Entscheidungsdatum: 17.08.2011
Der Grundsatz, dass ein Rechtsanwalt darauf vertrauen darf, dass eine bislang zuverlässige Kanzleikraft eine konkrete Einzelweisung befolgen wird, gilt insoweit nicht, als der Rechtsanwalt von der ihm selbst ohne weiteres möglichen Beseitigung eines von ihm erkannten Fehlers absieht .
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg, 5. Zivilsenat, vom 8. März 2011 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 250.000 €
I. Das Landgericht Hamburg hat die auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Freihaltung der Klägerin von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung bis zum Betrag von 2.067,60 € gerichtete Klage mit Urteil vom 2. Dezember 2010 abgewiesen. Die Klägerin hat gegen das ihr am 3. Dezember 2010 zugestellte Urteil mit versehentlich an das Landgericht Hamburg adressiertem Schriftsatz vom 30. Dezember 2010 Berufung eingelegt. Der Schriftsatz ist am 30. Dezember 2010 bei der Gemeinsamen Annahmestelle beim Amtsgericht Hamburg eingegangen, die auch für die Entgegennahme von an das Landgericht Hamburg und das Oberlandesgericht Hamburg gerichteten Schriftstücken zuständig ist. Der Vorsitzende der Zivilkammer 15 des Landgerichts Hamburg hat die Berufungsschrift mit Verfügung vom 4. Januar 2011 an das Oberlandesgericht Hamburg weitergeleitet, wo sie am 6. Januar 2011 eingegangen ist. Die Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts Hamburg hat der Klägerin mit Schreiben vom 7. Januar 2011 außer dem Aktenzeichen des Berufungsverfahrens auch mitgeteilt, dass die Berufung dort am 30. Dezember 2010 eingegangen sei. Demgegenüber hat der Vorsitzende des Berufungssenats der Klägerin mit Schreiben vom 17. Januar 2011 mitgeteilt, dass der Senat die Verwerfung der Berufung als unzulässig beabsichtige, weil die Berufungsschrift beim Oberlandesgericht erst am 6. Januar 2011 und damit nach Ablauf der Berufungsfrist eingegangen sei.
Die Klägerin hat daraufhin am 31. Januar 2011 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die stets gründlich und ordentlich arbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte W. habe beim auftragsgemäßen Erstellen der Berufungsschrift am 30. Dezember 2010 als Empfänger versehentlich das Landgericht Hamburg eingesetzt. Rechtsanwalt Dr. S. habe diesen Fehler bemerkt und Frau W. deshalb angewiesen, die erste Seite des Schriftsatzes vor seiner Einreichung bei Gericht gegen eine Fassung mit dem Oberlandesgericht Hamburg als Adressat auszutauschen. Im Vertrauen darauf, dass Frau W. dieser Anweisung Folge leisten werde, habe er den Schriftsatz auf der zweiten Seite bereits unterschrieben. Frau W. habe die ihr erteilte Anweisung in der Hektik der Erstellung verschiedener Schriftsätze vor Jahresende allerdings vergessen und die von Rechtsanwalt Dr. S. bereits unterschriebene Berufungsschrift daher in ihrer ursprünglichen Form am 30. Dezember 2010 bei der Gemeinsamen Annahmestelle abgegeben.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin zurückgewiesen und deren Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist der Wiedereinsetzungsantrag zwar fristgerecht gestellt worden und damit zulässig, weil die Klägerin aufgrund der Mitteilung vom 7. Januar 2011 bis zum Zugang des Schreibens des Vorsitzenden des Berufungssenats von einer rechtzeitigen Rechtsmitteleinlegung habe ausgehen können. Der Antrag sei aber unbegründet, weil die Fristversäumung wesentlich und vorrangig auf einem Ausführungsfehler von Rechtsanwalt Dr. S. und einem Organisationsmangel im Büro der Klägervertreter beruht habe und die Klägerin sich beides gemäß § 85 Abs. 2 ZPO wie eigenes Verschulden zurechnen lassen müsse. Selbst wenn Frau W. eine vertrauenswürdige Mitarbeiterin gewesen sei, bei der von einer ordnungsgemäßen Ausführung ihr erteilter Anordnungen habe ausgegangen werden können, und Rechtsanwalt Dr. S. klare Anweisungen gegeben habe, stelle es wegen der besonderen Bedeutung der richtigen Adressierung einer Berufungsschrift bereits ein erhebliches Anwaltsverschulden dar, dass Rechtsanwalt Dr. S. den ihm vorgelegten Schriftsatz trotz Erkennens seiner Fehladressierung unterschrieben und damit eine formal wirksame Prozesserklärung abgegeben habe, die in dieser Form an das Gericht habe weitergeleitet und dort trotz Fehladressierung als formwirksame Berufungsschrift habe behandelt werden können. Zudem hätte es wegen des von Rechtsanwalt Dr. S. bemerkten gravierenden Fehlers bei der Adressierung und der von ihm vorgenommenen Unterzeichnung anwaltlicher Sorgfalt entsprochen, nicht schlicht auf eine ordnungsgemäße Ausführung der Anweisung zu vertrauen, sondern deren Umsetzung nochmals zu überprüfen.
Wegen der in der eidesstattlichen Versicherung von Frau W. angesprochenen Hektik, die seinerzeit in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin geherrscht habe, hätten bei einer ordnungsgemäßen Kanzleiorganisation zudem Vorkehrungen gegen folgenschwere Flüchtigkeitsfehler der Mitarbeiter getroffen werden müssen. Überdies habe die Klägerin ihre von der Beklagten nachhaltig bestrittene Darstellung der Zuverlässigkeit von Frau W. weder substantiiert noch ausreichend glaubhaft gemacht. Ein Verschulden des Rechtsanwalts Dr. S. folge zumindest aus der Gesamtschau aller relevanten Umstände.
III. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Rechtsbeschwerde der Klägerin ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft, den Erfordernissen des § 575 ZPO entsprechend form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). In der Sache hat sie allerdings keinen Erfolg.
1. Das Berufungsgericht ist entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde mit Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin die Frist für die bei ihm einzulegende Berufung gegen das klagabweisende Urteil erster Instanz versäumt hat. Die insoweit maßgebliche Monatsfrist des § 517 ZPO hat mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils des Landgerichts am 3. Dezember 2010 zu laufen begonnen und ist am 3. Januar 2011 abgelaufen, ohne dass beim Berufungsgericht eine Berufungsschrift der Klägerin eingegangen war. Der Umstand, dass der von Rechtsanwalt Dr. S. am 30. Dezember 2010 unterzeichnete Schriftsatz bereits an diesem Tag bei der auch für die Entgegennahme der an das Oberlandesgericht gerichteten Schriftsätze zuständigen Gemeinsamen Annahmestelle beim Amtsgericht Hamburg eingegangen war, ändert daran ebenso wenig etwas wie der weitere Umstand, dass die Geschäftsstelle des Berufungsgerichts der Klägerin mit Schreiben vom 7. Januar 2011 mitgeteilt hat, dass die Berufung dort am 30. Dezember 2010 eingegangen sei.
a) Die Rechtsbeschwerde weist allerdings zutreffend darauf hin, dass der Eingang eines Schriftsatzes, mit dem eine Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil eingelegt wird, bei der sowohl für das Erstgericht als auch für das Berufungsgericht zuständigen Gemeinsamen Annahmestelle nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann die Berufungsfrist wahrt, wenn in dem Schriftsatz kein Empfänger bezeichnet ist und der Schriftsatz deshalb erst nach Ablauf der zu wahrenden Frist an das Rechtsmittelgericht weitergeleitet wird (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 1992 X ZB 17/91, NJW 1992, 1047). Die für den fristwahrenden Zugang erforderliche Zugriffsmöglichkeit des zuständigen Gerichts ist nicht nur dann eröffnet, wenn dieses in dem Schriftsatz ausdrücklich bezeichnet ist, sondern auch dann, wenn es diesem hinreichend sicher zugeordnet werden kann (BGH, NJW 1992, 1047). Diese Voraussetzung erfüllt ein ohne Nennung seines Adressaten bei einer gemeinsamen Einlaufstelle für mehrere Gerichte eingegangener Schriftsatz bereits dann, wenn er aufgrund der ohne weiteres erkennbaren Bedeutung seines Inhalts einem dieser Gerichte hinreichend sicher zugeordnet werden kann.
b) Eine solche hinreichend sichere Zuordnung ist jedoch dann nicht möglich, wenn bei einer Gemeinsamen Annahmestelle ein falsch adressierter Rechtsmittelschriftsatz eingeht. In einem solchen Fall besteht für das Personal der Annahmestelle grundsätzlich kein Anlass zu prüfen, welchem der der Annahmestelle angeschlossenen Gerichte der Schriftsatz zuzuordnen ist. Daher ist ein solcher Schriftsatz grundsätzlich allein bei dem Gericht eingereicht, an das er adressiert ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 18. Februar 1997 VI ZR 28/96, NJW-RR 1997, 892; Beschluss vom 17. März 2009 VIII ZB 66/08, juris Rn. 6; BAG, NJW 2002, 845, 846). Abweichendes gilt zwar etwa dann, wenn die die Berufungsbegründung enthaltende Prozesserklärung zu dem bereits anhängigen Berufungsverfahren unter Angabe des für dieses vergebenen Aktenzeichens eingereicht wird und damit aus dem Gesamtzusammenhang der Erklärung die Fehlerhaftigkeit der Adressierung ohne weiteres erkennbar ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1988 VII ZB 1/88, NJW 1989, 590, 591) oder wenn der mit der Postverteilung betraute Bedienstete die Fehladressierung von sich aus bemerkt und den Schriftsatz deshalb an das richtige Gericht weiterleitet (Musielak/Ball, ZPO, 8. Aufl., § 519 Rn. 20). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor. Die erste Seite des Schriftsatzes vom 30. Dezember 2010 enthielt keinen für die Gemeinsame Annahmestelle beim Amtsgericht Hamburg erkennbaren Hinweis darauf, dass der Schriftsatz entgegen seiner Adressierung an das Oberlandesgericht Hamburg gerichtet sein sollte.
c) Die Mitteilung der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts vom 7. Januar 2011, die Berufung sei dort am 30. Dezember 2010 eingegangen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Sie steht mit dem sonstigen Inhalt der Akten in Widerspruch und beruhte ersichtlich darauf, dass der Geschäftsstellenbeamte nach den vorstehenden Ausführungen zu Unrecht angenommen hat, dass die Berufungsschrift mit dem Eingang bei der Gemeinsamen Annahmestelle ungeachtet dessen bereits beim Oberlandesgericht eingegangen war, dass sie an das Landgericht adressiert war.
2. Das Berufungsgericht hat der Klägerin die innerhalb der Frist des § 234 ZPO beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht versagt. Die Versäumung der Berufungsfrist beruht auf einem Verschulden des Rechtsanwalts Dr. S., das sich die Klägerin gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.
a) Die Frage, ob einen Prozessbevollmächtigten ein entsprechendes Verschulden trifft, ist nach einem objektiv-typisierten Maßstab zu beantworten, wobei auf die Person des Bevollmächtigten abzustellen ist (BAGE 54, 105, 108 f. = NJW 1987, 1355; Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 85 Rn. 13; Musielak/Weth aaO § 85 Rn. 18, jeweils mwN). Verschuldensmaßstab ist dabei nicht mehr wie unter der Geltung des auf unabwendbare Zufälle abstellenden § 233 Abs. 1 ZPO aF die äußerste und größtmögliche Sorgfalt, sondern die von einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernde übliche Sorgfalt (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 1992 XII ZB 92/91, NJW 1992, 2488, 2489; Beschluss vom 31. März 2010 XII ZB 166/09, FamRZ 2010, 879 Rn. 15; Zöller/Vollkommer aaO § 85 Rn. 13; Musielak/Weth aaO § 85 Rn. 18, jeweils mwN). Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts dürfen dabei nicht überspannt werden; ihre Beachtung muss im Einzelfall auch zumutbar sein, da andernfalls das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz und zumutbaren Zugang zu den Gerichten verletzt wird (vgl. BVerfGE 79, 372, 378; BVerfG [Kammer], NJW 2007, 3342; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2002 V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 227 f.; Zöller/Vollkommer aaO § 85 Rn. 13 mwN). Dementsprechend fehlt es grundsätzlich an einem der Partei zuzurechnenden Verschulden ihres Anwalts an der Fristversäumung, wenn der Anwalt einer Kanzleikraft, die sich bislang als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte; ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine bislang zuverlässige Kanzleikraft eine konkrete Einzelanweisung befolgt (BGH, Beschluss vom 13. April 2010 VI ZB 65/08, NJW 2010, 2287 Rn. 5 f. mwN). Die Ausführung einer erteilten konkreten Einzelanweisung muss nur dann überprüft werden, wenn abzusehen ist, dass die Weisung nicht befolgt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juni 2009 V ZB 191/08, NJW 2009, 3036 Rn. 12 f.).
b) Das Berufungsgericht ist von diesen Grundsätzen ausgegangen und hat sie auf den Streitfall auch nicht in einer Weise angewandt, bei der die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts überspannt werden. Es hat ein Verschulden des Rechtsanwalts Dr. S. mit Recht bereits darin erblickt, dass dieser die erkanntermaßen fehladressierte Berufungsschrift unterzeichnet hat, ohne sie dabei entweder selbst handschriftlich zu korrigieren oder immerhin zusätzliche Maßnahmen zu treffen bzw. zu veranlassen, um sicherzustellen, dass Frau W. die ihr von ihm zum Zwecke der Korrektur des Fehlers erteilte Einzelweisung tatsächlich befolgte.
aa) Die Rechtsbeschwerde weist in diesem Zusammenhang allerdings mit Recht darauf hin, dass der oben in Randnummer 12 dargestellte Vertrauensgrundsatz nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur dann nicht gilt, wenn eine Rechtsmittelschrift mehrere für die Zulässigkeit des Rechtsmittels relevante Fehler aufweist (vgl. nur BGH, NJW 2010, 2287 Rn. 7 mwN). Im Streitfall war diese Voraussetzung nicht erfüllt; vielmehr lag allein ein einziger (Flüchtigkeits)Fehler bei der Adressierung vor, der zwar gravierend, aber nach seiner Entdeckung evident und bereits durch eine handschriftliche Korrektur der ersten Seite des einzureichenden Schriftsatzes und/oder durch den (nachfolgenden) Austausch dieser Seite auch unschwer zu korrigieren war.
bb) Die für Rechtsanwalt Dr. S. insoweit gegebene Möglichkeit, den Fehler bei der Adressierung der Berufungsschrift nach seiner Entdeckung bereits selbst ohne jeden weiteren Aufwand durch eine entsprechende handschriftliche Korrektur zu beseitigen, setzte hier allerdings auch den Vertrauensgrundsatz außer Kraft. Dieser Grundsatz soll wie oben in Randnummer 12 dargelegt verhindern, dass das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz und zumutbaren Zugang zu den Gerichten verletzt wird. Für seine Anwendung ist daher kein Raum, wenn der Rechtsanwalt von der ihm selbst ohne weiteres möglichen Beseitigung eines erkannten Fehlers absieht und stattdessen darauf vertraut, dass sein Personal den Fehler aufgrund einer erteilten Einzelweisung beseitigen wird.
IV. Nach allem ist die Rechtsbeschwerde der Klägerin unbegründet und daher mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
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