Entscheidungsdatum: 29.06.2018
1. NV: Macht der Bewerber geltend, ein Prüfer habe während der mündlichen Prüfung geschlafen, können keine Angaben verlangt werden, wie lange der Prüfer geschlafen habe und welche Vorgänge ihm deshalb entgangen seien .
2. NV: Die Rechtsprechung zur mangelhaften Besetzung des Gerichts bei einem schlafenden Richter ist nicht ohne Weiteres auf den Fall eines angeblich eingeschlafenen Prüfers übertragbar. In der Prüfungssituation kommt es unter Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit nicht auf die Dauer der Schlafanzeichen an. Zweifel und Unsicherheiten müssen ausgeschlossen sein .
3. NV: Die Verwertung einer schriftlichen Stellungnahme reicht nicht aus, wenn der Bewerber die Vernehmung der Prüfer als Zeugen beantragt .
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 12. Oktober 2017 1 K 54/15 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Hamburg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat mit ihrem Vorbringen, das FG sei seiner Sachaufklärungspflicht nicht nachgekommen, einen Verfahrensmangel geltend gemacht, der auch vorliegt und auf dem die Vorentscheidung beruhen kann.
Das FG hat gegen seine Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen, konkret gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO. Es hätte die Mitprüflinge und die Prüfungskommission zu der Behauptung, die Prüfer X und Y seien in der mündlichen Prüfung während der Prüfungsteile Z und W eingeschlafen, als Zeugen vernehmen müssen, wie von der Klägerin schriftsätzlich mehrfach beantragt.
Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. Dezember 2005 I B 249/04, BFH/NV 2006, 780). Allerdings ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen (z.B. BFH-Beschlüsse vom 2. August 2006 IX B 58/06, BFH/NV 2006, 2117; vom 2. März 2006 XI B 79/05, BFH/NV 2006, 1132; vom 22. Juni 2016 III B 134/15, BFH/NV 2016, 1571). In welchem Maß eine solche Substantiierung zu fordern ist, hängt vom Umfang der Mitwirkungspflicht des Beteiligten im Einzelfall (BFH-Beschluss vom 12. März 2014 XI B 97/13, BFH/NV 2014, 1062) bzw. davon ab, wessen Wissens- und Einflussbereich die Tatsachen zuzurechnen sind (BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 10/14, BFHE 250, 145, BStBl II 2015, 940).
Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das FG die Anforderungen an den Vortrag der Klägerin überspannt.
Die Klägerin hatte im Rahmen des Erörterungstermins am 20. Januar 2016 vorgetragen, die Prüfer X und Y seien in den Prüfungsabschnitten zur Z und zur W eingeschlafen. Sie hätten die Augen geschlossen und ihre Köpfe seien nach vorn gefallen. Dieser Vortrag ist ausreichend. Die Klägerin musste nicht --wie vom FG verlangt-- darüber hinaus vortragen, wie lange die Prüfer dem Prüfungsgeschehen nicht folgen konnten und welche Vorgänge ihnen entgangen seien (Rz 183 im FG-Urteil). Es ist in der besonderen Prüfungssituation nicht zu verlangen, dass ein Prüfling derartige Aufzeichnungen anfertigt. Das würde bedeuten, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt für eventuelle Rechtsmittel Vorsorge schafft.
Die Prüfungssituation ist nicht mit der allgemeinen Situation in einer mündlichen Verhandlung vor einem Gericht vergleichbar. Deshalb kann die vom FG zitierte Rechtsprechung (Rz 180 im FG-Urteil) zur mangelhaften Besetzung bei einem schlafenden Richter nicht ohne Weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Die BFH-Rechtsprechung fordert sichere Anzeichen für das Schlafen wie beispielsweise tiefes, hörbares und gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen oder eindeutige Anzeichen von fehlender Orientierung (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. Juni 2009 X B 202/08, BFH/NV 2009, 1659; vom 17. Februar 2011 IV B 108/09, BFH/NV 2011, 996; vom 27. April 2011 III B 62/10, BFH/NV 2011, 1379).
In der Prüfungssituation ist der Grundsatz der Chancengleichheit als prüfungsrechtliche Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes zu beachten (Senatsurteil vom 20. Juli 1999 VII R 111/98, BFHE 189, 280, BStBl II 1999, 803). Die Chancengleichheit ist verletzt, wenn die konkrete Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens zur Folge haben kann, dass das Leistungsvermögen des Prüflings beeinträchtigt und dieser damit gegenüber anderen Prüflingen in einer vergleichbaren Prüfungssituation benachteiligt ist (vgl. Senatsurteil vom 10. März 1992 VII R 87/90, BFHE 167, 480, 482, BStBl II 1992, 634, m.w.N.), wenn sich also nicht ausschließen lässt, dass die Prüfungsbedingungen wesentlich dazu beigetragen haben, dass der Prüfling kein besseres Prüfungsergebnis erzielt hat (vgl. Senatsurteil vom 27. Juli 1993 VII R 11/93, BFHE 172, 254, BStBl II 1994, 259, und in BFHE 189, 280, BStBl II 1999, 803). Unter Anwendung dieser Grundsätze kommt es auf die Dauer der Schlafanzeichen nicht an, weil der Prüfling bereits verunsichert sein kann, wenn wegen äußerer Anzeichen anzunehmen ist, dass ein Prüfer schläft, und weil einem Prüfer auch im Fall eines nur kurz währenden Schlafs für die Bewertung wichtige Vorgänge entgehen können. Unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit muss gewährleistet sein, dass solche Zweifel und Unsicherheiten ausgeschlossen sind. Die Klägerin hat schließlich zutreffend auf die Bedeutung von Art. 12 des Grundgesetzes (GG) verwiesen. Die Klägerin hat aufgrund ihres durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Rechtes, den Beruf eines Steuerberaters zu ergreifen, ein subjektives öffentliches Recht ("Anspruch"), dass eine Prüfungsentscheidung, die ihr jenen Qualifikationsnachweis versagt, nicht auf der Grundlage eines Prüfungsverfahrens getroffen wird, in dem der Grundsatz der Chancengleichheit in einer Weise verletzt worden ist, die sich auf das Ergebnis der Prüfung ausgewirkt haben kann (Senatsurteil in BFHE 189, 280, BStBl II 1999, 803).
Ist danach die Vernehmung der Zeugen erforderlich, reicht es nicht aus --wie vorliegend geschehen-- eine schriftliche Stellungnahme des Prüfungsausschusses einzuholen. Darin liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gilt zwar nicht ausnahmslos. Das mittelbare Beweismittel kann verwendet werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar erscheint oder wenn die Beteiligten der Berücksichtigung des mittelbaren Beweismittels nicht widersprechen (Senatsurteil vom 26. April 1988 VII R 124/85, BFHE 153, 463, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1988, 297, m.w.N.). Im Urteil muss zum Ausdruck kommen, dass der unterschiedliche Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis gesehen und berücksichtigt wurde (BFH-Beschluss vom 26. Juli 2010 VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096; Senatsbeschluss vom 12. Januar 2016 VII B 111/15, BFH/NV 2016, 579). Bereits daran fehlt es. Im Übrigen hatte die Klägerin noch mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2017 den Antrag wiederholt, die Prüfungskommission zu laden. Sie war mithin nicht mit der Verwendung des mittelbaren Beweises einverstanden.
Die Klägerin hat ihr Rügerecht nicht nach § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) verloren, weil ihr Prozessvertreter die Sitzung nach Ablehnung des Befangenheitsantrags verlassen hat. Zwar ist die Verletzung der aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO folgenden Sachaufklärungspflicht ein verzichtbarer Verfahrensmangel (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO), bei dem das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren geht, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt aber trotz unterlassener Rüge vor, wenn das FG --wie hier-- eine konkrete Möglichkeit, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen (vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 17. März 2010 X B 95/09, BFH/NV 2010, 1827; vom 3. April 2007 I B 151, 152/06, BFH/NV 2007, 1671). Die Klägerin hatte in ihrer Beschwerde darauf hingewiesen, dass das FG im Rahmen seiner Amtsermittlung die Zeugen hätte laden müssen. Hinzu kommt, dass das FG begründet hat, weshalb es von der Beweiserhebung abgesehen hat. Denn es hat ausgeführt, der Vortrag der Klägerin sei nicht hinreichend substantiiert (Rz 183 im FG-Urteil). In einem derartigen Fall bedarf es keiner Rüge in der mündlichen Verhandlung, weil aus dem Urteil selbst hervorgeht, dass dem FG die Existenz des übergangenen Beweismittels bewusst war (BFH-Beschlüsse vom 29. Juni 2011 X B 242/10, BFH/NV 2011, 1715; vom 26. November 2008 IX B 122/08, BFH/NV 2009, 600; vom 28. Februar 2018 V B 145/16, BFH/NV 2018, 636).
Schließlich kann der Senat dahinstehen lassen, ob eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung vorliegt, weil das FG darauf abgestellt hat (Rz 184 im FG-Urteil), dass die Klägerin erst im Überdenkungsverfahren (§ 29 der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften über Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften --DVStB--) gerügt hatte, die beiden Prüfer seien eingeschlafen. Dem Senat erschließt sich allerdings nicht, weshalb es nahegelegen haben soll, spätestens bei der Mitteilung des Prüfungsergebnisses auf diesen Umstand hinzuweisen. Wie das FG zutreffend festgestellt hat, erfasst § 26 Abs. 8 DVStB nur Störungen der mündlichen Prüfung, die durch äußere Einwirkungen verursacht werden. Um eine solche äußere Einwirkung handelte es sich hier nicht.
Soweit die Klägerin rügt, das FG hätte die Mitprüflinge zum Ablauf der mündlichen Prüfung vernehmen müssen, liegt --ungeachtet der Frage, ob der Vortrag der Klägerin den Anforderungen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügt-- insoweit kein Verfahrensmangel vor. Auf die beantragte Beweiserhebung konnte das FG verzichten, weil es bezüglich einiger Prüfungsabschnitte das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung für unerheblich erachtet hat und in den übrigen Fällen den Vortrag der Klägerin als wahr unterstellt hat (zu den Anforderungen nach ständiger Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 1. Februar 2007 VI B 118/04, BFHE 216, 409, BStBl II 2007, 538, m.w.N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.