Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 17.12.2013


BGH 17.12.2013 - VI ZR 230/12

Rechtliches Gehör im Arzthaftungsprozess: Feststellung der bestrittenen Aufklärung über Behandlungsalternativen im Berufungsverfahren


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
17.12.2013
Aktenzeichen:
VI ZR 230/12
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend OLG Hamm, 28. März 2012, Az: I-3 U 39/11vorgehend LG Hagen (Westfalen), 13. Januar 2011, Az: 4 O 146/08
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. März 2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 140.000 €

Gründe

I.

1

Die im Jahr 1945 geborene Klägerin leidet seit ihrem 15. Lebensjahr an schweren chronischen Rückenschmerzen. Im Sommer 2004 überwies der behandelnde Schmerztherapeut sie in die stationäre Behandlung des Beklagten zu 2 in einem Krankenhaus der Beklagten zu 1. Da eine Intensivierung der konventionellen medikamentösen Therapie nicht zum Erfolg führte, wurde die Schmerzbehandlung testweise über einen am 24. August 2004 gelegten Epiduralkatheter fortgesetzt. Nachdem hierdurch eine Schmerzreduzierung erreicht worden war, stellte der Beklagte zu 2 die Indikation zur Implantation eines Spinalkatheters im Bereich der Lendenwirbelsäule, durch den die Klägerin zukünftig medikamentös behandelt werden sollte. Am 26. Oktober 2004 führte der Beklagte zu 2 den Eingriff durch. Nachdem die Klägerin postoperativ über neurologische Auffälligkeiten geklagt hatte, bestätigten verschiedene Untersuchungen den Verdacht auf eine Radikulopathie. Der Katheter wurde deshalb am 27. Oktober 2004 wieder entfernt. Trotz späterer Besserung der neurologischen Symptome verblieb bei der Klägerin ein inkomplettes Cauda-equina-Syndrom. Sie leidet bis heute unter Sensibilitäts- sowie Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen.

2

Wegen verschiedener angeblicher Aufklärungs- und Behandlungsfehler verlangt sie von den Beklagten den Ersatz materieller und immaterieller Schäden. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen.

II.

3

Die dagegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

4

1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (st. Rspr., z.B. Senatsbeschluss vom 12. Mai 2009 - VI ZR 275/08, VersR 2009, 1137 Rn. 2; BGH, Beschluss vom 27. März 2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 300; BVerfG, NJW 2009, 1584 Rn. 14; jeweils mwN). Dieser Verpflichtung hat das Berufungsgericht in einem wesentlichen Punkt nicht entsprochen.

5

Die Beschwerde legt zutreffend dar, dass die Klägerin bereits in erster Instanz vorgetragen hat, es habe an der erforderlichen Aufklärung über alternative Behandlungsmethoden in Form einer anderen Medikation und einer Psychotherapie gefehlt (Seite 7 der Anspruchsbegründung und Seite 2 des Schriftsatzes vom 25. Juni 2010, siehe auch Seite 3 des landgerichtlichen Urteils). In ihrer Berufungsbegründung ist die Klägerin auf diesen Vortrag zurückgekommen (Seite 8). Das Berufungsgericht hat diesen Berufungsangriff zwar im tatbestandlichen Teil der Urteilsgründe wiedergegeben. In der Begründung für die Bestätigung des landgerichtlichen Urteils hat es aber festgestellt, die Klägerin sei "ausreichend und rechtzeitig" nicht nur über den Eingriff als solchen, sondern auch über "etwaige Behandlungsalternativen" aufgeklärt worden. Diese Feststellung hat das Berufungsgericht ohne nachvollziehbare Begründung und ohne jede Auseinandersetzung mit dem entgegenstehenden Vortrag der Klägerin getroffen. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass es diesen Vortrag gehörswidrig nicht in Erwägung gezogen hat.

6

Sollten die Ausführungen des Berufungsgerichts, die Klägerin habe nicht bestritten, dass "die Grundaufklärung […] unter dem Gesichtspunkt der […] relativen Indikation nach Ausschöpfen konventioneller Maßnahmen erfolgt" sei, so zu verstehen sein, dass die Klägerin nicht bestritten haben soll, ausreichend über etwaige Behandlungsalternativen aufgeklärt worden zu sein, so stünde diese Annahme in Widerspruch zu dem in der Sachverhaltsdarstellung der Urteilsgründe wiedergegebenen Vortrag der Klägerin. Wegen dieses Widerspruchs enthielten die Ausführungen entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung auch keine tatbestandliche Feststellung, an die der Senat gemäß § 314 ZPO gebunden wäre (vgl. BGH, Urteile vom 13. Mai 1996 - II ZR 275/94, NJW 1996, 2306, in BGHZ 132, 390 insoweit nicht abgedruckt, und vom 16. Dezember 2010 - I ZR 161/08, NJW 2011, 1513 Rn. 12; Zöller/Vollkommer, ZPO, 30. Aufl., § 314 Rn. 3 und 5). Soweit das Berufungsgericht eine Aufklärung dadurch als belegt ansieht, dass die Klägerin mit dem vorgeschalteten Eingriff vom 24. August 2004 einverstanden war, ist nichts dafür ersichtlich, dass dies den Schluss rechtfertigen könnte, sie sei vor einem der beiden Eingriffe über Behandlungsalternativen aufgeklärt worden. Soweit das Berufungsgericht schließlich festgestellt hat, die Aufklärung sei "auch unter Berücksichtigung erhöhter Aufklärungspflichten bei nur relativer Indikation" ausreichend gewesen, hatte es ausweislich der dafür gegebenen Begründung nur die Aufklärung über die Risiken des Eingriffs als solchen, nicht aber eine Aufklärung über Behandlungsalternativen im Blick. Auch dem vom Berufungsgericht in diesem Zusammenhang in Bezug genommenen, nur unvollständig ausgefüllten allgemeinen Aufklärungsformular lässt sich keine konkrete Aufklärung über bestimmte Behandlungsalternativen entnehmen.

7

2. Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens anders entschieden hätte (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juli 2003 - V ZR 187/02, NJW 2003, 3205 mwN). Es zieht nämlich nicht in Zweifel, dass das von der Klägerin erlittene inkomplette Cauda-equina-Syndrom eine kausale Folge des Eingriffs vom 26. Oktober 2004 ist, bei dem sich ein operationstypisches Risiko verwirklicht hat. Bei dieser Sachlage bestehen die von der Klägerin geltend gemachten Schadensersatzansprüche dem Grunde nach, wenn der Eingriff vom 26. Oktober 2004 in Ermangelung einer wirksamen Einwilligung rechtswidrig war. Dies lässt sich nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht ausschließen.

8

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist zwar die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes. Die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten erfordert aber eine Unterrichtung über eine alternative Behandlungsmöglichkeit, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (Urteil vom 13. Juni 2006 - VI ZR 323/04, BGHZ 168, 103 Rn. 13 mwN; Beschluss vom 19. Juli 2011 - VI ZR 179/10, VersR 2011, 1450 Rn. 6). Einer der dabei in Betracht kommenden Fälle ist der, dass als Alternative zu einer sofortigen Operation die Fortsetzung einer konservativen Behandlung medizinisch zur Wahl steht (Senatsurteile vom 24. November 1987 - VI ZR 65/87, VersR 1988, 190, 191 und vom 22. Februar 2000 - VI ZR 100/99, VersR 2000, 766, 767). Nach diesen Grundsätzen hätte die Klägerin zur Wahrung ihres Selbstbestimmungsrechts über die Alternative einer Fortsetzung der konservativen Therapie unterrichtet werden müssen.

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Das Berufungsgericht geht selbst davon aus, dass für den Eingriff vom 26. Oktober 2004 lediglich eine relative Indikation bestand, weil es aus medizinischer Sicht möglich ist und vom Patienten gewollt sein kann, die Schmerzzustände weiter auf konventionellem Wege zu bekämpfen. Diese Annahme beruht auf den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen. Danach sind alle invasiven Behandlungsformen bei Rückenschmerzen umstritten und die vorliegenden Daten aus kontrollierten Studien reichen nicht aus, um die rückenmarksnahe Medikamentenapplikation eindeutig zu bewerten; es handele sich um einen Versuch, der glücken könne, der aber auch ohne Erfolg bleiben könne. Ausgehend von dieser grundsätzlichen Einschätzung hat der Sachverständige den bei der Klägerin durchgeführten Eingriff zwar auf Grund ihres langen Leidens und der zuvor durchgeführten konservativen Schmerztherapie letztlich für vertretbar, nicht aber für alternativlos gehalten. Er selbst hätte nach seiner Aussage wahrscheinlich die Therapie noch etwas weiter konservativ fortgesetzt. So hätte an Stelle eines invasiven Verfahrens zunächst die Medikamentendosierung weiter erhöht werden können, auch wenn dies höchstwahrscheinlich mit weiteren starken Nebenwirkungen verbunden gewesen wäre. Des Weiteren hat der Sachverständige im Einklang mit den beiden im vorgerichtlichen Schlichtungsverfahren erstatteten Gutachten die große Rolle psycho-sozialer Faktoren bei der Ausprägung und dem Verlauf chronischer Schmerzen betont. Im vorliegenden Fall wäre deshalb aus seiner Sicht eine über eine bloße Gesprächstherapie hinausgehende regelgerechte Psychotherapie angezeigt gewesen.

10

Nach diesem Beweisergebnis ist das Berufungsgericht zwar mit Recht davon ausgegangen, dass die Implantation des Spinalkatheters vertretbar war. Neben diesem invasiven Vorgehen stand aber eine Fortsetzung der konservativen Therapie mit einer erneuten Änderung der Medikation und einer regelgerechten Psychotherapie medizinisch zur Wahl. Da beide Behandlungsalternativen mit unterschiedlichen Belastungen - insbesondere durch den operativen Eingriff einerseits und die zu erwartenden Nebenwirkungen andererseits - und - wie die eingetretenen Behandlungsfolgen zeigen - auch mit unterschiedlichen Risiken für die Klägerin verbunden waren, hätten ihr beide Alternativen näher erläutert werden müssen. Dies gilt, worauf die Beschwerde mit Recht hinweist, erst recht in Anbetracht der vom Sachverständigen als zweifelhaft eingeschätzten Erfolgsaussichten eines invasiven Vorgehens (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 1987 - VI ZR 32/87, VersR 1988, 493, 494).

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b) Dass die vom Sachverständigen für angezeigt gehaltene regelgerechte Psychotherapie vor dem Eingriff tatsächlich bereits durchgeführt worden war, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Zwar hat die Klägerin in zwei Schmerzfragebögen ohne nähere Erläuterung angegeben, eine Psychotherapie habe keine Wirkung gezeigt. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist jedoch mit Recht darauf hin, dass die Klägerin bei ihrer persönlichen Anhörung vor dem Landgericht erklärt hat, diese Angabe beruhe lediglich darauf, dass bei ihren früheren stationären Behandlungen zweimal eine Frau bei ihr gewesen sei, die mit ihr gesprochen und dies als Psychotherapie bezeichnet habe (Seite 7 der Sitzungsniederschrift vom 2. Dezember 2010). Dass diese Gespräche als regelgerechte Psychotherapie im Sinne der Einschätzung des Sachverständigen zu bewerten sind, ist nicht ersichtlich.

12

c) Der Annahme einer Aufklärungspflicht steht auch nicht entgegen, dass nach den Angaben des Beklagten zu 2 bei seinen persönlichen Anhörungen der erstbehandelnde Arzt ihm gegenüber erklärt hat, "psychologisch [sei] alles abgeklärt" (Seite 8 der Sitzungsniederschrift vom 2. Dezember 2010) beziehungsweise "bei der Klägerin [sei] im Prinzip alles Konservative gelaufen" (Seite 2 des Berichterstattervermerks vom 28. März 2012). Denn nachdem der Beklagte zu 2 die Behandlung der Klägerin übernommen hatte, musste er die Therapiewahl eigenverantwortlich überprüfen (vgl. OLG Naumburg, VersR 1998, 983 f.; MünchKommBGB/Wagner, 6. Aufl., § 823 Rn. 753; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 281). Dazu musste er sich hinreichend präzise Kenntnisse über den vorangegangenen Behandlungsverlauf verschaffen und durfte sich nicht allein auf die pauschale mündliche Äußerung des erstbehandelnden Arztes verlassen. Entsprechendes gilt für die laienhafte eigene Einschätzung der Klägerin in den Fragebögen.

13

d) Dazu, ob die nach alledem gebotene Aufklärung über Behandlungsalternativen tatsächlich erfolgt ist, hat das Berufungsgericht - wie ausgeführt - bislang keine tragfähigen Feststellungen getroffen. Dies wird es nachzuholen haben. Die Beweislast liegt insoweit bei den Beklagten (vgl. Senatsurteil vom 14. September 2004 - VI ZR 186/03, VersR 2005, 227, 228 mwN). Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch dem von den Beklagten erhobenen Einwand einer hypothetischen Einwilligung nachgehen müssen.

14

3. Die übrigen Rügen der Nichtzulassungsbeschwerde hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet; von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO).

Galke      

        

Zoll      

        

Wellner

        

Stöhr      

        

von Pentz