Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 19.10.2010


BGH 19.10.2010 - VI ZB 26/10

Rechtsanwaltsgebühren: Anwendbarkeit der Bestimmung über die Anrechnung einer Gebühr auf Altfälle


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
19.10.2010
Aktenzeichen:
VI ZB 26/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend OLG Düsseldorf, 21. Dezember 2009, Az: I-8 W 28/09, Beschlussvorgehend LG Duisburg, 7. September 2009, Az: 4 O 390/06, Kostenfestsetzungsbeschluss
Zitierte Gesetze
Nr 2300 RVG-VV
Nr 3100 RVG-VV

Tenor

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerde- und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist gewährt.

Auf die Rechtsmittel des Klägers werden der Beschluss des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 21. Dezember 2009 aufgehoben und der Kostenfestsetzungsbeschluss des Rechtspflegers des Landgerichts Duisburg vom 7. September 2009 dahingehend abgeändert, dass über die dort festgesetzten Kosten weitere 468,74 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22. Juli 2009 von den Beklagten an den Kläger zu erstatten sind.

Die Beklagten haben die Kosten der Rechtsmittelverfahren, der Kläger hat die Kosten der Wiedereinsetzung zu tragen.

Gegenstandswert: 468,74 €

Gründe

I.

1

Der Kläger hat die Beklagten wegen der Folgen einer Operation auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 € nebst Zinsen in Anspruch genommen. Er hat außerdem die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden aus der Operation, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind, begehrt. In der mündlichen Verhandlung am 7. Mai 2009 vor dem Landgericht haben sich die Parteien in der Sache verglichen und außerdem vereinbart, dass der Kläger 15 % und die Beklagten als Gesamtschuldner  85 % der Kosten zu tragen haben. Der Rechtspfleger des Landgerichts hat der Berechnung des Erstattungsanspruchs des Klägers lediglich eine 0,65-Verfahrensgebühr unter hälftiger Anrechnung der wegen der vorgerichtlichen Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten des Klägers angefallenen Geschäftsgebühr zugrunde gelegt. Er hat die Beklagten verpflichtet, dem Kläger 909,54 € nebst Zinsen zu erstatten. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Klägers hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Kläger sein Begehren auf den Ansatz einer 1,3-Verfahrensgebühr nebst Zinsen weiter.

2

Der Beschluss des Beschwerdegerichts ist dem vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 4. Januar 2010 zugegangen. Mit Schriftsatz vom 29. Januar 2010 hat der vorinstanzliche Prozessbevollmächtigte Bewilligung der Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Rechtsbeschwerde des Klägers beantragt. Der Senat hat mit Beschluss vom 11. Mai 2010, zugestellt an den vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten am 27. Mai 2010, den Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt, weil die Kosten der Prozessführung vier vom Kläger zu erbringende Monatsraten nicht übersteigen (§ 115 Abs. 4 ZPO). Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 7. Juni 2010 Rechtsbeschwerde eingelegt und Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist beantragt. Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2010 hat er Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist beantragt und die Rechtsbeschwerde begründet.

II.

3

1. Das Beschwerdegericht ist mit dem Landgericht der Auffassung, dass es nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG zu einer Kürzung der vom Kläger angesetzten Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3100 VV RVG auf den 0,65-fachen Satz kommen müsse. Daran ändere auch § 15a RVG nichts, weil diese Bestimmung im Hinblick auf die Überleitungsvorschrift des § 60 RVG keine Anwendung finde. Nach § 60 Abs. 1 RVG gelte § 15a RVG nur für solche Fälle, in denen der unbedingte Auftrag an den Anwalt nach dem 5. August 2009 erteilt worden ist, was hier nicht der Fall sei. Der Auffassung des Bundesgerichtshofs im Beschluss vom 2. September 2009 (II ZB 35/07), dass sich die Anrechnungsvorschrift im Verhältnis zu Dritten grundsätzlich nicht auswirke, weil durch die Einfügung von § 15a Abs. 1 RVG die bereits zuvor bestehende Gesetzeslage lediglich klargestellt und nicht geändert worden sei, könne nicht gefolgt werden.

4

2. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, §§ 575, 233 ff. ZPO).

5

a) Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde zu gewähren. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über den Antrag so lange als ohne sein Verschulden an der rechtzeitigen Vornahme einer die Frist wahrenden Handlung verhindert anzusehen, als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrages wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste (vgl. Senat, Beschlüsse vom 27. November 2007 - VI ZB 81/06, FamRZ 2008, 400 Rn. 14; vom 6. Juli 1999 - VI ZB 10/99, VersR 2000, 383; vom 18. Februar 1992 - VI ZB 49/91, VersR 1992, 897 f.; BGH, Beschlüsse vom 21. September 2005 - IV ZB 21/05, FamRZ 2005, 2062 f.; vom 3. Dezember 2003 - VIII ZB 80/03, FamRZ 2004, 699 und vom 30. November 2000 - III ZA 6/00, AGS 2002, 210). Für die Entscheidung, ob der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen ist, kommt es ausschließlich darauf an, ob sie sich für bedürftig halten durfte.

6

Im Streitfall musste der Kläger mit einer Ablehnung seines Antrags auf Prozesskostenhilfe wegen fehlender Bedürftigkeit für das Rechtsbeschwerdeverfahren nicht von vorneherein rechnen, nachdem ihm zum Zwecke des Abschlusses des Vergleichs vom Landgericht in der mündlichen Verhandlung vom 7. Mai 2009 für den Abschluss des Vergleichs Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten bewilligt worden ist. Dem steht nicht entgegen, dass der in der geltend gemachten Bedürftigkeit des Klägers liegende Hinderungsgrund für die Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde auch aufgrund der nach Ablehnung der Prozesskostenhilfe gegebenen Kostentragungszusage des vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten entfallen ist. Der Hinderungsgrund für die Einhaltung der Rechtsbeschwerde- und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist ist frühestens mit der Zustellung des Beschlusses des Senats am 27. Mai 2010 weggefallen. Die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in den Schriftsätzen vom 7. Juni 2010 und vom 24. Juni 2010 sind mithin in der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO gestellt worden und entsprechen der Form des § 236 ZPO.

7

b) Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

8

Sie macht zutreffend geltend, dass die in der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vorgeschriebene Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens im Rahmen der Kostenfestsetzung in der Weise hätte erfolgen müssen, wie sie in § 15a RVG beschrieben ist. Die Vorschrift in § 15a RVG ist durch Art. 7 Abs. 4 Nr. 3 des Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) in das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz eingefügt worden und gemäß Art. 10 Satz 2 dieses Gesetzes am 5. August 2009 in Kraft getreten. Der Senat folgt der Auffassung der übrigen Senate des Bundesgerichtshofs, wonach § 15a RVG auch auf noch nicht abgeschlossene Kostenfestsetzungsverfahren anzuwenden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. August 2010 - VIII ZB 15/10, Rn. 9 z.V.b.; vom 29. April 2010 - V ZB 38/10, AGS 2010, 263 unter III. 1.; vom 11. März 2010 - IX ZB 82/08, JurBüro 2010, 358, 359; vom 3. Februar 2010 - XII ZB 177/09, FamRZ 2010, 806 Rn. 10.; vom 9. Dezember 2009 - XII ZB 175/07, NJW 2010, 1375, Rn. 11 ff. m.w.N. zum Streitstand und vom 2. September 2009 - II ZB 35/07, NJW 2009, 3101 Rn. 6 ff.). Danach ist für die Zeit vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes davon auszugehen, dass die in Vormerkung 3 Abs. 4 VV RVG angeordnete Anrechnung für die Höhe der gesetzlichen Gebühren im Verhältnis der Prozessparteien untereinander ohne Bedeutung ist und die entsprechend berechtigte Prozesspartei die Erstattung einer ungekürzten Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG beanspruchen kann.

Die Rechtsbeschwerde rügt hiernach zu Recht, dass das Beschwerdegericht die angemeldete Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG gekürzt und nicht mit dem 1,3-fachen Satz in Ansatz gebracht hat. Da in der Sache keine weiteren Feststellungen zu treffen sind, sondern der Sachverhalt zur Endentscheidung reif ist, entscheidet der Senat gemäß § 577 Abs. 5 ZPO selbst.

9

c) Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 100 Abs. 4, 238 Abs. 4 ZPO.

Galke                                       Zoll                                    Wellner

                 Diederichsen                              von Pentz