Entscheidungsdatum: 02.12.2010
Auf die Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 1 wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 25. März 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 90.000 €.
I.
Auf Antrag der Beteiligten zu 3 ordnete das Vollstreckungsgericht im Mai 2008 die Zwangsversteigerung des Grundstücks der Beteiligten zu 1 und 2 an. Dessen Verkehrswert wurde auf 90.000 € festgesetzt. In dem Versteigerungstermin am 10. November 2009 blieben die Beteiligten zu 5 und 6 mit einem Gebot von 71.000 € Meistbietende. Das Vollstreckungsgericht bestimmte den Termin zur Verkündung der Zuschlagsentscheidung auf den 10. Dezember 2009.
Am 10. November 2009 beantragte der Beteiligte zu 1 die Gewährung von Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO und trug dazu unter anderem vor, bei seiner Frau seien Krebserkrankungen festgestellt worden, eines ihrer Kinder sei chronisch krank und er selbst seelisch und körperlich am Ende. Nachfolgend reichte er eine Bescheinigung des Arztes J. R. ein, nach der er an einer schweren depressiven Störung mit latenter Suizidalität erkrankt sei, welche durch das Zwangsversteigerungsverfahren aufrechterhalten und verstärkt werde.
Mit Beschluss vom 10. Dezember 2009 hat das Vollstreckungsgericht den Antrag zurückgewiesen und den Beteiligten zu 5 und 6 den Zuschlag erteilt. Auf die sofortige Beschwerde des Beteiligten zu 1 ist dieser von dem Landgericht darauf hingewiesen worden, dass die ärztliche Bescheinigung zur Darlegung von schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens und seiner Gesundheit ungeeignet sei. Der Beteiligte zu 1 hat daraufhin mitgeteilt, dass er sich seit kurzem in psychotherapeutischer Behandlung befinde, und hat die behandelnde Ärztin von ihrer Schweigepflicht entbunden. Zum Beweis für die bestehende, in einem engen kausalen Zusammenhang mit der Zwangsversteigerung und ihren Folgen stehende Suizidgefahr hat er sich auf ein einzuholendes Sachverständigengutachten bezogen. Die sofortige Beschwerde ist von dem Landgericht zurückgewiesen worden. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Beteiligte zu 1 seinen Antrag auf Versagung des Zuschlags und Gewährung von Vollstreckungsschutz weiter.
II.
Das Beschwerdegericht meint, eine (einstweilige) Einstellung des Verfahrens komme nur in Betracht, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass bei Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens mit einer ernsthaften Gesundheits- und Lebensgefahr für den Beteiligten zu 1 oder einen seiner Familienangehörigen zu rechnen sei. Dies sei auf der Grundlage von dessen Vortrag nicht festzustellen. Die Ausführungen des Arztes J. R. seien völlig ungeeignet und unbrauchbar; die Bescheinigung sei als Gefälligkeitsgutachten zu werten. Abgesehen davon, dass der Arzt vor dem Hintergrund, dass er gegen das Berufsverbot gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 der Berufsordnung der Landesärztekammer Brandenburg verstoße, unglaubwürdig sei, lägen weitere Anhaltspunkte dafür vor, dass er das Gutachten nicht unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen (§ 410 Abs. 1 ZPO) erstattet habe. Mangels hinreichender Anknüpfungstatsachen für das Bestehen einer durch das Zwangsversteigerungsverfahren bedingten Gefahrensituation komme die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht in Betracht. Die Krebserkrankungen der Ehefrau des Beteiligten zu 1 rechtfertigten eine einstweilige Einstellung des Verfahrens nicht.
III.
1. Die Rechtsbeschwerde ist aufgrund ihrer Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Diese gibt allerdings Anlass zu dem Hinweis, dass eine Zulassung nur zulässig ist, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 ZPO). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Ob der Vortrag des Beteiligten zu 1 zu einer bestehenden Suizidgefahr als unsubstantiiert angesehen werden durfte oder Anlass zur Einholung eines Sachverständigengutachtens gab, ist eine Frage des Einzelfalls. Ein Zulassungsgrund ergibt sich auch nicht daraus, dass eine Gefährdung des Grundrechts des Beteiligten zu 1 auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Raum steht (vgl. näher Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10, juris).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
a) Ohne Rechtsfehler nimmt das Beschwerdegericht allerdings an, der Vortrag des Beteiligten zu 1 zu den Krebserkrankungen seiner Ehefrau rechtfertige eine einstweilige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens nicht, weil das vorgelegte Attest über eine, offenbar erfolgreiche, Operation bereits ein Jahr alt und nicht näher dargelegt worden sei, dass ein Umzug zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands der Ehefrau führen werde. Die Rüge der Rechtsbeschwerde, es bedürfe keiner weiteren Darlegungen, dass sich eine Zwangsräumung des bewohnten und gewohnten Hauses negativ auf die Heilungschancen auswirke, ist unbegründet. Die einstweilige Einstellung eines Zwangsversteigerungsverfahrens nach § 765a ZPO kommt nicht schon in Betracht, wenn die Fortsetzung des Verfahrens zu physischen oder psychischen Belastungen des Schuldners oder einer seiner Angehörigen führt, sondern nur dann, wenn sie einen schwerwiegenden und vor allem nicht anders abwendbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeutet. Diese Voraussetzungen werden allein durch den Hinweis auf bestehende Krebserkrankungen eines Familienangehörigen nicht darlegt.
b) Mit Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde jedoch, dass das Beschwerdegericht dem sich aus der Vorlage der Bescheinigung des Arztes J. R. ergebenden Vortrag des Beteiligten zu 1, die bei ihm bestehende latente Suizidgefahr werde durch die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens aufrechterhalten und verstärkt, nicht durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachgegangen ist.
aa) Es ist bereits zweifelhaft, ob das Beschwerdegericht erkannt hat, dass die schriftliche Äußerung des Arztes J. R. - die mit "ärztliche Bescheinigung" überschrieben ist, von dem Gericht aber durchweg als "Gutachten" bezeichnet wird - verfahrensrechtlich als qualifizierter Vortrag des Beteiligten zu 1 und nicht etwa als Sachverständigengutachten anzusehen ist.
(1) Das Beschwerdegericht verweist zur Begründung seiner Annahme, aus dem Vortrag des Beteiligten zu 1 ergäben sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Gefahr einer ernsthaften und nachhaltigen Verschlechterung von dessen Gesundheitszustand bei Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens, nämlich zuvörderst auf die von ihm als zutreffend erachteten Ausführungen des Vollstreckungsgerichts. Dabei verkennt es, dass das Vollstreckungsgericht rechtsfehlerhaft davon ausgegangen ist, der Beteiligte zu 1 müsse die Voraussetzungen für die Gewährung von Vollstreckungsschutz glaubhaft machen. Es hat nicht nur das "Gutachten" des Arztes J. R. als "zur Glaubhaftmachung des Vortrages [des Beteiligten zu 1] nicht geeignet" angesehen, sondern dem Beteiligten zu 1 Gelegenheit gegeben, "die Glaubhaftmachung seines Antrages… vorzunehmen", und schließlich den Antrag zurückgewiesen, weil "keine Glaubhaftmachung des…Vortrages feststellbar" sei.
Eine Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO) ist im Verfahren nach § 765a ZPO nicht vorgesehen, vielmehr gelten aufgrund von § 869 ZPO die allgemeinen Verfahrensgrundsätze des Zivilprozessrechts. Der Schuldner hat daher die Tatsachen vorzutragen, auf die er den Vollstreckungsschutzantrag stützt, und diese im Streitfall zu beweisen (vgl. Stöber, ZVG, 19. Aufl., Einl. Anm 58.2), wobei die Beweise, wie auch sonst im Zivilprozess, von dem Gericht zu erheben sind. Eine Glaubhaftmachung des Vortrags ist weder erforderlich noch ausreichend. Etwas anderes gilt nur für einstweilige Eilmaßnahmen nach § 765a Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 732 Abs. 2 ZPO (vgl. Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 765a Rn. 28), um die es hier aber nicht geht.
(2) Dafür, dass das Beschwerdegericht die verfahrensrechtliche Bedeutung der ärztlichen Bescheinigung verkannt hat, spricht auch, dass es annimmt, das "Gutachten" sei "nicht unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen (§ 410 Abs. 1 ZPO)" erstattet worden. Die Vorschrift des § 410 Abs. 1 ZPO regelt den Beweis durch Sachverständige und ist deshalb auf Gutachten, die eine Partei selbst eingeholt hat, nicht anwendbar. Bei einem solchen Privatgutachten handelt es sich vielmehr um substantiierten Parteivortrag (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 1998 - VIII ZR 220/97, NJW 1998, 3197, 3199 mwN).
bb) Aber auch wenn das Beschwerdegericht erkannt haben sollte, dass es sich bei der Bestätigung des Arztes nicht um ein Gutachten, sondern um substantiierten Parteivortrag handelt, erweist sich der angefochtene Beschluss als rechtsfehlerhaft. Die Gerichte haben durch ihre Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst ausgeschlossen werden. Dies kann es erfordern, dass Beweisangeboten des Schuldners hinsichtlich seines Vorbringens, ihm drohten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, besonders sorgfältig nachgegangen wird (vgl. BVerfG, FamRZ 2005, 1972, 1973 mwN).
Dabei muss die Gefahr solcher Beeinträchtigungen zwar vorgetragen sein; entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts sind an die Konkretisierung dieser Gefahr aber keine besonders strengen Anforderungen zu stellen. Im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dürfen - umgekehrt - gerade keine überzogenen Anforderungen an die Darlegungslast des Schuldners gestellt werden. Insbesondere ist der Schuldner weder verpflichtet, das Gericht bereits durch seinen Vortrag davon zu überzeugen, dass eine konkrete Suizidgefahr besteht, noch muss er diese Gefahr durch Beibringung von Attesten nachweisen. Bestehen, wie hier, hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme einer Suizidgefahr, ist das Gericht - da es die Ernsthaftigkeit dieser Gefahr mangels eigener medizinischer Sachkunde ohne sachverständige Hilfe in aller Regel nicht beurteilen kann - gehalten, einem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, wie er auch hier gestellt worden ist, zu entsprechen.
Die Erheblichkeit des Vortrags, bei dem Beteiligten zu 1 bestehe eine latente Suizidgefahr, die durch die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens aufrechterhalten und verstärkt werde, durfte nicht deshalb verneint werden, weil der Arzt J. R. kein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und deshalb nach § 20 Abs. 1 Satz 2 der Berufsordnung der Landesärztekammer Brandenburg grundsätzlich nicht berechtigt ist, den Facharzt H. -J. R. zu vertreten und ärztliche Bescheinigungen, wie geschehen, unter dessen Briefkopf zu erstellen. Eine ernsthafte und erhebliche Gefahr für das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Schuldners oder einer seiner Angehörigen kann auch durch die Stellungnahme eines Allgemeinmediziners substantiiert werden. Dass J. R. Arzt ist und als solcher praktizieren darf, stellt das Beschwerdegericht nicht in Abrede. Der Verstoß gegen die Berufsordnung lässt für sich genommen auch nicht den Schluss zu, dass der Arzt unglaubwürdig ist, also vorsätzlich eine falsche Diagnose gestellt hat.
Auch aus den von dem Beschwerdegericht angeführten Schreib- oder Übertragungsfehlern (psychischer Befund vom 12. November 2009, Bezeichnung des Beteiligten zu 1 als "die Patientin") konnte ohne weitere Sachaufklärung nicht geschlossen werden, der Arzt habe ein "Gefälligkeitsgutachten" erstellt. Vielmehr hätte, wenn die Ablehnung von Vollstreckungsschutz hierauf gestützt werden sollte, der Grund für die unzutreffenden Angaben aufgeklärt werden müssen. Entsprechendes gilt für den Vorwurf, in einem anderen Verfahren läge dem Gericht ein Gutachten des Arztes mit teilweise wortgetreuen Ausführungen vor.
Hiervon konnte das Beschwerdegericht nicht deshalb absehen, weil es am 1. März 2010 auf die unzutreffenden Angaben in der ärztlichen Bescheinigung hingewiesen hatte, ohne dass der Beteiligte zu 1 sich dazu geäußert hat. Aus dem Hinweis ergab sich nämlich, dass das Gericht die ärztliche Bescheinigung aus mehreren Gründen für unbrauchbar hielt, und zwar auch aus solchen, die von dem Beteiligten zu 1 nicht ausgeräumt werden konnten (zB der Verstoß gegen die Berufsordnung). Demgemäß hat das Beschwerdegericht dem Beteiligten zu 1 auch nicht etwa Gelegenheit gegeben, zu den Einwänden gegen die ärztliche Bescheinigung Stellung zu nehmen, sondern hat anheimgestellt, ein aussagekräftiges psychiatrisches Attest, d.h. die Bescheinigung eines anderen Arztes, vorzulegen. Versprach eine Aufklärung darüber, dass es sich bei den unzutreffenden Angaben (möglicherweise) um einen Schreibfehler oder ein sonstiges Versehen des Arztes handelt, aber keinen Erfolg, weil das Beschwerdegericht zu erkennen gegeben hatte, dass es dessen Bescheinigung auch aus anderen Gründen für unglaubwürdig hielt, kann dem Beteiligten zu 1 nicht vorgehalten werden, dass er eine solche Richtigstellung unterlassen hat.
IV.
Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben, er ist aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass es nunmehr darauf ankommt, ob bei Fortsetzung des Verfahrens, unter Berücksichtigung der im März 2010 von dem Beteiligten zu 1 begonnenen psychotherapeutischen Behandlung, auch jetzt noch mit ernsthaften Gefahren für dessen Leben oder körperliche Unversehrtheit zu rechnen ist, was dieser zunächst darzutun hat. Über den Vortrag, der den übrigen Verfahrensbeteiligten zwecks Gewährung rechtlichen Gehörs zur Kenntnis zu geben ist, muss gegebenenfalls Beweis erhoben werden (zu den Anforderungen an die Würdigung vgl. Senat, Beschluss vom 30. September 2010 - V ZB 199/09, juris). Festzustellen ist, ob bei einem endgültigen Eigentumsverlust durch den Eintritt der Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses ernsthaft mit einem Suizid des Schuldners zu rechnen ist. Der Nachweis, dass es bei Fortsetzung des Verfahrens zu einer Selbsttötung kommen wird, ist nicht erforderlich (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10 Rn. 23, juris).
Ist danach von einer ernsthaften Suizidgefahr auszugehen, wird weiter zu prüfen sein, ob dieser Gefahr auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann, zum Beispiel durch eine einstweilige Unterbringung des Beteiligten zu 1 (vgl. näher Senat, Beschluss vom 14. Juni 2007 - V ZB 28/07, NJW 2007, 3719, 3720 f.). Für das in diesem Fall notwendige Verfahren zur Vermeidung einer Blockade zwischen Vollstreckungs- und Betreuungsgericht wird auf den Beschluss des Senats vom 15. Juli 2010 (V ZB 1/10, WuM 2010, 587, 588) verwiesen.
Krüger Lemke Schmidt-Räntsch
Stresemann Czub