Entscheidungsdatum: 12.07.2012
Das Gericht verletzt das Recht eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es einen nach Beschlussfassung, aber vor Herausgabe des nicht verkündeten Beschlusses eingegangenen Schriftsatz unberücksichtigt lässt (Fortführung von BGH, 1. April 2004, IX ZR 117/03, FamRZ 2004, 1368).
Dem Schuldner wird Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 19. September 2011 gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners wird der oben genannte Beschluss aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.
I.
Dem Schuldner, der seinem am 3. April 1993 geborenen Sohn zum Unterhalt verpflichtet war, wurde nach Insolvenzeröffnung am 13. April 2005 durch Beschluss vom 6. Dezember 2005 die Restschuldbefreiung angekündigt; am 23. Januar 2005 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben. Er war in der Wohlverhaltensperiode selbständig tätig. Ein pfändbares Einkommen erzielte er nicht.
Am 13. Mai 2011 beantragte die Mutter für den Sohn, dessen rückständige Unterhaltsforderungen gegen den Schuldner in die Tabelle eingetragen sind, diesem die Restschuldbefreiung zu versagen. Zur Begründung führte sie aus: Der Schuldner sei seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit gegenüber dem minderjährigen Sohn nicht nachgekommen. Neben seiner selbständigen Tätigkeit hätte er zumindest eine geringfügige Beschäftigung annehmen müssen, um seinem Sohn Unterhalt zu zahlen.
Das Insolvenzgericht hat dem Schuldner die Restschuldbefreiung versagt. Seine sofortige Beschwerde hat keinen Erfolg gehabt. Mit der Rechtsbeschwerde möchte er die Zurückweisung des Versagungsantrags erreichen.
II.
Dem Schuldner ist nach §§ 233, 234 Abs. 1 und 2 ZPO Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu bewilligen.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 6, 300 Abs. 3 Satz 2, § 7 InsO, iVm Art. 103f EGInsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch im Übrigen zulässig (§ 574 Abs. 2, § 575 ZPO). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
1. Das Beschwerdegericht hat unter Bezugnahme auf die erstinstanzliche Entscheidung angenommen, dass der Schuldner den Versagungsgrund der § 295 Abs. 2, § 296 Abs. 1 InsO verwirklicht habe. Denn er habe am Ende der Wohlverhaltensphase an den Treuhänder nicht den Betrag abgeführt, den er hätte abführen können, wenn er ein angemessenes Dienstverhältnis in dem von ihm erlernten Beruf als Bäcker eingegangen wäre. Dabei hat es den Vortrag des Schuldners in der Beschwerdebegründung außer Acht gelassen, die zwar erst einen Tag nach Beschlussdatum beim Beschwerdegericht eingegangen ist, jedoch – nach Kenntnisnahme durch den Richter - drei Tage, bevor die Geschäftsstelle den Beschluss herausgegeben hat.
2. Durch den angefochtenen Beschluss, der sich mit formelhaften Wendungen begnügt und eine auf den Streitfall zugeschnittene Begründung vermissen lässt, ist das Recht des Schuldners auf rechtliches Gehör verletzt worden. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es verstößt gegen diesen Grundsatz, wenn das Gericht einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2009 - IX ZR 237/06, GI aktuell 2010, 290 Rn. 4; vom 17. Februar 2011 - V ZB 310/10, NJW 2011, 1363 Rn. 4).
a) Das Beschwerdegericht hat vorliegend die ihm rechtzeitig vorgelegte Beschwerdebegründung nicht beachtet in der Annahme, den einen Tag zuvor unterzeichneten Beschluss nicht mehr ändern zu dürfen. Dabei hat es verkannt, dass ein nach § 329 Abs. 2 ZPO mitzuteilender Beschluss erst dann erlassen ist, wenn er mit dem Willen des Gerichts aus dem inneren Geschäftsbetrieb herausgetreten ist. Bis dahin bleibt er ein Entwurf. Der Übergang vom inneren Geschäftsbetrieb zum äußeren Geschäftsgang ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gericht sich der Entscheidung entäußert hat. In diesem Sinn entäußert war der angefochtene Beschluss jedenfalls nicht, bevor ein Mitarbeiter der Geschäftsstelle ihn am 23. September 2011 auf den Abtrag gelegt hat (vgl. BGH, Urteil vom 1. April 2004 - IX ZR 117/03, FamRZ 2004, 1368).
b) Diese Gehörsverletzung war auch entscheidungserheblich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Rechtsmittel, hätte das Beschwerdegericht den übergangenen Vortrag erwogen, Erfolg gehabt hätte. Nach § 295 Abs. 2 InsO
obliegt es dem selbständig tätigen Schuldner, die Insolvenzgläubiger durch Zahlungen an den Treuhänder so zu stellen, wie wenn er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre. Das anzunehmende fiktive Nettoeinkommen ist daher aufgrund einer angemessenen Anstellung zu berechnen. Angemessen ist nur eine dem Schuldner mögliche abhängige Tätigkeit (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 - IX ZB 224/09, NZI 2011, 596 Rn. 6). Der Schuldner hat mit der Beschwerdebegründung eine Bestätigung seines ehemaligen Arbeitgebers vorgelegt, dass er seine Tätigkeit als Bäcker wegen einer Mehlstauballergie beendet habe. Er kann mithin nicht mehr als Bäcker arbeiten, deswegen kann das Nettoeinkommen eines Bäckergesellen nicht zur Bestimmung der abzuführenden Beträge herangezogen werden. Welche Tätigkeiten dem Schuldner möglich sind, hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 2010 - IX ZB 160/10, ZInsO 2011, 147 Rn. 7 f). Jedenfalls ist dem Schuldner eine Tätigkeit als ungelernte Kraft zumutbar. Was eine ungelernte Kraft in der Region, in der der Schuldner wohnt, monatlich hätte verdienen können und ob der Verdienst ausgereicht hätte, um unter Berücksichtigung des Pfändungsfreibetrags Beträge an den Treuhänder abzuführen, hat das Beschwerdegericht ebenso wenig ermittelt.
3. Die angefochtene Entscheidung ist damit aufzuheben und die Sache an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Eine eigene Sachentscheidung des Senats kommt wegen der fehlenden Feststellungen nicht in Betracht.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Beschwerdegericht zu prüfen haben wird, ob ein berechtigter Gläubiger einen zulässigen Versagungsantrag gestellt hat. Der weitere Beteiligte zu 1 war zum Zeitpunkt, als seine Mutter als seine Sorgeberechtigte für ihn den Versagungsantrag gestellt hat, bereits volljährig. Er hätte deswegen nur dann selbst den Versagungsantrag gestellt, wenn er seine Mutter hierzu bevollmächtigt oder ihre Antragstellung nachträglich gebilligt hätte. Seine Mutter wäre nicht berechtigt gewesen, in eigenem Namen einen Versagungsantrag zu stellen, weil sie keine Insolvenzgläubigerin war (§ 296 Abs. 1 Satz 1 InsO).
Der gemäß § 296 Abs. 1 Satz 1 InsO erforderliche Gläubigerantrag ist nur zulässig, wenn die Versagungsvoraussetzungen glaubhaft gemacht werden, die sich aus § 296 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO ergeben. Der Gläubiger muss glaubhaft machen, dass der Schuldner während der Laufzeit der Abtretungserklärung eine seiner Obliegenheiten schuldhaft verletzt hat. Weiter muss er glaubhaft machen, dass die Befriedigung der Insolvenzgläubiger durch die Obliegenheitsverletzung konkret beeinträchtigt ist. Im Rahmen des § 295 Abs. 2 InsO muss der Gläubiger glaubhaft machen, dass der Schuldner einen Betrag an den Treuhänder hätte abführen müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. September 2011 - IX ZB 133/08, ZInsO 2011, 2101 Rn. 7). Diesen Anforderungen genügt der Versagungsantrag des weiteren Beteiligten zu 1 bislang nicht. Weder hat er vorgetragen, dass der Schuldner an den Treuhänder nicht den Betrag abgeführt hat, den er bei Ausübung einer vergleichbaren abhängigen Tätigkeit nach dem üblichen Lohnniveau hätte abführen müssen, noch hat er glaubhaft gemacht, welche abhängige Tätigkeit dem Schuldner möglich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 aaO Rn. 7; siehe auch BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2011 - IX ZB 112/11, NZI 2012, 87 Rn. 2).
Ist glaubhaft gemacht und hat sich das Gericht davon überzeugt, dass der Schuldner in einer abhängigen Beschäftigung so viel hätte verdienen können, dass er unter Berücksichtigung des Pfändungsfreibetrages an den Treuhänder Geldbeträge hätte abführen müssen, muss sich der Schuldner von dem Vorwurf entlasten, seine Obliegenheitspflichten schuldhaft verletzt zu haben (§ 296 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 InsO). Erkennt der Schuldner in der Wohlverhaltensphase, dass er mit der von ihm ausgeübten selbständigen Tätigkeit nicht genug erwirtschaftet, um seine Gläubiger so zu stellen, als übe er eine entsprechende abhängige Tätigkeit aus, braucht er seine selbständige Tätigkeit zunächst nicht aufzugeben. Er muss sich dann aber - ebenso wie ein beschäftigungsloser Schuldner - gemäß § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO nachweisbar um eine angemessene Erwerbstätigkeit bemühen, um den Verschuldensvorwurf zu entkräften (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011, aaO).
Der übergangene Vortrag des Schuldners, als ungelernte Kraft keine Anstellung gefunden zu haben, genügt diesen Anforderungen nicht. Im Anwendungsbereich des § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO muss der Schuldner im Regelfall bei der Bundesagentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet sein und laufend Kontakt zu den dort für ihn zuständigen Mitarbeitern halten. Weiter muss er sich selbst aktiv und ernsthaft um eine Arbeitsstelle bemühen, etwa durch stetige Lektüre einschlägiger Stellenanzeigen und durch entsprechende Bewerbungen. Als ungefähre Richtgröße hat der Senat zwei bis drei Bewerbungen in der Woche angenommen, sofern entsprechende Stellen angeboten werden (Beschluss vom 19. Mai 2011, aaO Rn. 17).
Kayser Gehrlein Fischer
Grupp Möhring