Entscheidungsdatum: 14.03.2013
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts Landshut vom 27. Mai 2012 und des Landgerichts Landshut – 6. Zivilkammer – vom 21. Juni 2012 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen trägt der Landkreis Erding.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
I.
Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste am 26. Mai 2012 unter Verwendung eines auf eine andere Person ausgestellten Ausweises mit dem Flugzeug von Griechenland nach Deutschland ein. Er besaß weder einen gültigen Reisepass noch einen Aufenthaltstitel. Er gab zunächst an, marokkanischer Staatsangehöriger zu sein.
Mit Beschluss vom 27. Mai 2012 hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde mit sofortiger Wirkung Sicherungshaft zum Zwecke der Abschiebung für die Dauer von drei Monaten angeordnet. Hiergegen hat der Betroffene Beschwerde eingelegt. Im Beschwerdeverfahren hat er eingeräumt, algerischer Staatsangehöriger zu sein. Mit Schreiben vom 21. Juni 2012 hat die beteiligte Behörde einen Bescheid vorgelegt, der eine Abschiebungsandrohung enthält.
Mit Beschluss vom selben Tag hat das Landgericht die Beschwerde zurückgewiesen. Am 16. Juli 2012 ist der Betroffene nach Algerien abgeschoben worden. Mit der Rechtsbeschwerde möchte er die Feststellung erreichen, dass ihn die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts in seinen Rechten verletzt haben.
II.
Das Beschwerdegericht hat die Entscheidung des Amtsgerichts mit der Erwägung gebilligt, die Voraussetzungen einer Haftanordnung „zur Sicherung der Zurückschiebung“ des Betroffenen hätten vorgelegen. Von einer erneuten Anhörung des Betroffenen habe die Kammer abgesehen, weil davon keine weitere Aufklärung zu erwarten gewesen sei. Im Übrigen habe der Betroffene Gelegenheit gehabt, sich über seinen Verfahrensbevollmächtigten zu äußern.
III.
Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG - ohne Zulassung und auch nach Erledigung - statthafte (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726) und auch im Übrigen nach § 71 FamFG zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Entscheidungen der Vorinstanzen haben den Betroffenen schon deshalb in seinen Rechten verletzt, weil es an einem zulässigen Haftantrag und damit an der nach § 417 Abs. 1 FamFG unverzichtbaren Grundlage für die Freiheitsentziehung fehlte.
1. Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. In dem Haftantrag müssen nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG unter anderem die zweifelsfreie Ausreisepflicht des Betroffenen, die Abschiebungsvoraussetzungen, die Erforderlichkeit der Haft, die Durchführbarkeit der Abschiebung und die notwendige Haftdauer dargelegt werden. Die Darlegungen dürfen knapp gehalten sein, müssen aber - auf den konkreten Fall zugeschnitten - die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 Rn. 9; Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13).
a) Bei einer beabsichtigten Abschiebung sind die Vollstreckungsvoraussetzungen darzulegen (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG), wozu nach § 59 AufenthG die Abschiebungsandrohung gehört. Fehlt es an einer für die Vollstreckung erforderlichen Voraussetzung, darf auch eine kraft Gesetzes (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) vollziehbare Ausreisepflicht nicht ohne weiteres mit einer Abschiebung durchgesetzt werden. Das hat der Senat bereits für § 59 AufenthG aF entschieden (Senat, Beschluss vom 30. Juli 2012 - V ZB 245/11, juris Rn. 9). Für die am 26. November 2011 in Kraft getretene Neufassung der Vorschrift gilt nichts anderes. Zu der Neuregelung hat sich der Gesetzgeber mit Blick auf die Richtlinie 2008/115/EG (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) veranlasst gesehen, die in Art. 6 eine „Rückkehrentscheidung“ verlangt. Dass diese in Fällen, in denen die Ausreisepflicht nicht bereits durch Verwaltungsakt statuiert worden ist, durch die Androhung der Abschiebung begründet werden soll, geht aus den Gesetzesmaterialien klar hervor (BT-Drucks. 17/5470, S. 24; vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: August 2012, § 59 AufenthG Rn. 2a). Ausführungen zu einer Abschiebungsandrohung enthält der Haftantrag nicht; es werden auch keine Ausnahmetatbestände nach § 59 Abs. 1 Satz 3 AufenthG dargelegt.
b) Demgegenüber misst das Beschwerdegericht die von dem Amtsgericht angeordnete Abschiebungshaft rechtsfehlerhaft an den für die Haft zur Sicherung einer Zurückschiebung geltenden Maßstäben, die eine Rückkehrentscheidung nicht voraussetzen. Dabei handelt es sich nicht um ein offensichtliches Versehen, weil in der Beschwerdeentscheidung durchgängig von Zurückschiebung und folgerichtig nur von § 57 AufenthG, nicht aber von § 58AufenthG die Rede ist.
aa) Diese Beurteilung ist schon deshalb zu beanstanden, weil die Behörde - so sie die Abschiebungshaft beantragt - selbst dann an die damit einhergehenden strengeren Verfahrenserfordernisse gebunden ist, wenn - anders als hier (dazu näher unten bb) - eine Zurückschiebung möglich gewesen wäre (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juli 2012 - V ZB 245/11, juris Rn. 9; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: August 2012, § 57 AufenthG Rn. 4). Vorliegend hat die beteiligte Behörde sowohl in dem Haftantrag als auch im weiteren Verlauf des Verfahrens durchgehend den Begriff Abschiebung, nie aber den der Zurückschiebung verwandt. Der von ihr später vorgelegte Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juni 2012 enthält denn auch ausdrücklich eine Abschiebungsandrohung unter Hinweis auf § 59 AufenthG. Dementsprechend geht auch der die Haft anordnende Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Mai 2012 von einer Abschiebung aus und verweist folgerichtig auf § 58 Abs. 1 AufenthG, nicht aber auf die für die Zurückschiebung einschlägige Norm des § 57 AufenthG.
bb) Davon abgesehen hat das Beschwerdegericht offenbar übersehen, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Umsetzung der aufenthaltsrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl. I S. 2258), das am 26. November 2011 in Kraft getreten ist, den Anwendungsbereich der Zurückschiebung erheblich eingeschränkt und auf die nach der Richtlinie zulässigen Ausnahmen begrenzt hat (vgl. BT-Drucks. 17/5470, S. 17, 23). Eine Zurückschiebung kommt nunmehr nur noch bei der Einreise über eine EU-Außengrenze (§ 57 Abs. 1 AufenthG) und in den in § 57 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Fällen in Betracht. Rückführungen, die nicht unter diese engen Voraussetzungen fallen, sind nunmehr als Abschiebung zu qualifizieren und dies – anders als nach früherem Recht – auch dann, wenn der Betroffene beim Überschreiten einer EU-Binnengrenze aufgegriffen wird (Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361, 365; im Ergebnis auch Franßen-de la Cerda, ZAR 2009, 17, 20). Danach lagen die Voraussetzungen für eine Zurückschiebung nicht vor. Insbesondere wurde der Betroffene nicht in Verbindung mit der Einreise über eine EU-Außengrenze aufgegriffen. Er reiste vielmehr mit dem Flugzeug von Griechenland kommend ein, also über eine Binnengrenze (§ 57 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Nr. 1 Buchst. b, 2, 3 der Verordnung [EG] Nr. 562/2006).
2. Die nicht ausreichende Begründung des Haftantrags ist nicht - was mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre - im Beschwerdeverfahren geheilt worden (zu dieser Möglichkeit vgl. nur Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317, 318 Rn. 15 mwN). Zwar hat die beteiligte Behörde dem Beschwerdegericht am Tag der Entscheidung über die Beschwerde noch den die Abschiebungsandrohung enthaltenden Ablehnungsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vorgelegt. Hierzu ist der Betroffene aber nicht mehr angehört worden. Eine solche Anhörung wäre aber - was die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - angesichts neuer Tatsachen erforderlich gewesen (vgl. Beschluss vom 30. August 2012 - V ZB 275/11, juris Rn. 7 mwN). Das gilt im Übrigen auch im Hinblick darauf, dass sich während des Beschwerdeverfahrens das Zielland der Abschiebung (Algerien statt Marokko) geändert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Oktober 2012 - V ZB 274/11, juris Rn. 7).
IV.
Die Kostenentscheidung folgt unter Berücksichtigung der Wertung von Art. 5 EMRK aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf § 128c Abs. 2 KostO, § 30 Abs. 2 KostO.
Stresemann Czub Roth
Weinland Kazele