Entscheidungsdatum: 18.02.2016
Ein Prozessbevollmächtigter kann bei einem auf bestimmte Gebiete des Dienstleistungsbereichs der Deutschen Post AG beschränkten Poststreik auf die Einhaltung der für den Normalfall geltenden Postlaufzeiten vertrauen, wenn er von der Deutschen Post AG die Auskunft erhält, dass für den geplanten Sendungsverlauf einer Postsendung streikbedingte Beeinträchtigungen nicht bekannt sind und die Postbeförderung von dem Versand- zum Empfangsort normal läuft.
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main, 13. Zivilkammer, vom 28. Juli 2015 aufgehoben.
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungs-gericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
I.
Das Amtsgericht hat die Klage des Klägers abgewiesen. Das Urteil ist ihm am 28. April 2015 zugestellt worden. Seine Berufungsschrift, die die Berufungsbegründung enthält, ist bei dem Landgericht am 29. Mai 2015 eingegangen. Nach dem Hinweis, dass die Berufung verspätet eingelegt worden sei, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 10. Juni 2015 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Dazu hat er ausgeführt, sein Prozessbevollmächtigter habe die Berufungsschrift am 22. Mai 2015 (Freitag vor Pfingsten) gegen 18.00 Uhr in einen Briefkasten geworfen. Auf diesem sei vermerkt gewesen, dass er am darauffolgenden Samstag geleert werde. Sein Prozessbevollmächtigter habe trotz des damaligen Poststreiks davon ausgehen können, dass die Sendung den Empfänger fristgerecht erreiche. Er habe am 22. Mai 2015 nach Einwerfen der Berufungsschrift in den Briefkasten bei dem von der Deutschen Post im Internet unter www.deutschepost.de/streikinfos zur Verfügung gestellten Informationsdienst abgefragt, ob es bei der Postbeförderung am Versand- und Empfangsort zu Beeinträchtigungen komme. Dies sei verneint worden. Zur Glaubhaftmachung hat sich der Kläger auf eine eidesstattliche Versicherung von Rechtsanwalt B. berufen.
Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, ein Vertrauen auf die Einhaltung der regelmäßigen Beförderungszeiten sei nicht gerechtfertigt gewesen. Die anhand der eingegebenen Postleitzahlen gegebene Auskunft der Deutschen Post zu aktuellen Verzögerungen im Zeitpunkt der Abfrage könne in Zeiten eines Streiks allenfalls punktuell eine Orientierung darstellen. Ein störungsfreier Postverkehr sei während eines Streiks - auch bei intensiven Bemühungen der Deutschen Post, Ausfälle zu kompensieren und Verzögerungen zu vermeiden - nicht mehr gewährleistet. Bei Aufbringung der zu erwartenden Sorgfalt wäre der Prozessbevollmächtigte des Klägers zu einer Rückfrage bei Gericht gehalten gewesen.
III.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO), weil das Berufungsgericht die Anforderungen an das, was eine Partei veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, überspannt und dadurch den Anspruch des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG im Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Juni 2007 - V ZB 187/06, MDR 2007, 1276 Rn. 5; Beschluss vom 16. September 2015 - V ZB 54/15, juris Rn. 5; BGH, Beschluss vom 12. November 2013 - VI ZB 4/13, NJW 2014, 700 Rn. 5 mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat dem Kläger zu Unrecht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt. Der Kläger war ohne sein Verschulden verhindert, die Frist zur Einlegung der Berufung einzuhalten (§ 233 Abs. 1 ZPO). Auf der Grundlage des von dem Berufungsgericht als glaubhaft angesehenen Vortrags des Klägers lässt sich ein ihm gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten nicht begründen.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und der anderen Obersten Gerichtshöfe dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder der Briefzustellung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden angerechnet werden (BVerfG, NJW 2003, 1516; 2001, 1566; 1995, 1210, 1211; Senat, Beschluss vom 13. Mai 2004 - V ZB 62/03, NJW-RR 2004, 1217, 1218; jeweils mwN). Er darf vielmehr grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden (Senat, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 226/12, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 12. September 2013 - V ZB 187/12, juris Rn. 9, jeweils mwN).
Den Prozessbevollmächtigten einer Partei trifft daher im Regelfall kein Verschulden an dem verspäteten Zugang eines Schriftsatzes, wenn er veranlasst, dass dieser so rechtzeitig in den Briefkasten eingeworfen wird, dass er nach den normalen Postlaufzeiten fristgerecht bei dem Gericht hätte eingehen müssen. Er ist dann nicht gehalten, sich vor Fristablauf durch Rückfrage bei der Geschäftsstelle des Gerichts von einem rechtzeitigen Eingang zu überzeugen (BVerfGE 79, 372, 375 f.; NJW 1992, 38; BGH, Beschluss vom 30. September 2003 - VI ZB 60/02, VersR 2004, 354, 355; Beschluss vom 3. Dezember 2009 - IX ZB 238/08, juris Rn. 10). Das gilt auch, wenn es vor Feiertagen (hier: Pfingstwochenende) zu einer besonderen Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post kommen kann (vgl. BVerfG, NJW 1995, 1210, 1211; BGH, Urteil vom 9. Dezember 1992 - VIII ZB 30/92, NJW 1993, 1332, 1333).
b) Anders liegt es, wenn dem Postkunden besondere Umstände bekannt sind, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen können. Eine solche Ausnahmesituation, in der das Vertrauen in die Einhaltung der normalen Postlaufzeiten erschüttert sein kann, ist der Poststreik. Wird die Post bestreikt und wählt ein Prozessbevollmächtigter für die Beförderung eines fristgebundenen Schriftstücks gleichwohl den Postweg, obwohl sichere Übermittlungswege (Einwurf in den Gerichtsbriefkasten am Ort; Benutzung eines Telefaxgeräts) zumutbar sind, treffen ihn gesteigerte Sorgfaltsanforderungen.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Prozessbevollmächtigte, der während eines Poststreiks einen fristgebundenen Schriftsatz über den Postweg versendet, verpflichtet, sich durch Nachfrage bei Gericht über dessen rechtzeitigen Eingang zu vergewissern. Unterlässt er dies, ist die Fristversäumnis nicht unverschuldet (BGH, Beschluss vom 9. Dezember 1992 - VIII ZB 30/92, NJW 1993, 1332, 1333; Beschluss vom 25. Januar 1993 - II ZB 18/92, NJW 1993, 1333, 1334; vgl. auch BAG, NJW 1993, 1333, 1334 sowie BVerfG, NJW 1995, 1210, 1211).
bb) Ist der Poststreik allerdings auf bestimmte Gebiete des Dienstleistungsbereichs der Deutschen Post AG beschränkt, kann ein Prozessbevollmächtigter seinen gesteigerten Sorgfaltspflichten auch dadurch nachkommen, dass er eine von der Deutschen Post AG zur Verfügung gestellte Auskunftsmöglichkeit nutzt, aus der sich ergibt, ob der für seine Sendung vorgesehene konkrete Sendungsverlauf von dem Streik betroffen ist. Erhält er auf eine solche Nachfrage die Auskunft, dass für den geplanten Sendungsverlauf der Postsendung streikbedingte Beeinträchtigungen nicht bekannt sind und die Postbeförderung von dem Versand- zum Empfangsort normal läuft, kann er auch während eines Poststreiks auf die Einhaltung der für den Normalfall geltenden Postlaufzeiten vertrauen. Der Prozessbevollmächtigte ist dann nicht verpflichtet, bei Gericht nach dem Eingang des Schriftsatzes zu fragen. Denn mit dieser Auskunft erklärt die Deutsche Post AG, trotz des Poststreiks die normalen Postlaufzeiten einzuhalten. Maßgeblich ist dabei der Zeitpunkt des Einwurfs der Postsendung in den Briefkasten (vgl. dazu BVerfG, NJW 1995, 1210, 1211). Erweist sich die Auskunft aufgrund nachträglich eingetretener oder bekanntgewordener Ereignisse als nicht zutreffend und geht ein fristgebundener Schriftsatz nicht fristgerecht ein, darf der Partei dies im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden angelastet werden.
c) Nach diesen Grundsätzen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die ihm für die Versendung der Berufungsschrift während des Poststreiks 2015 obliegenden gesteigerten Sorgfaltspflichten erfüllt.
aa) Für den Poststreik 2015 hat die Deutsche Post AG im Internet das Portal www.deutschepost.de/streikinfos eingerichtet, auf dem ein Postkunde mit dem Tool „Postleitzahlensuche“ prüfen konnte, ob seine Sendung von dem Streik betroffen war. Auf einem Service-Infoblatt hat die Deutsche Post AG zudem erklärt, dass in den Bereichen, die nicht bestreikt würden, die Zustellung normal laufe. Die auf eine solche Postleitzahlensuche hin erteilte Auskunft betrifft zwar nicht eine individuell bezeichnete Postsendung. Sie erfasst aber, anders als das Berufungsgericht meint, den geplanten Versendungsverlauf von dem abgefragten Versand- zum abgefragten Empfangsort. Sie beschränkt sich nicht auf die Leerung des Briefkastens, sondern erfasst auch die geplante Beförderung und Verteilung der Post. Eine Partei kann deshalb im Zeitpunkt des Einwurfs ihrer Sendung in den Briefkasten auf die Einhaltung der normalen Postlaufzeiten vertrauen, wenn sie auf dem Portal www.deutschepost.de/streikinfos der Deutschen Post AG mittels des Tools "Postleitzahlensuche" unter Eingabe der Postlaufzeiten von Versand- und Empfangsort aktuell prüft, ob der konkrete Sendungsverlauf ihrer Postsendung von dem Poststreik betroffen ist, und die Auskunft erhält, dass an den jeweiligen Orten streikbedingte Beeinträchtigungen nicht bekannt sind und die Zustellung normal läuft.
bb) Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am 22. Mai 2015 etwa zwei Stunden nach Einwurf der Berufungsschrift in den Briefkasten das von der Deutschen Post AG im Internet zur Verfügung gestellte Informationsportal genutzt und sich unter Eingabe der für seine geplante Sendung maßgeblichen Postleitzahlen erkundigt, ob es für den geplanten Sendungsverlauf von Versand- und Empfangsort zu streikbedingten Beeinträchtigungen kommt. Er hat die Auskunft erhalten, dass dies nicht der Fall sei. Dabei handelt es sich um eine aktuelle Auskunft in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Einwurf der Sendung in den Briefkasten. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers konnte auf ihrer Grundlage auf die Einhaltung der normalen Postlaufzeiten und somit auf den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift vor Ablauf der Berufungsfrist am 28. Mai 2015 vertrauen. Er war trotz des bevorstehenden verlängerten Pfingstwochenendes nicht gehalten, sich durch Nachfrage Gewissheit über den Eingang des Schriftstücks bei Gericht zu verschaffen.
3. Danach kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Hinsichtlich des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann der Senat nach § 577 Abs. 5 ZPO in der Sache selbst entscheiden. Die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung liegen vor. In der Sache selbst ist es dem Senat allerdings verwehrt, abschließend zu befinden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist. Insoweit ist die Sache zur Verhandlung und Entscheidung gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Stresemann Schmidt-Räntsch Brückner
Göbel Haberkamp