichender Daten (K. C. aus B., geboren im ... in Dagestan) anzunehmen. Hinzu kam im vorliegenden Fall das im russischen Pass eingetragene, zwischenzeitlich aufgehobene Ausreiseverbot, das gegen den Kläger im Dezember 2014 angeordnet worden war und die Aufmerksamkeit der russischen Behörden zusätzlich auf sich zu ziehen drohte. Unabhängig davon ergibt sich aus einem Schreiben des Generalkonsulats der Russischen Föderation in Hamburg an die JVA B. vom 31. Juli 2017, das diesem die beabsichtigte Abschiebung des Klägers und die Gründe dafür aufgrund einer DPA-Nachricht ("Bundesgericht billigt Abschiebung von Islamisten nach Russland") bekannt gewesen ist.

103

(2) Unter Berücksichtigung dieses anzunehmenden Bekanntwerdens der Abschiebegründe bestand im Zeitpunkt der Abschiebung die tatsächliche Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Dagestan durch die dortigen Sicherheitsbehörden der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, Art. 4 GRC ausgesetzt würde (vgl. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK).

104

(a) Dabei geht der Senat für den maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung weiterhin von folgender Lagebeurteilung aus: Teile des Nordkaukasus und insbesondere Dagestan sind nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen der regionale Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand: Juni 2017, S. 13).

105

Der "IS" wird in der Russischen Föderation und speziell im Nordkaukasus in den letzten Jahren zunehmend als echte Bedrohung wahrgenommen, auf die seitens der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden vor allem im Nordkaukasus mit großer Härte reagiert wird: In diesem Landesteil gehen die Behörden gegen tatsächliche oder mutmaßliche Islamisten mit teils gewaltsamer Repression vor. Es kommt zu Razzien in Moscheen, Festnahmen, Zerstörung von Wohnhäusern angeblicher Islamisten, Misshandlungen, Entführungen und Fällen von "Verschwindenlassen" sowie "außergerichtlichen" Tötungen. Im Nordkaukasus wenden die lokalen Polizeibehörden sowie die nationalen Sicherheitsbehörden auch Folter an (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 1. Juni 2016, S. 40; Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Baudacci, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, Update vom 13. Mai 2016, S. 6 und 7; zu den o.g. Maßnahmen siehe auch Accord, ecoi.net-Themendossier zur Russischen Föderation: Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, 15. Januar 2016, http://www.ecoi.net/local_link/323719/463296_de.html (Zugriff am 28. September 2016). Salafisten werden von Angehörigen des Militärs und der Geheimdienste verdächtigt, den bewaffneten Aufstand zu unterstützen oder daran beteiligt zu sein, und nicht selten entführt und in der Folge getötet (Accord, ecoi.net-Themendossier zur Russischen Föderation: Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, a.a.O.). Aktionen von Sicherheitskräften nehmen auch die Familienangehörigen von bewaffneten Untergrundkämpfern ins Visier. Menschenrechtsorganisationen beklagten ein Klima der Straflosigkeit für Täter aus den Reihen der Sicherheitskräfte (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juni 2017, S. 13 - 15). Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden - ihrer Straflosigkeit gewiss - missbrauchten ihre Macht, um im "Krieg gegen den Terror" Erfolgsquoten zu liefern oder gar um Geld von den Angehörigen der Verhafteten zu erpressen (Accord, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Dagestan: Korruption bei der Polizei, 12. Oktober 2016).

106

Salafistische Organisationen bzw. Muslime, die religiösem Extremismus nahe stehen oder unter ausländischem Einfluss stehen sollen, werden in Dagestan als Wahhabiten bezeichnet und teilweise pauschal mit Terroristen gleichgesetzt (Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Schuster, Russland: Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger ausserhalb Dagestans, Auskunft vom 25. Juli 2014, S. 1 f.; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 1. Juni 2016, S. 52, 65). Sie müssen in Tschetschenien und Dagestan bereits ohne Hinzutreten weiterer Handlungen oder konkreter Verdächtigungen befürchten, von den Sicherheitsbehörden als "Extremisten" verhaftet zu werden. Auch das Tragen langer Bärte oder salafistischer Kleidung kann bereits zu Verhaftungen und Misshandlungen führen (Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Baudacci, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, Update vom 13. Mai 2016, S. 15).

107

(b) Ausgehend von dieser Erkenntnislage sprach bezogen auf den Abschiebezeitpunkt einiges dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Dagestan dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung durch die lokalen oder föderalen Sicherheits- bzw. Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt würde, selbst wenn er sich dort einer salafistischen Betätigung, soweit diese die Grenzen der geschützten Religionsfreiheit überschreitet, enthält (siehe auch BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5 Rn. 90 f.).

108

bb) Dem Kläger standen im Zeitpunkt seiner Abschiebung auf der Grundlage der dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisse jedoch Alternativen für eine Niederlassung in sonstigen Bereichen der Russischen Föderation außerhalb der Teilrepubliken des Nordkaukasus (etwa in der Umgebung des Abschiebeziels P.) zur Verfügung. Hinsichtlich dieser Bereiche lagen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht vor. Sie erfüllen hier zugleich die Voraussetzungen des internen Schutzes im Sinne von § 3e Abs. 1, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG. Daher stand dem Kläger auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG als subsidiär Schutzberechtigter zu, ohne dass entschieden werden muss, ob dieses Abschiebungsverbot ohnehin wegen der vom Kläger ausgehenden Gefahren ausgeschlossen wäre (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG).

109

(1) Nach der dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnislage drohte dem Kläger außerhalb des Nordkaukasus wegen der Handlungen und Äußerungen im Bundesgebiet nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass er unter Berücksichtigung der ihm zugeschriebenen Terrorgefahr durch Sicherheitsbehörden oder Strafverfolgungsorgane der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt oder zwangsweise nach Dagestan zurückverbracht wird. Etwaige erst nach Rückkehr in die Russische Föderation entfaltete Aktivitäten, die den Verdacht begründen könnten, er neige dem gewaltbereiten Jihadismus zu oder plane oder unterstütze Terroranschläge, können kein Abschiebungshindernis begründen und waren außer Betracht zu lassen.

110

Der Senat verkennt nicht, dass aus Sicht der russischen Behörden auch außerhalb des Nordkaukasus die Gefahr von Terroranschlägen besteht. Radikale islamistische Netzwerke aus dem Nordkaukasus und Dagestan verfügen über Zellen in ganz Russland - von Moskau, St. Petersburg bis nach Sibirien (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Schuster, Russland: Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger ausserhalb Dagestans, Auskunft vom 25. Juli 2014, S. 3 und 15). Der russische Staat geht auch im übrigen Staatsgebiet konsequent gegen islamistische Terroristen vor. Erst im Juli 2016 wurde in der Russischen Föderation mit dem Ziel der effektiveren Bekämpfung des Terrorismus und der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit das Strafrecht deutlich verschärft, worauf der Kläger hingewiesen hat (www.icnl.org/research/library/files/Russia/Yarovaya.pdf, GA 1 VR 3.17 Bl. 264). Zuvor ist im November 2013 in Russland ein neues Gesetz verabschiedet worden, mit dem die Bestrafung von Familien und Verwandten von Terrorverdächtigen erreicht werden sollte und das darauf abzielte, die "harte Form" des Kampfes gegen den Aufstand, die bereits in mehreren Republiken im Nordkaukasus praktiziert wird, zu legalisieren. Die neue Gesetzgebung erlaubt es den Behörden, die Vermögenswerte der Familien von Terrorverdächtigen zu beschlagnahmen und die Familien dazu zu verpflichten, für Schäden aufzukommen, die durch Handlungen der Terrorverdächtigen entstanden sind. Die durch sie erlaubten Kollektivbestrafungen werden von den Behörden im Nordkaukasus bereits angewendet (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 1. Juni 2016, S. 34; Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Schuster, Russland: Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger ausserhalb Dagestans, Auskunft vom 25. Juli 2014, S. 4 f.). Von einer entsprechenden Praxis außerhalb des Nordkaukasus wird demgegenüber bisher nicht berichtet; auch belegt diese Gesetzeslage ebenso wenig wie die Verschärfung des Strafrechts eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung von Terrorverdächtigen.

111

Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Ad-hoc-Bericht, Stand: Juni 2017, S. 20 f.) ist der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen aus Angst vor Terroranschlägen erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichteten von häufig willkürlichem Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen ständen unter einer Art Generalverdacht. Solange die Konflikte im Nordkaukasus nicht endgültig gelöst sind, ist nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Das gilt insbesondere für Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagieren bzw. denen ein derartiges Engagement unterstellt wird, oder die - wie hier - im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren.

112

Selbst wenn diese besondere Aufmerksamkeit auch Dagestanern entgegengebracht werden sollte, rechtfertigte die Zugehörigkeit zu einer solchen Risikogruppe ebenfalls noch nicht die Annahme, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Dies entspricht im Wesentlichen der in der fallbezogen erteilten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29. Mai 2017 wiedergegebenen Einschätzung von Mitarbeitern der russischen Nichtregierungsorganisation "Komitee zur Verhinderung von Folter": Danach habe der Kläger im Falle seiner Abschiebung in die Russische Föderation mit einer Befragung und Überwachung zu rechnen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 29. Mai 2017 zu Frage 1a). Es erscheine jedoch nahezu ausgeschlossen, dass er "präventiv" gefoltert oder einer anderen Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt würde. Der Zuverlässigkeit dieser Auskunft steht nicht entgegen, dass der Leiter dieser Organisation nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes Mitglied des präsidialen Menschenrechtsrats ist (vgl. näher BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - NVwZ 2017, 1531 Rn. 96). Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in seiner Stellungnahme vom 10. August 2017 bestätigt, dass das "Komitee zur Verhinderung von Folter" eine allseits geachtete Organisation sei, deren Expertise auch in die Lageberichte des Auswärtigen Amtes einfließe.

113

Die vom Kläger eingeholte, im Verfahren vor dem EGMR vorgelegte Auskunft von U. I. (Civic Assistance Committee, Human Rights Center Memorial vom 19. August 2017 insbesondere zu Frage 3) gibt keinen Anlass zu einer anderen Bewertung. Darin heißt es, eine aus Deutschland abgeschobene Person werde zweifellos unter sozialer Kontrolle stehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie verfolgt und gefoltert werde, sei erheblich und noch um ein Vielfaches höher, wenn sie mit dem Stigma, einen terroristischen Anschlag beabsichtigt zu haben, abgeschoben würde. Der Senat misst der gegenteiligen Einschätzung des "Komitees zur Verhinderung von Folter" weiterhin die größere Bedeutung bei. Zum einen kann sich die Auskunft von Frau I. nicht erkennbar auf konkrete Referenzfälle stützen (vgl. auch EGMR, Entscheidung vom 7. November 2017 - 54646/17, X./Germany - Rn. 33). Mit der des Klägers vergleichbare Fallgestaltungen werden auch in den von ihr beigefügten Berichten der Nichtregierungsorganisationen Memorial Human Rights Center/Civic Assistance Committee nicht benannt ("Chechens in Russia", Moscow 2014; "Counter-terrorism in the North Caucasus: a human rights perspective. 2014-first half of 2016"; Moscow 2016, sowie "On the situation of Chechen Republic and Republic of Ingushetia residents in the Russian penal system, September 2011 to August 2014", September 2014, Moscow). Zum anderen wird die im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gewonnene Gefahrenbewertung des Senats nunmehr bestätigt durch die aktualisierte Einschätzung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, das sich in seiner Stellungnahme vom 10. August 2017 der Bewertung des "Komitees zur Verhinderung von Folter" angeschlossen und an seiner früheren abweichenden, pauschalen Stellungnahme vom 17. Mai 2017 nicht mehr festgehalten hat. Danach werden Personen, die sich in der Russischen Föderation nicht islamistisch betätigt haben oder dort aufgefallen sind, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit misshandelt. Zum Beleg verweist das Bundesamt auf Erkenntnisse der österreichischen Staatendokumentation vom 29. Juni 2017. Danach konnten keine Informationen mit Hinweisen darauf gefunden werden, dass Personen, die im Ausland wegen Mitgliedschaft in der Terrororganisation "IS" strafgerichtlich verurteilt wurden und eine Haftstrafe bereits verbüßt haben, in der Russischen Föderation abseits einer eigentlichen Strafverfolgung Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation an BVwG, Russische Föderation - Menschenrechtsverletzungen von im Ausland verurteilten Personen wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vom 29. Juni 2017).

114

Vor diesem Hintergrund vermag der Senat auch aus der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 25. Juli 2014 (A. Schuster, Russland: Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger ausserhalb Dagestans, S. 3 f.) nicht abzuleiten, dass dem Kläger in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung drohen würde. Zwar wird dort von Angaben der Nichtregierungsorganisation Memorial (U. I.) berichtet, wonach Familienangehörige von Terrorismusverdächtigen aus Dagestan auch in anderen Regionen in Russland von staatlichen Behörden verfolgt und schikaniert werden und dem ständigen Risiko einer willkürlichen Strafverfolgung ohne Begründung ausgesetzt sind. Auch werde von einer Reihe dokumentierter Fälle berichtet, in denen ganze Familien in Moskau, St. Petersburg und weiteren russischen Städten Opfer von gewaltsamem "Verschwindenlassen" geworden seien. Dies sei vor allem in den Fällen geschehen, in welchen die Behörden der nordkaukasischen Republiken Interesse daran hatten, Maßnahmen gegen Familienangehörige zu ergreifen. "Wahhabiten" und ihre Familienmitglieder würden in ganz Russland verfolgt. Der Modus Operandi der Behörden des Nordkaukasus finde mittlerweile auch im übrigen Russland Anwendung. Seit 2009 sei die Zahl der Verhaftungen und Entführungen von Personen aus dem Nordkaukasus in ganz Russland gestiegen. Rund 20 Prozent der dokumentierten Entführungen fänden mittlerweile außerhalb des Nordkaukasus statt.

115

Diesen Ausführungen ist nichts dafür zu entnehmen, dass der russische Staat auch einer im europäischen Ausland entfalteten islamistisch-jihadistischen Betätigung - insbesondere Planung/Vorbereitung eines Terroranschlags in Deutschland - in der Russischen Föderation mit derart drastischen Maßnahmen begegnen würde. Ein vergleichbares Interesse der russischen Behörden, gegen eine Person wie den Kläger menschenrechtswidrig vorzugehen, ist in einem solchen Fall mangels Referenzfällen nicht belegbar und kann auch nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Denn spezifisch russische Interessen hat der Kläger bisher nicht verletzt.

116

Der Senat hat es daher im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung auch nicht für beachtlich wahrscheinlich erachtet, dass in der Russischen Föderation gegen den Kläger ein Strafverfahren eingeleitet oder er in Polizeigewahrsam genommen würde. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen hat, dass nach russischem Strafrecht für Auslandstaten russischer Staatsbürger das Personalitätsprinzip gilt, rechtfertigt dieser Hinweis auf die Rechtslage für sich allein noch nicht den Schluss auf eine entsprechende Praxis. Auch die Erklärung des russischen Generalstaatsanwalts von November 2015, wonach 650 Strafverfahren aufgrund der Beteiligung in einer illegalen bewaffneten Gruppierung im Ausland eröffnet wurden, wovon laut Chef des FSB (Inlandsgeheimdienst) 1 000 Personen betroffen seien (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 1. Juni 2016, S. 27), lässt nicht hinreichend auf eine Betroffenheit auch des Klägers schließen. Es liegen keine Hinweise darauf vor, dass sich der Fokus der russischen Strafverfolgungsbehörden auch auf Personen richten würde, die nicht aus Syrien, Irak oder der Türkei, sondern aus dem westeuropäischen Ausland zurückkehren.

117

Berichte über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juni 2017, S. 10) beziehen sich zumeist auf den Nordkaukasus. Gegen Tschetschenen (bzw. Personen aus dem Nordkaukasus), die sich in Moskau oder anderen Bereichen der Russischen Föderation niedergelassen haben, kommen Strafverfahren aufgrund falscher Anschuldigungen heute kaum noch vor (vgl. Danish Immigration Service, Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations, Januar 2015, S. 85 f.). Nach Angaben einer westlichen Botschaft in Moskau aus dem Jahr 2012 kommen fingierte Strafverfahren zwar vor, insbesondere gegen junge muslimische Personen aus dem Nordkaukasus, jedoch nicht in systematischer Weise (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Schuster, Russland: Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger ausserhalb Dagestans, Auskunft vom 25. Juli 2014, S. 6; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 1. Juni 2016, S. 82).

118

Die vorstehend dargelegte Gefahreneinschätzung wird schließlich ex post dadurch bestätigt, dass es dem Kläger gelungen ist, unbehelligt in die Russische Föderation einzureisen und bei entfernten Bekannten seiner Eltern in Nordwestrussland Aufenthalt zu nehmen. Der Senat ist davon ausgegangen, dass den russischen Staatsbehörden die Gründe für die Abschiebung des Klägers bekannt waren (s.o.); zudem ist er mit seinem russischen Reisepass, aus dem das von Deutschland zeitweise verfügte Ausreiseverbot hervorging und der bei einer Einreise vorzulegen ist, abgeschoben worden. Daraus kann nur geschlossen werden, dass seitens der russischen Sicherheitsbehörden kein Interesse bestand, gegen den Kläger ein Strafverfahren einzuleiten oder ihn in Polizeihaft zu nehmen. Auch wenn es für die hier vorzunehmende Prognose auf den Zeitpunkt der Abschiebung ankommt, können Vorkommnisse nach der Abschiebung als - wie hier - bestätigendes Indiz für die Richtigkeit der gerichtlichen Prognose ergänzend herangezogen werden (EGMR, Urteil vom 14. März 2017 - Nr. 47287/15, Ilias u. Ahmed/Ungarn - Rn. 105 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 ff. Rn. 14). Dass sich der Kläger an seinem Aufenthaltsort nicht angemeldet hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung.

119

Das Risiko, dass die Behörden in Dagestan, soweit sie von der Abschiebung des Klägers erfahren, den Kläger außerhalb Dagestans aufsuchen und dort misshandeln oder nach Dagestan verbringen würden, hält der Senat ebenfalls für gering. Das Auswärtige Amt führt in seinem aktuellen Lagebericht zwar aus, die regionalen Strafverfolgungsbehörden könnten Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlten sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem "langen Arm" des Regimes von Ramsan Kadyrow nicht sicher. Bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen seien, seien etwa auch in Moskau präsent (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juni 2017, S. 15 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Baudacci, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, Update vom 13. Mai 2016, S. 24; Memorial Human Rights Center/Civic Assistance Committee, Chechens in Russia, 2014, S. 7). Bei Umzügen in eine andere Region der Russischen Föderation informiert das FMS-Büro, bei dem die Registrierung erfolgt, das FMS-Büro am Ort der ursprünglichen Registrierung (siehe auch U. I. , Auskunft vom 19. August 2017, zu Frage 5 und 6). Ob diese Information durch die Behörden des ursprünglichen Wohnorts in irgendeiner Weise aktiv verwendet wird, ist aber eine andere Frage. Dies hängt davon ab, wie wichtig die Person für die dortigen Behörden war/ist (vgl. Danish Immigration Service, Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations, Januar 2015, S. 68). Ausgehend davon ist eher unwahrscheinlich, dass dagestanische Strafverfolgungsbehörden aufgrund der gegen den Kläger in Deutschland erhobenen Vorwürfe Anlass sehen werden, ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten oder gegen ihn in irgendeiner Weise extralegal vorzugehen, wenn er - der Dagestan schon im Kleinkindalter verlassen hat - nicht in Kontakt zu Dagestan tritt und insbesondere andernorts seinen Wohnsitz nimmt. Gründe dafür ergeben sich auch nicht aus der Auskunft von Frau I. (Civic Assistance Committee, Human Rights Center Memorial) vom 19. August 2017. Der Kläger hat weder in Dagestan auf der Seite der Aufständischen gekämpft noch ist er in Syrien gewesen. Durch Vorlage seines im Juli 2013 ausgestellten russischen Reisepasses (AA Bl. 169) kann er dies ab diesem Zeitpunkt sogar belegen; aus dem temporären Ausreiseverbot ergibt sich nichts anderes.

120

Hinreichend tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr drohte, gegen seinen Willen durch russische föderale Stellen nach Dagestan zurückverbracht zu werden, waren den ausgewerteten Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. Soweit die Schweizerische Flüchtlingshilfe von rückgeführten Tschetschenen berichtet, die etwa vom russischen Geheimdienst nach Ankunft am Flughafen Moskau festgenommen und nach Tschetschenien gebracht oder nach Rückkehr aus dem westeuropäischen Ausland verhaftet und gefoltert worden seien (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe/A. Baudacci, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, Update vom 13. Mai 2016, S. 22), werden die jeweiligen Hintergründe nicht mitgeteilt. Schlüsse für den hier zu entscheidenden Fall waren daraus mithin nicht zu ziehen, zumal der Kläger bei seiner Einreise dieses Schicksal nicht erlitten hat.

121

(2) Der Kläger hat auch nicht infolge einer Einziehung zum Wehrdienst mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten.

122

(a) Es ist bereits nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Kläger in absehbarer Zeit nach seiner Rückkehr in die Russische Föderation zum Wehrdienst eingezogen wird.

123

Männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 27 Jahren unterliegen in der Russischen Föderation der einjährigen Wehrpflicht (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand: Juni 2017, S. 10). Darunter fällt grundsätzlich auch der ...-jährige Kläger. Die reale Gefahr, zum Wehrdienst eingezogen zu werden, wird durch die mit seiner Person verbundenen Sicherheitsbedenken jedoch deutlich vermindert.

124

Die allgemeine Wehrpflicht besteht in der gesamten Russischen Föderation. Grundsätzlich wird einem 18- bis 28-jährigen Mann in der Russischen Föderation ein Musterungsbescheid zugestellt, um ihn für den Wehrdienst in den Streitkräften zu mustern. Eine Einberufung in die Streitkräfte ist damit jedoch nicht zwingend verbunden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 29. Mai 2017, zu Frage 2). Junge Männer aus dem Nordkaukasus, insbesondere aus Tschetschenien, wurden in zurückliegenden Jahren über längere Zeit praktisch nicht zum Wehrdienst eingezogen. Dem lag im Wesentlichen zugrunde, dass man nicht "potenzielle Terroristen und Untergrundkämpfer" an der Waffe ausbilden wolle. Nordkaukasier könnten einen radikalen Islam in der Armee verbreiten; sie seien besonders undiszipliniert und würden eine "Dedowschtschina" auf ethnischer Grundlage betreiben (vgl. O., Wien, Gutachten vom 2. Februar 2015 für VG Berlin, S. 19 f.). Etwa nach dem Beginn des russischen militärischen Vorgehens gegen die Ukraine im Frühjahr 2014 änderten sich die Rahmenbedingungen aber. So wurden im Herbst 2014 wieder Rekruten aus dem Nordkaukasus einberufen (Dagestan: ca. 2 000, Tschetschenien: ca. 500, vgl. O., ebenda, S. 20, sowie Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Bremen vom 13. November 2015). Bei den tschetschenischen Rekruten soll es sich dabei überwiegend um Freiwillige mit abgeschlossenem Hochschulstudium gehandelt haben, von denen viele eine militärische Karrierelaufbahn anstrebten (vgl. Accord, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Strafen bei Wehrdienstverweigerung etc., 12. November 2014). In Dagestan wurden im Frühling 2016 1 800 junge Männer eingezogen, ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Trotzdem seien mehr als 2 000 junge Männer nicht auffindbar, die eingezogen werden sollten (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 1. Juni 2016, S. 50). Als ein Grund für die Änderung der Einberufungspraxis wird Personalnot bei den Streitkräften benannt, der mit einer Erhöhung der Einberufungsquote und auch durch den Rückgriff auf Wehrpflichtige aus dem Nordkaukasus begegnet werden sollte. Die kritische Personallage habe Sicherheitsbedenken gegenüber Rekruten aus dem Nordkaukasus zurücktreten lassen. Persönliche Garantien von Mitgliedern der jeweiligen Administrationen und Familienangehörigen sollen nun die wahrgenommenen Risiken eindämmen (vgl. Pester, Russlands Militärreform: Herausforderung Personal, SWP-Studie, November 2013, S. 24, 26; Klein/Pester, Russlands Streitkräfte: Auf Modernisierungskurs, SWP-Aktuell, Dezember 2013, S. 4).

125

Trotz der zunehmenden Personalengpässe und der geänderten Einberufungspraxis in den russischen Streitkräften hält der Senat eine Einberufung des Klägers zum Wehrdienst nicht für wahrscheinlich. Zwar liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass bei ihm Gründe für eine Befreiung vom Wehrdienst, Ausschlussgründe oder ein Recht auf Verschiebung/Aufschub des Militärdienstes gegeben sind (vgl. dazu O., Wien, Gutachten vom 2. Februar 2015 für VG Berlin, S. 12 ff.). Angesichts der anzunehmenden Bekanntheit der Abschiebungsgründe und der Befragung und Überwachung durch den Inlandsgeheimdienst FSB oder die Polizei, mit der nach Abschiebung in die Russische Föderation zu rechnen war, spricht jedoch Überwiegendes dafür, dass eine Einberufung des Klägers wegen des damit verbundenen erheblichen Sicherheitsrisikos unterbleiben wird. Dass Wehrpflichtige aus dem Nordkaukasus aktuell nicht mehr pauschal als Sicherheitsrisiko betrachtet werden, steht dem nicht entgegen, weil vom Kläger individuell die Gefahr eines islamistisch motivierten terroristischen Anschlags ausgeht. Es ist nicht nahe liegend, dass die für die Einberufung zuständigen Behörden in der Russischen Föderation das Risiko eingehen werden, eine solche Person an der Waffe auszubilden. Die Frage nach persönlichen Garantien stellt sich bei einem derart evidenten Sicherheitsrisiko schon nicht mehr; im Übrigen ist aber auch nicht ersichtlich, wer für den Kläger außerhalb des Nordkaukasus bürgen könnte.

126

(b) Unabhängig davon liegen nach der aktuellen Auskunftslage keine stichhaltigen Gründe (mehr) dafür vor, dass Wehrdienstleistenden in der Russischen Föderation eine Art. 3 EMRK verletzende Behandlung droht, indem sie dem System der sogenannten Dedowschtschina, d.h. der systematischen Misshandlungen und Erniedrigung von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige, ausgesetzt werden. Nach aktueller Auskunftslage ist dies zwar weiterhin nicht auszuschließen, aber nicht mehr beachtlich wahrscheinlich.

127

Anders als das Verwaltungsgericht Bremen (Urteil vom 18. November 2016 - 3 K 1982/09.A - juris Rn. 52 ff.) hält der Senat unter zusätzlicher Einbeziehung des jüngsten Lageberichts des Auswärtigen Amtes (Ad-hoc-Bericht Stand: Juni 2017) trotz der weiterhin problematischen Menschenrechtslage in den Streitkräften aktuell nicht mehr die Feststellung für gerechtfertigt, dass einem Wehrpflichtigen eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") droht. Bereits im Lagebericht von Anfang 2016 hatte das Auswärtige Amt berichtet, die im Jahr 2013 eingeleiteten Maßnahmen zur "Humanisierung" und Attraktivitätssteigerung des Wehrdienstes seien im Berichtszeitraum weiter umgesetzt worden. Diese Maßnahmen umfassten u.a. die Möglichkeit der heimatnahen Einberufung für Verheiratete, Wehrpflichtige mit Kindern oder Eltern im Rentenalter. Verbesserungen bei der Verpflegung, längere Ruhezeiten sowie die Erlaubnis zur Benutzung privater Mobiltelefone seien ebenfalls eingeführt worden. Offizielle Verlautbarungen zu Menschenrechtsverletzungen in den Streitkräften der Russischen Föderation habe es zuletzt nicht gegeben. Die Nichtregierungsorganisationen "Komitee der Soldatenmütter" und "Armee.Bürger.Recht" hätten jedoch von Soldaten berichtet, die sich aus ganz Russland mit der Bitte um Unterstützung beim Schutz ihrer Rechte an die Nichtregierungsorganisationen gewendet hätten. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Menschenrechtslage in den russischen Streitkräften weiterhin problematisch sei. Es sei zu vermuten, dass es nach wie vor zu Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige komme, jedoch nicht mehr im Ausmaß der Vergangenheit. Die Bildung einer Militärpolizeibehörde, die vor allem die "Dedowschtschina", aber auch Diebstahlsdelikte in den Streitkräften bekämpfen sollte, sei noch nicht vollständig abgeschlossen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Januar 2016, S. 14 f.). Im aktuellen Lagebericht, der eine im Übrigen unveränderte Einschätzung enthält, wird nunmehr ergänzend berichtet, Staatspräsident Putin habe im Jahr 2015 ein Dekret erlassen, das die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweitert habe und seitdem ausdrücklich die Bekämpfung der "Dedowschtschina" sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte umfasse. Insgesamt seien zunehmend einzelne Verbesserungen zu erkennen, weil - teilweise auf Initiative der Soldatenmütter - vor drei bis vier Jahren ein Beschwerderecht für Soldaten eingeführt worden sei, seit kurzem jeder Soldat ein Gehaltskonto haben müsse, um Korruption und Erpressung durch Vorgesetzte zu verhindern, und sich die soziale Lage durch den Neubau von Kasernen und die damit einhergehende Abnahme der Überbelegung verbessert habe. Dadurch seien auch die Misshandlungen jüngerer durch ältere Soldaten zurückgegangen (Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juni 2017, S. 10 f.).

128

Die darin zum Ausdruck kommende graduelle Verbesserung der Situation der Wehrdienstpflichtigen in den russischen Streitkräften wird bestätigt durch die vom Senat fallbezogen eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29. Mai 2017 (zu Frage 3a). Darin wird ergänzend ausgeführt, das Ministerium der Verteidigung der Russischen Föderation veröffentliche zwar keine genauen Zahlen zu Misshandlungen innerhalb der Streitkräfte. Zahlreiche Indikatoren wiesen jedoch darauf hin, dass diese Art von Dienstvergehen in den Streitkräften zurückgehe. Seit Beginn der Reform der Streitkräfte im Jahr 2008, insbesondere jedoch unter dem derzeitigen Minister für Verteidigung Sergei Schoigu, liege das Hauptaugenmerk der militärischen und politischen Leitung der Streitkräfte auf der Steigerung der Attraktivität der Streitkräfte. Das Maßnahmenpaket umfasse z.B. eine Erhöhung der Besoldung, den Wohnungsbau für Soldatenfamilien und medizinische Versorgung von Soldaten und deren Angehöriger. Der Aufrechterhaltung der Disziplin werde ein höherer Stellenwert als in den Jahren zuvor eingeräumt, wozu auch die konsequente Ahndung von Dienstvergehen wie z.B. Misshandlung gehöre. Es liegen schließlich auch keine Erkenntnisse dazu vor, dass die islamistische Radikalisierung des Klägers die allgemein nicht mehr den Grad einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit erreichende Gefahr, Opfer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK während eines Wehrdienstes zu werden, in relevanter Weise erhöhen würde (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Auskunft vom 29. Mai 2017, zu Frage 3a).

129

Es besteht auch nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Rahmen eines Wehrdienstes gegen seinen Willen nach Dagestan zurückkehren müsste. Allerdings führt O. aus, dass Wehrpflichtige, die keine Bestechungsgelder leisten könnten oder wollten, riskierten, in die Krisengebiete des östlichen Nordkaukasus (Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan) oder aber in einen Truppenteil geschickt zu werden, in denen eine harte "Dedowschtschina" herrsche (Gutachten vom 2. Februar 2015 für VG Berlin, S. 21). Da die vom Auswärtigen Amt berichteten graduellen Verbesserungen der Menschenrechtslage in den russischen Streitkräften in den letzten beiden Jahren in diesem bereits Anfang 2015 erstellten Gutachten jedoch noch nicht berücksichtigt sein konnten, ist bereits fraglich, inwieweit diese Aussage noch zutrifft. Im Ergebnis bestehen stichhaltige Gründe dafür, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, im Nordkaukasus zum Einsatz zu kommen, jedenfalls aus den Gründen nicht, aus denen schon seine Einberufung nicht beachtlich wahrscheinlich ist (s.o.).

130

(3) Die weiteren Voraussetzungen für eine interne Ausweichmöglichkeit in die Gebiete der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus liegen vor.

131

Nach der Rechtsprechung des EGMR zur Berücksichtigung internen Schutzes muss die abzuschiebende Person in der Lage sein, in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Außerdem dürfen die voraussichtlichen Lebensbedingungen dort nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen (vgl. EGMR, Urteile vom 11. Januar 2007 - Nr. 1948/04, Salah Sheekh/Niederlande - Rn. 141 ff., vom 28. Juni 2011 - Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich - Rn. 278 ff. und vom 13. Oktober 2011 - Nr. 10611/09, Husseini/Schweden - Rn. 65; siehe auch § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG sowie Art. 8 Richtlinie 2011/95/EU zum subsidiären internationalen Schutz).

132

Diese Voraussetzungen sind hier auch unter Berücksichtigung der individuellen Merkmale des Klägers gegeben. Der Kläger sollte unter Berücksichtigung der Gründe des Senatsbeschlusses vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - nach P., also nicht in den Nordkaukasus, abgeschoben werden; so ist es auch geschehen. Nach der vorliegenden Erkenntnislage war es dem Kläger bei Abschiebung grundsätzlich möglich und zumutbar, in der Russischen Föderation etwa in der weiteren, ländlicheren Umgebung von P. legal Wohnsitz zu nehmen und insbesondere registriert zu werden.

133

Entgegen seiner Annahme ist der Kläger nicht gezwungen, sich für die zu einer Registrierung erforderliche Ausstellung eines Inlandspasses nach Dagestan an seinen letzten Wohnort zu begeben. Sowohl Inlands- wie Auslandspässe können in der Russischen Föderation in jedem FMS-Büro beantragt und abgeholt werden. Beantragt eine Person den Pass beispielsweise in Moskau, erscheint das FMS-Büro Moskau als ausstellende Behörde, ohne dass es darauf ankommt, wo die Person mit ihrem Wohnsitz registriert ist (vgl. Danish Immigration Service, Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations, Januar 2015, S. 66). Der gegenteiligen Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (A. Schuster, Russland: Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger ausserhalb Dagestans, Auskunft vom 25. Juli 2014, S. 8, 10) folgt der Senat auch weiterhin nicht. Denn seine Annahme, dass eine Beantragung und Ausstellung des Inlandspasses auch außerhalb des letzten Wohnortes möglich ist, wird durch eine im Klageverfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amts vom 21. Februar 2018 bestätigt. Das Auswärtige Amt teilt darin mit, dass ein russischer Staatsangehöriger nach der Passverordnung der Russischen Föderation vom 8. Juli 1997 einen Inlandspass auch außerhalb der Region seines letzten Wohnorts beantragen könne; lediglich die Bearbeitungszeit verlängere sich dann von sonst 10 auf 30 Tage. Durchgreifende Gründe, an der Verlässlichkeit dieser Auskunft zu zweifeln, sind nicht ersichtlich.

134

Mit seinem Einwand, er könne einen neuen Inlandspass nicht zumutbar beantragen, weil er dazu - um sich auszuweisen - seinen Reisepass mit dem daraus noch ersichtlichen, vormaligen deutschen Ausreiseverbot vorlegen müsse, kann der Kläger nicht durchdringen. Der Senat hat vorstehend an seiner im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vertretenen Einschätzung festgehalten, dass dem Kläger in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte droht. Dabei ist er davon ausgegangen, dass den russischen staatlichen Stellen die Gründe und Hintergründe einer Abschiebung des Klägers voraussichtlich bekannt werden, und dass insbesondere auch der russische Pass im Zuge der Abschiebung den russischen Einreisebehörden wird vorgelegt werden müssen. Vor diesem Hintergrund ist dem Kläger dessen Vorlage auch bei der Meldebehörde zumutbar.

135

Auch Personen aus dem Nordkaukasus ist es möglich, in der übrigen Russischen Föderation eine Wohnung zu finden, auch wenn sie dabei auf größere Schwierigkeiten stoßen werden als ethnische Russen. Zwar haben Kaukasier größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, einen Vermieter zu finden (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juni 2017, S. 21). In Moskau ist es besonders schwierig, eine Unterkunft zu finden, weil freie Wohnungen selten und die Mieten hoch sind. Die schon allgemein bestehenden Schwierigkeiten sind für Tschetschenen/Kaukasier infolge ihres allgemein schlechten Ansehens noch größer (vgl. Danish Immigration Service, Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations, Januar 2015, S. 83). Letzten Endes gelingt es aber auch Tschetschenen immer, eine Bleibe zu finden, weil es keine obdachlosen Tschetschenen etwa in Moskau gibt; üblicherweise gelingt dies mit der Hilfe von Freunden oder Verwandten (Danish Immigration Service, a.a.O., S. 84). Dem Kläger dürfte dies zumindest außerhalb von P. auch ohne Freunde oder Verwandte möglich sein, zumal nicht alle Vermieter nur an ethnische Russen vermieten.

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Die Registrierung ist jedenfalls nach einem Aufenthalt von drei Monaten obligatorisch. Bei Abschiebung war davon auszugehen, dass sie dem Kläger auch möglich sein würde. Auch wenn es Fälle von geforderten Bestechungsgeldern oder Diskriminierungen durch Behördenvertreter gibt, ist letzten Endes jeder in der Lage, eine Registrierung zu erhalten, auch ohne ein Bestechungsgeld zu zahlen. Bei fehlender Bereitschaft zur Zahlung eines Bestechungsgeldes dauert die Registrierung nur länger, ungefähr drei Wochen, sie wird am Ende aber vorgenommen. Seitens einer tschetschenischen sozialen und kulturellen Vereinigung wird berichtet, die Registrierung sei deutlich einfacher geworden als noch vor zwei Jahren. Das FMS habe ein Service-Center in Moskau eingerichtet, bei dem man alle notwendigen Informationen erhalte und die geforderten Dokumente (etwa eine Kopie des Inlandspasses) einreichen und die Registrierungsunterlagen ausfüllen könne. Es sei nicht mehr notwendig, zur Polizei oder zur Hausverwaltung zu gehen, und das administrative Verfahren sei vereinfacht worden, einschließlich der Möglichkeit, es elektronisch durchzuführen. Das Verfahren sei nunmehr in ein paar Tagen abschließend durchzuführen (zu Vorstehendem: Danish Immigration Service, Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations, Januar 2015, S. 75 f.). Der Annahme im Zeitpunkt der Abschiebung, dass dem Kläger eine Registrierung und damit die Begründung eines legalen Aufenthalts in der russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus möglich sein würde, steht auch nicht die Aussage des Auswärtiges Amtes entgegen, wonach der legale Zuzug von Tschetschenen an vielen Orten durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert werde (Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juni 2017, S. 21). Ungeachtet dessen, dass die dort erwähnten Zuzugserschwernisse nicht überall, sondern nur "an vielen Orten" bestehen sollen, hat der in der mündlichen Verhandlung anwesende Vertreter des Auswärtigen Amtes erläutert, dass diese Aussage im Lagebericht explizit nur Tschetschenen betreffe. Zudem sei sie zeitlich überholt; der künftige Lagebericht für das Jahr 2018 werde diese Einschränkung nicht mehr enthalten. Angesichts dieser Erläuterungen drängte sich dem Senat eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht auf.

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Dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag, zum Beweis der Tatsache, dass einer Registrierung des Klägers in Russland auch Rechtsvorschriften entgegenstehen, eine weitere erklärende Auskunft des Auswärtigen Amtes einzuholen, brauchte der Senat ebenfalls nicht nachzugehen. Zum einen war dieser Antrag gemäß § 87b Abs. 3 VwGO als verspätet zurückzuweisen, weil der Kläger ihn nicht innerhalb der ihm nach § 87b Abs. 1 und 2 Nr. 1 VwGO bis zum 9. Februar 2018 gesetzten Frist (vgl. gerichtliche Verfügung vom 5. Dezember 2017, Nr. 1a) gestellt hat. Obwohl die o.g. Aussage des Auswärtigen Amtes bereits wortgleich im vorangegangenen Lagebericht vom 24. Januar 2017 (Stand: Dezember 2016) enthalten war, den der Senat dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zugrunde gelegt hat, hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers ihre hierauf gestützten Zweifel an der Möglichkeit einer Registrierung und den diesbezüglichen Beweisantrag erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebracht. Dies ist nicht genügend entschuldigt worden, und die Einholung einer weiteren schriftlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes hätte die Erledigung des im Übrigen entscheidungsreifen Rechtsstreits verzögert, weil die mündliche Verhandlung hätte vertagt werden müssen. Der Kläger ist in der Verfügung vom 5. Dezember 2017 auch über die Folgen einer Fristversäumnis belehrt worden (§ 87b Abs. 3 VwGO). Zum anderen ist die Beweisfrage angesichts der im Lagebericht ausdrücklich auf Tschetschenen beschränkten Aussage und der nach Rücksprache im Auswärtigen Amt erfolgten Bestätigung dieser Beschränkung durch den in der mündlichen Verhandlung anwesenden Vertreter des Auswärtigen Amtes bereits beantwortet.

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Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, eine Registrierung könne ihm mit Blick auf ihm drohende Gefahren als terrorverdächtigen Islamisten sowie eine drohende Einziehung zum Wehrdienst nicht zugemutet werden. Da ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte, war ihm die Registrierung zur Ermöglichung der damit verbundenen existenzsichernden Vorteile (etwa einer legalen Arbeitsstelle) im Zeitpunkt der Abschiebung auch zumutbar. Nachteile wie auch eventuelle Gefahrerhöhungen, die nunmehr damit verbunden sein können, dass der Kläger nach eigenem Vortrag inzwischen seit mehreren Monaten ohne Registrierung in der Russischen Föderation lebt, können schon deshalb nicht zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führen, weil sie auf einem erst nach dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt gezeigten (eigenverantwortlichen) Verhalten des Klägers beruhen.

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Daran anknüpfend geht der Senat davon aus, dass der Kläger auch außerhalb Dagestans seinen Lebensunterhalt auf einem einfachen Niveau sichern kann. Dazu ist erforderlich, dass er unter Berücksichtigung seiner persönlichen Voraussetzungen das wirtschaftliche Existenzminimum, sei es durch eigene Arbeit, sei es durch staatliche oder sonstige Hilfen, erlangen kann und nicht der Obdachlosigkeit ausgesetzt ist (BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Nr. 30 Rn. 11; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 - juris Rn. 21). Dies ist vorliegend anzunehmen. Zwar wird die Arbeitsuche für einen Kaukasier, der in einem anderen Gebiet der Russischen Föderation dauerhaft Aufenthalt nehmen will, als schwierig bezeichnet (vgl. Danish Immigration Service, Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations, Januar 2015, S. 83). Auch hat der Kläger keine Berufsausbildung und verfügte - soweit im Abschiebezeitpunkt feststellbar - nicht über Verwandte oder Bekannte außerhalb Dagestans. Diese Annahme hat sich allerdings insoweit als nicht vollständig zutreffend erwiesen, als er nunmehr bei entfernten Bekannten seiner Eltern in Nordwestrussland aufgenommen worden ist. Zudem ist er ein gesunder und arbeitsfähiger junger Mann, der über einen in Deutschland erworbenen Hauptschulabschluss verfügt und sich grundlegende Russischkenntnisse (nachdem er bereits Deutsch und Kumykisch spricht, in der Schule Englisch gelernt und privat Arabisch-Unterricht genommen hat) vor Ort schnell wird aneignen können. Ihm sind außer kriminellen Tätigkeiten alle Arbeiten zumutbar, auch solche, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Nr. 30 Rn. 11). Eine solche Tätigkeit wird er nach entsprechend ausdauernder Arbeitsuche finden können. Dass der Kläger nach dem Gutachten des Dr. K. noch nicht wie ein Erwachsener wirkt und ihm nach Beobachtungen von Pflegern in der B.er Klinik "jegliche Alltagspraxis" fehle, rechtfertigte bei seiner Abschiebung keine andere Prognose.

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cc) Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen war die Abschiebungsanordnung auch ohne eine Zusicherung menschenrechtskonformer Behandlung seitens russischer Regierungsstellen mit Art. 3 EMRK vereinbar. Der mit Schriftsatz vom 11. Juli 2017 im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes vom Kläger eingereichte Entwurf einer Verbalnote des Auswärtigen Amtes führt auch weiterhin nicht zu einer anderen Beurteilung. Die Verbalnote ließ keinen Rückschluss darauf zu, dass eine Zusicherung nach der Beurteilung des Auswärtigen Amtes erforderlich sei, um einer abschiebungserheblichen Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu begegnen. Sie war vielmehr vorsorglich für den Fall vorgesehen, dass sich eine Zusicherung nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes als erforderlich erweisen sollte. Dies war jedoch nicht der Fall (vgl. den Beschluss des Senats vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Buchholz 402.242 § 58a AufenthG Nr. 5). Daher bedurfte es auch nicht der von der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Eilverfahren beantragten Beiziehung der Dokumentation zum "deutsch-russischen Dialog zu Migration und Rückkehr" am 21. Juni 2017 in Berlin.

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dd) Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis lag nicht deshalb vor, weil im Zeitpunkt der Abschiebung konkret zu befürchten gewesen wäre, dass sich der Kläger nach einer Abschiebung in die Russische Föderation dort das Leben nehmen könnte. Die sich aus der Aktenlage und dem Gutachten des Sachverständigen Dr. K. ergebende Persönlichkeitsbewertung deutet nicht auf eine Bereitschaft oder Neigung des Klägers, seinem Leben unabhängig von einem Terroranschlag ein Ende zu setzen. Die Äußerungen zu einer "Todessehnsucht" stehen in untrennbarem Zusammenhang mit dem Wunsch des Klägers, ins Paradies zu kommen, und der entsprechenden Märtyrerideologie des sogenannten "Islamischen Staates". Soweit er bei seinem Zusammenbruch nach seiner Aussage bei der Polizei beteuert hat, die Religion stehe bei seinen Suizidgedanken nicht im Vordergrund, er wolle einfach sterben, ist dies nicht glaubhaft. Ein - damit allein in Betracht zu ziehender - Terroranschlag, bei dem er sein Leben bewusst und gezielt aufs Spiel setzt, begründete mangels relevanter psychiatrischer Störungen oder Beeinträchtigungen des Klägers kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis.

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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.