Entscheidungsdatum: 23.04.2013
Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn das Berufungsgericht aufgrund der Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Prozesskostenhilfeantrag Prozesskostenhilfe bewilligt hat und sich dann ergibt, dass sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse verändert haben.
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz vom 23. April 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 1.700 € festgesetzt.
I.
Die Klägerin hat die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 15. August 2008 in Anspruch genommen. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Urteil ist den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 18. Mai 2011 zugestellt worden. Mit einem am Montag, den 20. Juni 2011 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin beantragt, ihr Prozesskostenhilfe für den zweiten Rechtszug zu bewilligen. In dem Schriftsatz ist ausgeführt: "Von Seiten der Antragstellerin wird Bezug genommen auf deren bereits erstinstanzlich vorgelegte Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Hierzu wird mitgeteilt, dass diese bislang unverändert geblieben sind."
Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 29. Juli 2011 - der Höhe nach gegenüber dem ursprünglichen Begehren eingeschränkt - die beantragte Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit einem am 17. August 2011 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin Berufung im Rahmen der Prozesskostenhilfebewilligung eingelegt, diese begründet und einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Die Beklagten haben beantragt, den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückzuweisen und die Berufung als unzulässig zu verwerfen, weil ein fristgerecht gestellter Prozesskostenhilfeantrag nebst ordnungsgemäß ausgefüllter Erklärung über die persönlichen Verhältnisse nicht vorgelegen habe.
Nach einem Hinweis des Berufungsgerichts hat die Klägerin einen erneuten Prozesskostenhilfeantrag vorgelegt und die Auffassung vertreten, innerhalb der Berufungsfrist sei zulässig auf die erstinstanzlich vorgelegte Erklärung verwiesen worden. Das Berufungsgericht hat mit Verfügung des Vorsitzenden vom 29. Dezember 2011 darauf hingewiesen, dass die Bezugnahme auf die erstinstanzliche Erklärung unzutreffend gewesen sei, weil die Klägerin in der jetzt vorgelegten Erklärung vom 17. Oktober 2011 Einnahmen aus unselbständiger Arbeit ausweise. Durch den angefochtenen Beschluss vom 23. April 2012 hat es den Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Vorliegend sei bereits zweifelhaft, ob die Bezugnahme auf eine zwei Jahre alte Erklärung ohne die erforderliche anwaltliche Versicherung ausreichend sei. Dies könne indes dahinstehen, da diese Erklärung unzutreffend gewesen sei. Die Bezugnahme müsse dem lückenlos ausgefüllten Formular entsprechen. Ansonsten könne die Partei nur dann darauf vertrauen, die Voraussetzungen für eine Prozesskostenhilfebewilligung seien gegeben, wenn vorhandene Lücken beispielsweise aus beigefügten Unterlagen oder früheren Angaben geschlossen werden könnten. Die Klägerin habe innerhalb der Frist auf den erstinstanzlichen Antrag vom 23. Februar 2009 Bezug genommen, von dem sie gewusst habe, dass er nicht mehr zutreffend sei. Sie habe seinerzeit lediglich Transfereinkommen angegeben, verfüge aber nunmehr über Arbeitseinkommen in Höhe von 830,27 €, Kindergeld in Höhe von 368 € und Ergänzungsleistungen (nach SGB II) in Höhe von 510,53 €. Mangels wahrheitsgemäßer Angaben sei daher ein schutzwürdiges Vertrauen auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht gegeben gewesen. Hieran ändere auch nichts, dass die nunmehrigen Angaben für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe möglicherweise ausgereicht hätten.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil eine Entscheidung des Senats zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Zwar hat die Klägerin die Berufungsfrist versäumt. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §§ 233, 234 ZPO zurückgewiesen hat, hält aber einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs verbietet es der verfassungsrechtlich gewährleistete Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip), einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; 88, 118, 123 ff.; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004; Senatsbeschlüsse vom 20. September 2011 - VI ZB 5/11, VersR 2012, 334 Rn. 6; vom 5. Juni 2012 - VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 6). Diesen Grundsätzen wird der angefochtene Beschluss nicht gerecht.
b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über den Antrag als ohne sein Verschulden an der Einlegung des Rechtsmittels verhindert anzusehen, wenn er nicht nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste; ihm ist nach der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe regelmäßig wegen der Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (vgl. Senatsbeschlüsse vom 27. November 2007 - VI ZB 81/06, FamRZ 2008, 400 Rn. 14; vom 29. November 2011 - VI ZB 33/10, VersR 2012, 380 Rn. 13 mwN). Wenn dem Rechtsmittelkläger - wie hier - bereits für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann er bei im Wesentlichen gleichen Angaben zu den Vermögensverhältnissen erwarten, dass auch das Gericht des zweiten Rechtszugs ihn als bedürftig ansieht (Senatsbeschluss vom 29. November 2011 - VI ZB 33/10, aaO Rn. 14 mwN). War die Erwartung der Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht gerechtfertigt, weil die Partei selbst oder ihr Prozessbevollmächtigter erkennen konnte, dass die Voraussetzungen für eine Bewilligung der Prozesskostenhilfe nicht erfüllt oder nicht ausreichend dargetan waren, so kann die Wiedereinsetzung nicht erteilt werden (Senatsbeschlüsse vom 27. November 2007 - VI ZB 81/06, aaO; vom 29. November 2011 - VI ZB 33/10, aaO Rn. 15 mwN).
c) Im Streitfall hat das Berufungsgericht aufgrund des am 20. Juni 2011 bei ihm eingegangenen Prozesskostenhilfeantrags, in dem darauf hingewiesen wurde, dass die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unverändert geblieben seien, der Klägerin für den zweiten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt. Bei der Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung und Verwerfung der Berufung der Klägerin als unzulässig mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht allerdings die Besonderheiten des Streitfalls nicht berücksichtigt. Eine Besonderheit liegt bereits darin, dass hier anders als bei den üblichen Fällen, zu denen die oben dargelegte ständige Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung bei einer mittellosen Partei ergangen ist, die Prozesskostenhilfe aufgrund der Angaben bei Antragstellung bewilligt worden ist. Nach dem System des Prozesskostenhilfeverfahrens ergibt sich die Sanktion für eventuell unrichtige Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in einem solchen Fall zunächst aus § 124 ZPO. Danach kann das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe u.a. aufheben, wenn die Partei absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtige Angaben über die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht hat (§ 124 Nr. 2 Fall 1 ZPO) oder die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe (objektiv) nicht vorgelegen haben (§ 124 Nr. 3 ZPO). Das Berufungsgericht hat eine Prüfung nach § 124 ZPO nicht vorgenommen und mithin sein Ermessen nicht gemäß dieser Vorschrift ausgeübt. Auch wenn der Bundesgerichtshof inzwischen entschieden hat, dass die Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung wegen absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit gemachter falscher Angaben nach § 124 Nr. 2 Fall 1 ZPO nicht voraussetzt, dass die falschen Angaben des Antragstellers zu einer objektiv unrichtigen Bewilligung geführt haben, diese mithin auf den Falschangaben beruht (BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - IV ZB 16/12, NJW 2013, 68 Rn. 13), entbindet dies das Berufungsgericht nicht davon zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nach § 124 ZPO gegeben sind. Dies bedeutet, dass die Prozesskostenhilfebewilligung nur dann aufgehoben werden kann, wenn entweder (objektiv) die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht vorgelegen haben (§ 124 Nr. 3 ZPO) oder die Partei absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtige Angaben über die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht hat (§ 124 Nr. 2 Fall 1 ZPO). Eine solche Prüfung hat das Berufungsgericht nicht vorgenommen. Es hat weder geprüft, ob zum Zeitpunkt der Prozesskostenhilfeantragstellung im Juni 2011 die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe nicht vorgelegen haben, noch, ob die Partei absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtige Angaben über die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht hat. Letztere Prüfung hätte selbst dann, wenn unrichtige Angaben vorlägen, auch im Rahmen der Ermessensausübung die Prüfung erfordert, ob hier lediglich ein weniger gravierender Verstoß gegen die Verpflichtung, zutreffende Angaben über die maßgeblichen Verhältnisse zu machen, vorliegt, bei dem lediglich eine rückwirkende Änderung der Bestimmungen über die Zahlungsverpflichtungen angemessen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - IV ZB 16/12, NJW 2013, 68 Rn. 33; BT-Drucks. 8/3068 S. 31). Diese Umstände sind aber auch für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag maßgeblich.
d) Im Streitfall spricht viel dafür, dass die Klägerin davon ausgehen durfte, dass ihre Angaben bei Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags im Juni 2011 ausreichten und sie mithin nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung ihres Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Dem Prozesskostenhilfeantrag vom 23. Februar 2009, auf den die Klägerin bei Einreichung ihres Prozesskostenhilfeantrags im Juni 2011 verwiesen hat, lag ein Bescheid über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 12. November 2008 zugrunde, in dem der Klägerin ein monatlicher Gesamtbetrag von 990,71 € bewilligt wurde. Nach Aufforderung des Berufungsgerichts, eine erneute Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse einzureichen, hat diese am 17. Oktober 2011 auch eigenes Einkommen, zugleich aber als andere Einnahmen ergänzende Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 510,53 € angegeben. Auch der diesem Antrag beigefügte Bescheid des "jobcenter" vom 5. September 2011 ist ein Bescheid über "Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts" nach dem SGB II. Er ist ein wegen des eingetretenen Einkommenserwerbs der Klägerin ergangener Folgebescheid zu einem Bescheid vom 17. Mai 2011, welcher bisher nicht vorgelegt wurde. Auch nach den im Vordruck vom 17. Oktober 2011 erfolgten Angaben hätte die Klägerin einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung. In beiden eingereichten Anträgen handelt es sich um Leistungen nach dem SGB II, nach oben begrenzt durch den durch das "jobcenter" berechneten Bedarf der "Bedarfsgemeinschaft", bestehend aus der Klägerin und ihren Kindern. Dies spricht dafür, dass der Klägerin unverändert ein Prozesskostenhilfeanspruch bereits bei Einreichung ihres Prozesskostenhilfeantrags im Juni 2011 zugestanden hat und sie weder absichtlich noch aus grober Nachlässigkeit unrichtige Angaben über die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse abgegeben hat.
Hinzu kommt ein Hinweis im Vordruck über die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, der zu Gunsten der Klägerin spricht. Ausweislich des Vordrucks am Ende des Buchstaben D sind Angaben zu den Bruttoeinnahmen, Abzügen und Vermögen gemäß Buchstaben E bis J des Vordrucks entbehrlich, wenn der Antragsteller laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz oder nunmehr dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch bezieht, sofern das Gericht nicht etwas anderes anordnet. Auch aufgrund dieses Hinweises durfte die Klägerin bei Bezug entsprechender Leistungen darauf vertrauen, dass ihre Angaben ausreichten, und musste sie jedenfalls vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung ihres Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen.
3. Nach den vorstehenden Ausführungen hält der angefochtene Beschluss einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Sache ist daher zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 ZPO). Die Zurückverweisung erfolgt nur deshalb, weil der Bescheid vom 17. Mai 2011, zu dem der Bescheid des "jobcenter" vom 5. September 2011 ein Folgebescheid ist, nicht vorliegt. Wurden auch gemäß diesem Bescheid Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch gewährt, konnte sich die Klägerin für bedürftig halten, so dass dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist stattzugeben ist.
Galke Zoll Wellner
Diederichsen Stöhr