Entscheidungsdatum: 12.09.2013
NV: Lebt die nicht verheiratete Tochter, für die Kindergeld begehrt wird, mit ihrem Kind und dem Kindsvater in einem Haushalt, so sind die als Bezüge zu erfassenden Unterhaltsleistungen des Kindsvaters im Einzelnen zu ermitteln. Naturalleistungen können in Anlehnung an die Sozialversicherungsentgeltverordnung geschätzt werden (Anschluss an das BFH-Urteil vom 11. April 2013 III R 24/12, BFH/NV 2013, 1307) .
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter einer 1984 geborenen Tochter (T). T ist selbst Mutter eines 2006 geborenen Sohnes. Sie lebte zunächst mit dem Kindsvater, mit dem sie nicht verheiratet war, und dem gemeinsamen Kind in einem Haushalt. Im Jahr 2008 trennte T sich von ihrem Partner. T bemühte sich nach der Geburt ihres Kindes ohne Erfolg um einen Ausbildungsplatz. Im Juli 2007 nahm sie an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teil, ab August 2007 absolvierte sie eine Ausbildung an einer Fortbildungsakademie.
Durch einen Bescheid vom 21. September 2010 hob die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für das Jahr 2007 gemäß § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2007 geltenden Fassung (EStG) auf, weil die Einkünfte und Bezüge der T unter Berücksichtigung der Unterhaltszahlungen des Kindsvaters über dem Jahresgrenzbetrag von 7.680 € nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gelegen hätten. Außerdem forderte die Familienkasse das Kindergeld zurück. Gegen die Aufhebung wandte sich die Klägerin mit dem Einspruch, den die Familienkasse durch Einspruchsentscheidung vom 15. Dezember 2010 zurückwies.
Die anschließend erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) war der Ansicht, T habe zwar im gesamten Jahr 2007 einen Berücksichtigungstatbestand nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a oder c EStG erfüllt. Jedoch hätten ihre Einkünfte und Bezüge über dem Jahresgrenzbetrag gelegen. Die Unterhaltsleistungen des Kindsvaters errechnete das FG in Höhe von 7.838,76 €. Bei diesem Betrag handelt es sich um die Hälfte der Differenz aus der Summe der eigenen Einkünfte der T und den Einkünften des Kindsvaters, nach Berücksichtigung von pauschalierten Unterhaltsaufwendungen für das Kind. Das FG war der Ansicht, die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze über die Ermittlung der Einkünfte und Bezüge eines verheirateten Kindes, das vom Ehegatten Unterhaltsleistungen beziehe, seien auch bei einer nicht verheirateten Tochter anwendbar, die vom Vater ihres Kindes Unterhalt erhalte. T habe gegen den Kindsvater einen Unterhaltsanspruch nach § 1615l Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gehabt. Dieser Unterhaltsanspruch sei dem Unterhaltsanspruch gegenüber der Klägerin vorgegangen. Dies habe zum Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld geführt.
Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, das FG habe § 1615l Abs. 2 BGB für sie nachteilig ausgelegt. T habe im Streitfall spätestens ab Beginn der Berufsbildungsmaßnahme im Juli 2007 keinen Unterhaltsanspruch nach § 1615l Abs. 2 BGB gegenüber dem Kindsvater mehr gehabt. Sie habe aus Gründen, die nicht auf das Kindeswohl bezogen gewesen seien, keine Erwerbstätigkeit ausgeübt.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil, den Aufhebungsbescheid vom 21. September 2010 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 15. Dezember 2010 aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Familienkasse ist der Ansicht, im Streitfall habe ein Unterhaltsanspruch der T nach § 1615l BGB bestanden.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
II. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse Nord der Bundesagentur für Arbeit) ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Bundesagentur für Arbeit X --Familienkasse-- eingetreten (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105).
III.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Aufgrund der vom FG getroffenen Feststellungen kann nicht beurteilt werden, ob die Einkünfte und Bezüge der T den im Jahr 2007 maßgebenden Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG von 7.680 € überschritten haben.
1. Ein Kindergeldanspruch kann nicht bereits deshalb verneint werden, weil T möglicherweise einen Unterhaltsanspruch nach § 1615l Abs. 2 BGB gegen den Kindsvater hatte, der einem Unterhaltsanspruch gegen die Klägerin vorging. Denn die typischerweise bestehende Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind ist kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal bei der Prüfung der Berücksichtigungstatbestände nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG (Senatsurteile vom 17. Juni 2010 III R 34/09, BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982, und vom 7. April 2011 III R 50/10, BFH/NV 2011, 1329). Vielmehr stellt sich die Frage, ob ein Kind wegen Unterhaltsansprüchen gegenüber einer anderen Person typischerweise nicht mehr auf Unterhaltsleistungen der Eltern angewiesen ist, erst bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.
2. Zu den in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG genannten Bezügen gehören Geldzuflüsse und Naturalleistungen, die bei der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung nicht erfasst werden, somit auch die Unterhaltsleistungen des Kindsvaters an die Kindsmutter, für die Kindergeld beansprucht wird. Wegen des auch für Bezüge geltenden Zuflussprinzips führt ein Unterhaltsanspruch nur dann zu Bezügen, wenn er tatsächlich erfüllt wird, sofern der Unterhaltsberechtigte nicht i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 9 EStG auf die Geltendmachung seines Anspruchs verzichtet hat (Senatsbeschluss vom 7. April 2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340). Es kommt deshalb nicht darauf an, ob Unterhaltsleistungen aufgrund einer tatsächlich bestehenden zivilrechtlichen Verpflichtung (z.B. § 1615l BGB), einer vermeintlichen Verpflichtung oder freiwillig erbracht werden (Senatsurteil vom 11. April 2013 III R 24/12, BFH/NV 2013, 1307). Bezogen auf den Streitfall bedeutet dies, dass die Frage eines Unterhaltsanspruchs der T gegenüber dem Kindsvater nach § 1615l BGB nicht entscheidungserheblich ist.
3. Wird Kindergeld für ein verheiratetes Kind begehrt, das mit seinem Ehegatten in einem gemeinsamen Haushalt lebt, kann bei der Schätzung der als Bezüge anzusetzenden Unterhaltsleistungen davon ausgegangen werden, dass sich die --kinderlosen-- Ehegatten das gemeinsame verfügbare Einkommen hälftig teilen, sofern dem unterhaltsverpflichteten Ehegatten ein verfügbares Einkommen in Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums verbleibt (Senatsurteil vom 23. November 2011 III R 76/09, BFHE 236, 79, BStBl II 2012, 413, m.w.N.). Dieser Grundsatz lässt sich jedoch auf nicht verheiratete, zusammen lebende Eltern mit Kind schon deshalb nicht übertragen, weil beim Unterhaltsanspruch nach § 1615l BGB, anders als beim Unterhalt zwischen zusammen lebenden, getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten, die wirtschaftlichen Verhältnisse des unterhaltspflichtigen Kindsvaters nicht maßgebend sind (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. Juli 2008 XII ZR 109/05, BGHZ 177, 272). Wegen der Geltung des Zuflussprinzips ist daher in den Fällen, in denen unverheiratete Eltern zusammen mit ihrem Kind in einem gemeinsamen Haushalt leben, im Einzelnen zu ermitteln, ob und ggf. in welchem Umfang gegenüber dem betreuenden Elternteil oder durch einen Dritten Naturalleistungen erbracht wurden (Senatsurteil in BFH/NV 2013, 1307).
4. Das angefochtene Urteil beruht auf abweichenden Rechtsgrundsätzen. Es ist daher aufzuheben. Aufgrund der Feststellungen des FG kann der Senat nicht beurteilen, in welcher Höhe der T im Jahr 2007 Einkünfte und Bezüge zugeflossen sind. Das FG wird im zweiten Rechtsgang die Höhe der Unterhaltsleistungen, die T vom Kindsvater im Jahr 2007 erhalten hat, zu ermitteln haben. Dabei bestehen keine Bedenken, Naturalleistungen in Anlehnung an die Sozialversicherungsentgeltverordnung zu schätzen (s. Senatsurteil in BFH/NV 2013, 1307).