Entscheidungsdatum: 14.09.2010
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 25. März 2010 aufgehoben.
Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Buxtehude vom 12. Januar 2010 dahin abgeändert, dass über die dort festgesetzten Kosten hinaus die von dem Kläger an die Beklagte aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Buxtehude vom 19. August 2009 zu erstattenden Kosten auf weitere 211,17 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28. August 2009 festgesetzt werden.
Der Kläger hat die Kosten der Rechtsmittelverfahren zu tragen.
Streitwert: 211,17 €.
I.
Die Parteien haben um Ansprüche des Klägers aus Warenlieferungen gestritten. Das Amtsgericht hat die Klage durch rechtskräftiges Urteil vom 19. August 2009 abgewiesen und dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits nach einem Streitwert von 4.172,02 € auferlegt. Hierauf gestützt hat die Beklagte unter dem 28. August 2009 die Festsetzung von Kosten in Höhe von 835,98 € gegen den Kläger beantragt. Das Amtsgericht hat die der Beklagten zu erstattenden Kosten auf insgesamt 624,81 € nebst Zinsen festgesetzt und dabei die in Höhe von 354,90 € zur Erstattung angemeldete Verfahrensgebühr mit Rücksicht auf ein vorprozessuales Tätigwerden des Prozessbevollmächtigten der Beklagten nur mit dem 0,65-fachen Satz (177,45 € netto zzgl. Mehrwertsteuer = 211,17 €) in Ansatz gebracht. Ihre mit dem Ziel, die Anrechnung der vorgerichtlichen Geschäftsgebühr zu beseitigen, eingelegte sofortige Beschwerde hatte keinen Erfolg. Mit ihrer vom Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Festsetzung einer ungekürzten 1,3-fachen Verfahrensgebühr weiter.
II.
Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 575 ZPO) hat Erfolg.
1. Das Beschwerdegericht ist mit dem Amtsgericht der Auffassung, dass es nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG zu einer Kürzung der von der Beklagten angesetzten Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3100 VV RVG auf den 0,65-fachen Satz kommen müsse. An dieser im Senatsbeschluss vom 22. Januar 2008 (VIII ZB 57/07, NJW 2008, 1323) dargestellten Rechtslage ändere auch der seit dem 5. August 2009 geltende § 15a RVG nichts, weil nicht diese Bestimmung, sondern die Übergangsvorschrift des § 60 RVG Anwendung finde, wonach die Vergütung nach bisherigem Recht zu berechnen sei, wenn - wie hier - der unbedingte Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit im Sinne von § 15 RVG vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung erteilt worden sei. Der Auffassung des II. und des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (Beschlüsse vom 2. September 2009 - II ZB 35/07, NJW 2009, 3101; vom 9. Dezember 2009 - XII ZB 175/07, NJW 2010, 1375), wonach die Anrechnungsbestimmung des § 15a RVG auch rückwirkend anzuwenden sei, weil es sich hierbei nicht um eine inhaltlich neue Regelung, sondern lediglich um eine Klarstellung der bisherigen Gesetzeslage handele, könne nicht gefolgt werden. Durch § 15a RVG sei vielmehr die Frage der Anrechnung im Wege der Gesetzesänderung inhaltlich neu geregelt worden, so dass § 60 Abs. 1 RVG eingreife und bei den zeitlich vor Inkrafttreten des § 15a RVG entstandenen Gebühren die beschriebene Anrechnung vorzunehmen sei.
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Die Rechtsbeschwerde macht zutreffend geltend, dass die in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vorgeschriebene Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens der Parteien in der Weise hätte erfolgen müssen, wie sie nunmehr in § 15a RVG beschrieben ist, der durch Art. 7 Abs. 4 Nr. 3 des Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) in das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz eingefügt worden und gemäß Art. 10 Satz 2 dieses Gesetzes am 5. August 2009 in Kraft getreten ist.
a) Die Frage, ob sich durch die anteilige Anrechnung einer vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG die in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren anfallende Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vermindert, war bislang umstritten und ist auch nach Einfügung des § 15a RVG umstritten geblieben, soweit es den zeitlichen Geltungsbereich dieser Anrechnungsvorschrift betrifft. Dessen Absatz 1 bestimmt zur Anrechnung einer Gebühr, dass in Fällen, in denen das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere Gebühr vorsieht, der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern kann, jedoch nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag der beiden Gebühren. Absatz 2 sieht vor, dass ein Dritter sich auf die Anrechnung nur berufen kann, soweit er den Anspruch auf eine der beiden Gebühren erfüllt hat, wegen eines dieser Ansprüche gegen ihn ein Vollstreckungstitel besteht oder beide Gebühren in demselben Verfahren gegen ihn geltend gemacht werden.
b) Der Senat hat bis zum Erlass des § 15a RVG in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass sich durch die anteilige Anrechnung einer vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG nicht die bereits entstandene Geschäftsgebühr, sondern die in dem anschließenden gerichtlichen Verfahren nach Nr. 3100 VV RVG anfallende Verfahrensgebühr vermindert und dass es für die Anrechnung ohne Bedeutung ist, ob die Geschäftsgebühr auf materiell-rechtlicher Grundlage vom Prozessgegner zu erstatten und ob sie unstreitig, geltend gemacht, tituliert oder bereits beglichen ist oder nicht. Dieser im Senatsbeschluss vom 22. Januar 2008 (VIII ZB 57/07, aaO Rn. 6 ff.) näher ausgeführten Sichtweise, der insbesondere mehrere Zivilsenate des Bundesgerichtshofs gefolgt sind, hat sich der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 2. September 2009 - II ZB 35/07, aaO Rn. 6 ff.), nicht anzuschließen vermocht, seine Bedenken jedoch nicht näher ausgeführt, weil er den zwischenzeitlich in Kraft getretenen § 15a RVG auch auf noch nicht abgeschlossene Kostenfestsetzungsverfahren angewandt wissen will. Dies hat er damit begründet, dass der Gesetzgeber mit dem neu eingefügten § 15a RVG das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz nicht geändert, sondern lediglich die seiner Ansicht nach bereits vor dessen Einfügung bestehende Rechtslage klargestellt habe, derzufolge sich die Anrechnung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG grundsätzlich im Verhältnis zu Dritten, also insbesondere im Kostenfestsetzungsverfahren, nicht auswirke, sondern nur das Innenverhältnis zwischen Anwalt und Mandant betreffe. Dieser Sichtweise, der sich mehrere Zivilsenate des Bundesgerichtshofs angeschlossen haben, ist auch der Senat durch Beschluss vom 10. August 2010 (VIII ZB 15/10, zur Veröffentlichung vorgesehen) zur Vermeidung eines der Sache nicht angemessenen Vorgehens nach § 132 GVG beigetreten.
Danach ist auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes davon auszugehen, dass die in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG angeordnete Anrechnung für die Höhe der gesetzlichen Gebühren, deren Erstattung § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO im Verhältnis der Prozessparteien untereinander vorsieht, ohne Bedeutung ist und eine obsiegende Prozesspartei mithin die Erstattung einer ungekürzten Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG beanspruchen kann.
3. Die Rechtsbeschwerde rügt hiernach zu Recht, dass das Beschwerdegericht die angemeldete Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG nur gekürzt und nicht mit dem 1,3-fachen Satz in Ansatz gebracht hat. Da in der Sache keine weiteren Feststellungen zu treffen sind, sondern der Sachverhalt zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat gemäß § 577 Abs. 5 ZPO nach Maßgabe vorstehender Beschlussformel in der Sache selbst zu entscheiden.
Ball Dr. Milger Dr. Hessel
Dr. Achilles Dr. Fetzer