Entscheidungsdatum: 16.05.2012
1. Das Betreuungsgericht hat von Amts wegen alle zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2010, XII ZB 165/10, FamRZ 2011, 285 Rn. 13).
2. Die Voraussetzungen für eine Betreuung nach § 1896 BGB können nicht aufgrund einer bloßen Verdachtsdiagnose des Sachverständigen festgestellt werden.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 10. Oktober 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 3.000 €
I.
Die Betroffene wendet sich gegen die Anordnung ihrer Betreuung.
Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens für die 1922 geborene Betroffene eine Betreuung eingerichtet mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, alle Vermögensangelegenheiten, Vertretung bei Behörden, Befugnis zum Empfang von Post, Wohnungsangelegenheiten und Sicherstellung häuslicher Pflege und Versorgung. Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Nach Auffassung des Landgerichts steht aufgrund des Sachverständigengutachtens fest, dass die Betroffene auf die Hilfe anderer angewiesen sei. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass die Betroffene an einer rezidivierenden schweren depressiven Störung mit anhaltender Affekt- und Antriebsstörung und einer leichten kognitiven Störung leide. In der Gesamtwürdigung müsse der Ausprägungsgrad der Erkrankung als schwer beurteilt werden. Ihre Wohnung sei nach normalen Maßstäben kaum noch bewohnbar. Die Betroffene sei im Rahmen ihrer Erkrankung offenkundig nicht dazu in der Lage, den Zustand ihrer Wohnung bzw. ihren momentan noch dringend behandlungsbedürftigen Gesundheitszustand ausreichend kritisch zu würdigen und insofern sicher umfassend hilfs- und betreuungsbedürftig. Die Ausführungen des Sachverständigen seien klar und eindeutig, in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Demgemäß habe die Kammer keine Bedenken, ihre Entscheidung hierauf zu stützen. Bei der persönlichen Anhörung der Betroffenen sei deutlich geworden, dass die Betroffene bezüglich ihrer Erkrankung völlig uneinsichtig und nicht in der Lage sei, ihren Zustand realitätsgerecht zu betrachten und ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Das Beschwerdevorbringen sei von krankheitsbedingter Uneinsichtigkeit geprägt. Die Kammer habe von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen im Beschwerdeverfahren abgesehen. Der Sachverhalt stehe fest.
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen beruhen - wie die Rechtsbeschwerde im Ergebnis zu Recht rügt - auf einem nicht hinreichend ermittelten Sachverhalt und sind demnach verfahrensfehlerhaft.
a) Gemäß § 26 FamFG hat das Gericht von Amts wegen alle zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Über Art und Umfang dieser Ermittlungen entscheidet zwar grundsätzlich der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen. Das Rechtsbeschwerdegericht hat jedoch unter anderem nachzuprüfen, ob das Beschwerdegericht die Grenzen seines Ermessens eingehalten hat, ferner, ob es von ungenügenden Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist (Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2010 - XII ZB 165/10 - FamRZ 2011, 285 Rn. 13).
Zu den für die Bestellung eines Betreuers erforderlichen Ermittlungen gehört nach § 280 FamFG die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Diesem Gutachten muss wiederum mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen sein, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung nach § 1896 BGB vorliegen; eine Verdachtsdiagnose genügt nicht (OLG Köln Beschluss vom 5. August 2009 - 16 Wx 84/09 - juris Rn. 4 - Leitsatz veröffentlicht in FamRZ 2009, 2116; Palandt/Diederichsen BGB 71. Aufl. § 1896 Rn. 5; Keidel/Budde FamFG 17. Aufl. § 280 Rn. 27). Im Übrigen muss sich der Tatrichter davon überzeugen, dass der Sachverständige im Rahmen seiner Begutachtung von einer zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist.
b) Diesen Anforderungen wird die von den Instanzgerichten durchgeführte Sachverhaltsermittlung nicht gerecht.
aa) Das Sachverständigengutachten gründet zu einem wesentlichen Teil auf der Behauptung der Stiefkinder der Betroffenen gegenüber dem Gutachter, wonach sich die Wohnung der Betroffenen in einem völlig verwahrlosten und nach normalem Ermessen unbewohnbaren Zustand befunden habe. Diesem Umstand hat der Sachverständige ersichtlich besondere Bedeutung beigemessen. So heißt es im Rahmen der zusammenfassenden Beurteilung des Gutachtens u.a., die Betroffene sei im Rahmen ihrer Erkrankung offenkundig nicht dazu in der Lage, den Zustand ihrer Wohnung (…) ausreichend kritisch zu würdigen und sei insofern sicher umfassend hilfs- und betreuungsbedürftig. Zudem hat der Gutachter in diesem Kontext auf Forschungen zum Messie-Syndrom verwiesen, wonach die Betroffenen häufig an Schizophrenie und affektiven Störungen litten.
Der Sachverständige, der die Betroffene im Krankenhaus exploriert hat, hat sich allerdings selbst keinen eigenen Eindruck von der Wohnsituation der Betroffenen verschafft. Die Betroffene hat jedoch bestritten, eine verwahrloste Wohnung zu haben, was ihre Verfahrenspflegerin auch ausdrücklich vorgetragen hatte. Bei dieser Sachlage hätte der Sachverständige seinem Gutachten nicht ohne weitere Ermittlungen den Umstand zugrunde legen dürfen, dass die Wohnung der Betroffenen verwahrlost sei bzw. sie an dem sogenannten "Messie-Syndrom" leide. Allein der Umstand, dass die Mitarbeiter der Klinik auf eine ausgeprägte Sammelleidenschaft der Betroffenen hingewiesen haben, weil diese zum Beispiel stapelweise Zeitungen gehortet und teilweise bereits verdorbene Lebensmittel in ihrem Zimmer aufbewahrt habe, genügt nicht, um das Gericht von der Verpflichtung zu entbinden, konkrete Feststellungen zur Wohnsituation zu treffen und dadurch zu überprüfen, ob der Sachverständige von zutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen ist.
bb) Das Gutachten lässt außerdem eine eindeutige Aussage zu der Frage vermissen, ob der freie Wille der Betroffenen der Betreuung entgegensteht.
(1) Nach § 1896 Abs. 1 a BGB darf ein Betreuer gegen den freien Willen des Volljährigen nicht bestellt werden.
Wenn der Betroffene - wie hier - der Einrichtung einer Betreuung nicht zustimmt, ist neben der Notwendigkeit einer Betreuung stets zu prüfen, ob die Ablehnung durch den Betroffenen auf einem freien Willen beruht. Das sachverständig beratene Gericht hat daher festzustellen, ob der Betroffene trotz seiner Erkrankung noch zu einer freien Willensbestimmung fähig ist (Senatsbeschlüsse vom 14. März 2012 - XII ZB 502/11 - juris Rn. 13 und vom 9. Februar 2011 - XII ZB 526/10 - FamRZ 2011, 630 Rn. 3 ff.).
Dabei ist der Begriff der freien Willensbestimmung im Sinne des § 1896 Abs. 1 a BGB und des § 104 Nr. 2 BGB im Kern deckungsgleich. Die beiden entscheidenden Kriterien sind die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln. Fehlt es an einem dieser beiden Elemente, liegt kein freier, sondern nur ein natürlicher Wille vor (Senatsbeschluss vom 14. März 2012 - XII ZB 502/11 - juris Rn. 14).
(2) Hinreichend konkrete Feststellungen zu dem Fehlen eines freien Willens der Betroffenen sind nicht getroffen worden.
Der Gutachter führt hierzu lediglich aus, dass die Betroffene in der Gesamtbetrachtung aufgrund der nachweisbar deutlichen Minderung der Kritik- und Urteilsfähigkeit insbesondere in den Bereichen Gesundheitsfürsorge, Wohnsituation und Sicherstellung der häuslichen Versorgung "wahrscheinlich" weder als ausreichend geschäfts-, noch als ausreichend einwilligungsfähig anzusehen sei, weshalb eine Betreuung gegenwärtig auch gegen den Willen der Betroffenen angeordnet werden sollte.
Bei den Ausführungen zum Fehlen eines freien Willens handelt es sich um eine Verdachtsdiagnose, die die Anordnung einer Betreuung nicht zu begründen vermag.
cc) Soweit das Landgericht die Feststellung der Uneinsichtigkeit der Betroffenen auf ihre Anhörung bzw. Beschwerdeschrift gründet, vermag der Senat dem nicht zu folgen. In ihrer Anhörung hat die Betroffene unter anderem ausgeführt, sie würde ihre Sachen selbst regeln. In ihrer Beschwerdeschrift hat sie weiter ausgeführt, ihre geistigen Fähigkeiten seien in keiner Weise vermindert und sie sei durchaus in der Lage, ihre Angelegenheiten voll und ganz eigenständig zu erledigen. Mit diesen Äußerungen hat die Betroffene ihr Recht wahrgenommen, sich gegen eine - aus ihrer Sicht unnötige - Betreuung zu wehren. Daraus auf Uneinsichtigkeit zu schließen, erscheint nicht gerechtfertigt.
3. Da nicht auszuschließen ist, dass das Beschwerdegericht bei Beachtung der vorstehenden Anforderungen an das Verfahren zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, ist der angegriffene Beschluss des Landgerichts gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist. Daher ist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen, § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG.
Dose Schilling Günter
Nedden-Boeger Botur