Entscheidungsdatum: 04.07.2017
Der Beklagten zu 1 wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 23. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 20. Juli 2016 gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 1 wird der vorgenannte Beschluss aufgehoben, soweit zum Nachteil der Beklagten zu 1 erkannt worden ist.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 21.983,63 €.
I.
Die Beklagte zu 1 war zusammen mit dem am Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr beteiligten Beklagten zu 2 Mieter einer nach Kündigung wegen Mietrückständen inzwischen zwangsgeräumten Wohnung des Klägers in R. . Durch Schlussurteil des Amtsgerichts Ratingen vom 3. Dezember 2015 sind beide als Gesamtschuldner zur Zahlung von Mietrückständen nebst Zinsen sowie dazu verurteilt worden, unter Vorbehalt getätigte Mietzahlungen für vorbehaltlos zu erklären.
Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat die zuständige Abteilungsrichterin des Amtsgerichts die Übersendung jeweils einer beglaubigten Abschrift sowie einer Abschrift des Urteils an die Beklagten mit Zustellungsurkunde verfügt, und zwar hinsichtlich der Beklagten zu 1 mit dem Zusatz, dass die Sendung ihr persönlich zu übergeben sei. Dem Beklagten zu 2 ist das mit Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil am 8. Dezember 2015 zugestellt worden, während dies hinsichtlich der Beklagten zu 1 nach mehreren vergeblichen Zustellversuchen erst am 8. April 2016 gelungen ist.
Mit einem am Montag, dem 9. Mai 2016, bei dem Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz ihrer zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten hat die Beklagte zu 1 gegen das Schlussurteil des Amtsgerichts Berufung eingelegt und diese am 8. Juni 2016 begründet. Das Landgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Beklagte, nachdem ihr der Senat Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt hat, mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
Der Beklagten zu 1, die innerhalb der laufenden Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde einen ordnungsgemäßen Prozesskostenhilfeantrag unter Beifügung vollständiger Unterlagen über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gestellt hat, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde zu bewilligen (§ 233 ZPO). Denn sie war im Hinblick auf ihre Bedürftigkeit ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der genannten Fristen gehindert und hat die versäumten Rechtshandlungen nach Wegfall des Hindernisses innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist (§ 234 Abs. 1 ZPO) nachgeholt.
III.
Die Rechtsbeschwerde führt gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, damit dieses dem Verfahren, soweit es die Beklagte zu 1 betrifft, in der Sache Fortgang geben kann.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Auch die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO liegen vor, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Denn das Berufungsgericht hat in der angegriffenen Entscheidung das in der nachstehend aufgeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für eine wirksame Zustellung aufgestellte Erfordernis eines Zustellungswillens verkannt und dadurch zugleich den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch der Beklagten zu 1 auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschluss vom 12. Juli 2016 - VIII ZB 55/15, WuM 2016, 632 Rn. 1 mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
a) Das Berufungsgericht hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Die Berufung der Beklagten zu 1 sei verfristet, weil die Berufungseinlegungsfrist für sie bereits am 8. Dezember 2015 mit der Zustellung des Schlussurteils an den Beklagten zu 2 in Lauf gesetzt worden sei. Dieser habe im Verlauf des erstinstanzlichen Rechtsstreits zwei Prozessvollmachten der Beklagten zu 1 zur Akte gereicht und sei - was nach § 79 Abs. 2 Nr. 2 ZPO bei einem Streitgenossen möglich sei - in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht stets als ihr Prozessbevollmächtigter aufgetreten. Eine Zustellung habe deshalb nach § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO an diesen bewirkt werden müssen und sei demgemäß am 8. Dezember 2015 durch die an diesen erfolgte Urteilszustellung bewirkt worden.
b) Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Schlussurteil des Amtsgerichts ist der Beklagten zu 1 vielmehr frühestens am 8. April 2016 zugestellt worden, so dass die Fristen zur Einlegung und Begründung der Berufung gemäß §§ 517, 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO allenfalls durch diese Zustellung in Lauf gesetzt werden konnten und in der Folge von der Beklagten zu 1 auch gewahrt worden sind.
aa) § 317 Abs. 1 Satz 1 ZPO sieht vor, dass die Urteile den Parteien in Abschrift zugestellt werden. Für den Fall einer - wie hier - Streitgenossenschaft ist das Urteil jedem Streitgenossen (gesondert, also auch mit gesonderter Abschrift) zuzustellen (vgl. nur Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 14. Aufl., § 317 Rn. 5; ferner etwa VGH Kassel, NJW 2009, 1624, 1625 mwN). Die am 8. Dezember 2015 erfolgte Zustellung an den Beklagten zu 2 hat deshalb nicht schon als solche eine Wirkung zu Lasten der Beklagten zu 1 entfalten können.
bb) Die dem Beklagten zu 2 für den ersten Rechtszug erteilte Prozessvollmacht hat entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zur Folge gehabt, dass die an ihn in dieser Parteistellung am 8. Dezember 2015 bewirkte Zustellung des Schlussurteils auch als eine den Lauf der Rechtsmittelfristen insgesamt auslösende Zustellung an die Beklagte zu 1 angesehen werden kann.
(1) Für eine solche umfassend wirkende Zustellung hat es an dem dazu erforderlichen Willen des Amtsgerichts gefehlt, die an den Beklagten zu 2 gerichtete Urteilszustellung zugleich an die Beklagte zu 1 zu adressieren. Bereits nach dem Wortlaut der Heilungsvorschrift des § 189 ZPO, wonach es sich bei dem zuzustellenden Schriftstück um ein Dokument handeln muss, das "der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte", zugegangen ist, ist nämlich ein für eine förmliche Zustellung unabdingbares Wirksamkeitserfordernis, dass das Gericht die Zustellung mit Zustellungswillen an einen bestimmten Zustellungsadressaten bewirken wollte. Besondere Bedeutung ist dem Erfordernis eines solchen Zustellungswillens namentlich dann beizumessen, wenn - wie im Streitfall - mit der Zustellung eine Notfrist in Gang gesetzt werden soll. Denn nur wenn der Zustellungsempfänger davon ausgehen kann, dass das Gericht das zuzustellende Schriftstück (gerade) auch ihm in seiner Eigenschaft als Partei oder - wie in der streitigen Konstellation - (zugleich) als Vertreter einer bestimmten Partei tatsächlich zur Kenntnis bringen wollte, kann er angesichts der besonderen Bedeutung der Notfrist und der damit für ihn verbundenen Rechtsfolgen mit einer ihm nachteiligen Heilung etwaiger Zustellungsmängel sowie einem ungeachtet der Mängel in Gang gesetzten Fristenlauf rechnen und muss sich darauf einrichten; daher ist ein in bestimmte Richtung weisender Zustellungswille für die Wirksamkeit einer Zustellung unerlässlich und kann sein Fehlen auch nicht geheilt werden (BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 - IV ZR 14/08, VersR 2010, 1520 Rn. 17 f.; vgl. ferner Urteile vom 7. Dezember 2010 - VI ZR 48/10, NJW-RR 2011, 417 Rn. 11, und vom 27. Januar 2011 - VII ZR 186/09, BGHZ 188, 128 Rn. 41, 44; zum Ganzen umfassend nunmehr auch Senatsurteil vom 29. März 2017 - VIII ZR 11/16, unter II 3 c mwN, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen).
(2) Der danach erforderliche Wille, die Zustellungen zusammenzufassen und dem Beklagten zu 2 das Schlussurteil zugleich für die Beklagte zu 1 als deren Prozessvertreter zuzustellen, hat ersichtlich gefehlt, als die Abteilungsrichterin des Amtsgerichts am 3. Dezember 2015 die Urteilszustellung verfügt hat. Der Beklagten zu 1 sollte im Gegenteil gesondert, und zwar unmittelbar durch persönliche Übergabe, zugestellt werden. Dementsprechend findet sich etwa auch auf der den Beklagten zu 2 betreffenden Zustellungsurkunde kein Hinweis, dass er die Urteilsabschrift nicht nur selbst als beklagte Partei, sondern zugleich als (Prozess-)Vertreter der Beklagten zu 1 übermittelt erhalten sollte. Für ihn war deshalb nicht erkennbar, dass mit der Urteilszustellung an ihn gleichzeitig die Rechtsmittelfrist für die Beklagte zu 1 in Lauf gesetzt werden sollte und insoweit Handlungsbedarf für diese entstehen konnte. Mithin kann - anders als das Berufungsgericht meint - die am 8. Dezember 2015 an den Beklagten zu 2 bewirkte Urteilszustellung ungeachtet seiner Prozessvollmacht auch nicht nachträglich als eine der Beklagten zu 1 gleichwohl zurechenbare und damit die Rechtsmittelfristen bereits zu diesem Zeitpunkt in Lauf setzende Urteilszustellung gewertet werden.
cc) Es kann dahinstehen, ob auch die am 8. April 2016 an die Beklagte zu 1 erfolgte Urteilszustellung wirksam war oder ob einer Wirksamkeit dieser Urteilszustellung nicht sogar die dem Beklagten zu 2 erteilte Prozessvollmacht entgegen gestanden hat, aufgrund derer die nach § 317 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorgeschriebene Urteilszustellung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO zwingend an den Prozessbevollmächtigten hätte bewirkt werden müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 28. November 2006 - VIII ZB 52/06, NJW-RR 2007, 356 Rn. 6 mwN). Denn selbst wenn der Fristlauf bereits am 8. April 2016 begonnen haben sollte, wären die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist im Streitfall gewahrt.
Dr. Milger |
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Dr. Achilles |
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Dr. Fetzer |
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