Entscheidungsdatum: 05.06.2012
Ein Prozessbevollmächtigter ist grundsätzlich nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht zu erkundigen, ob sein Antrag auf Verlängerung der Frist rechtzeitig eingegangen sei und ihm stattgegeben werde.
Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Passau vom 13. Februar 2012 aufgehoben.
Dem Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 2.400 €.
I.
Der Kläger, der am 22. September 2010 zu Fall kam und sich Verletzungen zuzog, nimmt den Beklagten als Tierhalter eines Schäferhundes auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Das Amtsgericht hat der Klage mit Urteil vom 3. November 2011 stattgegeben. Dieses Urteil ist den erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 8. November 2011 zugestellt worden. Dagegen hat der Beklagte mit anwaltlichem Schriftsatz Berufung eingelegt. Mit einem am 11. Januar 2012 beim Landgericht eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz hat der Beklagte die Berufung begründet. Auf gerichtlichen Hinweis, dass die Berufungsbegründung nicht fristgerecht eingegangen sei, hat der Beklagte mit einem am 19. Januar 2012 beim Landgericht eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung dieses Antrags hat er ausgeführt, seine Prozessbevollmächtigten hätten am 23. Dezember 2011 ein Schreiben zur Post gegeben, in dem sie die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragt hätten. Ein solches Schreiben befindet sich nicht bei den Gerichtsakten.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Berufungsbegründungsfrist sei am 9. Januar 2012 abgelaufen. Die Berufungsbegründungsschrift sei nicht innerhalb dieser Frist und deshalb verspätet beim Landgericht eingegangen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne dem Beklagten nicht gewährt werden, weil er die Berufungsbegründungsfrist nicht ohne Verschulden versäumt habe. Er müsse sich das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Es könne dahinstehen, weshalb ein Schriftsatz mit einem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht zu den Akten gelangt sei. Da den Prozessbevollmächtigten des Beklagten bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 9. Januar 2012 eine Verlängerungsbewilligung nicht zugegangen sei, obwohl zu diesem Zeitpunkt die (angebliche) Einbringung des Antrags bereits mehr als zwei Wochen zurückgelegen habe, wäre es zwingend geboten gewesen, die Gründe dafür zu hinterfragen. Zwar werde dem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist regelmäßig stattgegeben, doch liege dem Gericht kein derartiger Antrag, über den es hätte entscheiden können, vor. Deshalb sei die Berufungsbegründungsfrist unverlängert abgelaufen. Die nunmehr abgelaufene Frist könne nicht mehr verlängert werden.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, denn eine Entscheidung des Senats ist jedenfalls zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Zwar hat der Beklagte die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Auf seinen Antrag ist ihm jedoch gemäß §§ 233, 234 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen.
a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs verbietet es der verfassungsrechtlich gewährleistete Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip), einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; 88, 118, 123 ff.; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004; Senatsbeschluss vom 20. September 2011 - VI ZB 5/11, VersR 2012, 334 Rn. 6).
b) Der Beklagte hat durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Büroangestellten W. glaubhaft gemacht, dass Frau W. am 23. Dezember 2011 den später in Kopie zur Gerichtsakte eingereichten Schriftsatz mit dem darin enthaltenen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nach Unterzeichnung durch Rechtsanwalt W. einkuvertiert und noch am selben Tag nachmittags zur Post gebracht hat. Danach durften die Prozessbevollmächtigten des Beklagten davon ausgehen, dass der Antrag rechtzeitig vor der am 9. Januar 2012 ablaufenden Berufungsbegründungsfrist beim Landgericht eingehen würde. Ihnen kann nicht vorgeworfen werden, auf die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist vertraut zu haben, nachdem sie einen ersten Verlängerungsantrag unter Darlegung eines erheblichen Grundes im Sinne des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestellt hatten (vgl. Senatsbeschlüsse vom 18. September 2001 - VI ZB 26/01, VersR 2001, 1579, 1580; vom 13. Dezember 2005 - VI ZB 52/05, VersR 2006, 568 Rn. 6; vom 20. Juni 2006 - VI ZB 14/06, juris Rn. 6 und vom 16. Oktober 2007 - VI ZB 65/06, VersR 2008, 234 Rn. 9). Die in der Begründung des Fristverlängerungsantrags angegebene urlaubsbedingte Abwesenheit in der Zeit vom 24. Dezember 2011 bis zum 8. Januar 2012 ist ein erheblicher Grund im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO.
c) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts waren die Prozessbevollmächtigten des Beklagten auch nicht verpflichtet, sich vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist über eine Verlängerung dieser Frist durch Nachfrage bei Gericht zu vergewissern.
aa) Den Prozessbevollmächtigten einer Partei trifft im Regelfall kein Verschulden an dem verspäteten Zugang eines Schriftsatzes, wenn er veranlasst, dass der Schriftsatz so rechtzeitig in den Briefkasten eingeworfen wird, dass er nach den normalen Postlaufzeiten fristgerecht bei dem Gericht hätte eingehen müssen. Wenn dem Prozessbevollmächtigten keine besonderen Umstände bekannt sind, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen können, darf er darauf vertrauen, dass diese eingehalten werden (st. Rspr., vgl. Senatsbeschluss vom 30. September 2003 - VI ZB 60/02, VersR 2004, 354, 355; BGH, Beschlüsse vom 5. Juli 2001 - VII ZB 2/00, juris Rn. 6; vom 9. Februar 1998 - II ZB 15/97, VersR 1998, 1301, 1302). Er ist dann auch nicht gehalten, sich vor Fristablauf durch Rückfrage bei der Geschäftsstelle des Gerichts von einem rechtzeitigen Eingang zu überzeugen (BVerfGE 79, 372, 375 f.; BVerfG, NJW 1992, 38; Senatsbeschluss vom 30. September 2003 - VI ZB 60/02, aaO; BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2008 - XII ZB 155/07, VersR 2009, 1096 Rn. 10; vom 3. Dezember 2009 - IX ZB 238/08, juris Rn. 10). Denn der Prozessbevollmächtigte ist bereits in besonderem Maße verpflichtet, für eine zuverlässige Ausgangskontrolle zu sorgen (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2011 - VI ZB 25/11, juris Rn. 9). Dann kann er regelmäßig nicht auch noch gehalten sein, den Eingang seiner Schriftsätze bei Gericht zu überwachen (BVerfGE 79, 372, 375 f.; BVerfG, NJW 1992, 38; Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2011 - VI ZB 28/11, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2009 - IX ZB 238/08, aaO Rn. 10).
bb) Eine Nachfragepflicht kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn hierfür ein konkreter Anlass besteht (BVerfGE 42, 120, 126 f.; BVerfG, NJW 1992, 38, 39; BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2009 - IX ZB 238/08, aaO Rn. 11). Ein solcher konkreter Anlass besteht nicht schon dann, wenn der Anwalt in der noch laufenden Berufungsbegründungsfrist noch keine auf seinen Schriftsatz bezogene Verfügung des Gerichts erhält. Denn allein daraus müssen sich ihm noch keine Zweifel aufdrängen, dass sein Schriftsatz nicht bei Gericht eingegangen sein könnte (Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2011 - VI ZB 28/11, aaO Rn. 8). Eine Erkundigungspflicht wird nur durch eine solche Mitteilung des Gerichts ausgelöst, die unzweideutig ergibt, dass etwas fehlgelaufen ist (BVerfG, NJW 1992, 38, 39; BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2009 - IX ZB 238/08, aaO Rn. 11). Die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten würden überspannt und der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert, wenn man in derartigen Fällen verlangen würde, Erkundigungen über den Verbleib seines Schriftsatzes einzuholen (BVerfG, NJW 1992, 38, 39).
d) Nach diesen Grundsätzen waren die Prozessbevollmächtigten des Beklagten vorliegend nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht zu erkundigen, ob der Verlängerungsantrag rechtzeitig eingegangen sei und ihm stattgegeben werde (vgl. Senatsbeschlüsse vom 13. Dezember 2005 - VI ZB 52/05, aaO und vom 16. Oktober 2007 - VI ZB 65/06, aaO; BGH, Beschlüsse vom 12. März 1986 - VIII ZB 6/86, VersR 1986, 787, 788 und vom 11. November 1998 - VIII ZB 24/98, VersR 1999, 1559, 1560).
e) Da den Beklagten somit kein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist trifft und die versäumte Rechtshandlung mit dem am 11. Januar 2012 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz innerhalb der insoweit maßgeblichen Frist von einem Monat (§ 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) nachgeholt worden ist, ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem fristgerecht gestellten Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben.
Zoll Diederichsen Pauge
Stöhr von Pentz