Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 16.02.2012


BSG 16.02.2012 - B 9 V 31/11 B

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensmangel - Untersuchungsmaxime - Gewaltopferentschädigung - tätlicher Angriff - mutmaßliche Vergewaltigung - Aufklärungsbedarf - Vernehmung des mutmaßlichen Vergewaltigers als Zeugen - Zurückverweisung


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
16.02.2012
Aktenzeichen:
B 9 V 31/11 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Braunschweig, 18. November 2010, Az: S 42 VG 11/09, Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 22. Juli 2011, Az: L 10 VE 1/11, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. Juli 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Zuerkennung von Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 30 für die Zeit ab 1.9.2006.

2

Die im Jahre 1972 geborene Klägerin leidet unter einer depressiv-ängstlichen Störung und ist an Multipler Sklerose erkrankt. Sie bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Seit August 2006 ist bei der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 anerkannt, wobei die Persönlichkeitsstörung mit einem GdB von 50 bewertet worden ist.

3

Im Februar 2007 beantragte die Klägerin Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Dabei gab sie an, durch ihren Wohnungsnachbarn (T.H.T.) vergewaltigt worden zu sein.

4

Die von der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen T.H.T. erhobene Anklage wegen sexueller Nötigung wurde mit Beschluss des Amtsgerichts G. vom 8.8.2007 (22 Ls 209 Js 51985/06) nicht zur Hauptverhandlung zugelassen, weil sich aus den Angaben der Klägerin nicht ergebe, dass sie erkennbar Widerstand geleistet habe oder dass das Ausnutzen einer hilflosen Lage vorgelegen habe.

5

Mit Bescheid vom 7.5.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.1.2009 lehnte das beklagte Land den Versorgungsantrag der Klägerin ab, weil eine versorgungsrechtlich relevante vorsätzliche Gewalttat nicht angenommen werden könne. Klage und Berufung der Klägerin, mit der sie hilfsweise beantragt hatte, den Schädiger als Zeugen zu der Behauptung zu vernehmen, dieser habe sie am 29.9.2006 vergewaltigt, sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 18.11.2010; Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22.7.2011).

6

Das LSG hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Nach der Rechtsprechung des BSG liege ein tätlicher Angriff iS des § 1 OEG bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor. Bei Zugrundelegung des von der Klägerin geschilderten Sachverhalts lasse sich nicht feststellen, dass sie am 29.9.2006 Opfer eines tätlichen Angriffs geworden sei.

7

Zwar habe T.H.T. die Klägerin offenbar gegen deren Willen in seine Wohnung gezogen, sich jedoch danach zum Zähneputzen allein in das Badezimmer begeben. Damit habe er der Klägerin die Möglichkeit zur Flucht eröffnet. Dieses Verhalten lasse sich bei lebensnaher Betrachtung so verstehen, dass eine feindselige Willensrichtung nicht angenommen werden könne, sondern T.H.T. vielmehr darauf abgezielt habe, einen einvernehmlichen sexuellen Kontakt mit der Klägerin herzustellen.

8

In dem von der Klägerin geschilderten anschließenden Geschehen (Werfen der Klägerin auf das Bett, Drücken ihres Kopfes gegen seine Brust) sei ebenfalls ein tätlicher Angriff nicht zu sehen. Ein erkennbarer Widerstand, der mit diesen Handlungen gebrochen werden sollte, sei von der Klägerin nicht geleistet worden. Zwar habe sie zuvor ihre Ablehnung ausgedrückt. Angesichts der früheren intimen Kontakte zwischen der Klägerin und T.H.T., zu denen sie nach eigener Aussage auch immer wieder habe "überredet" werden müssen, habe T.H.T. davon ausgehen können, dass er auch diesmal sein Ziel des sexuellen Kontaktes ohne Gewalt würde erreichen können. Die Klägerin habe schließlich auch in den Geschlechtsverkehr unter der Bedingung eingewilligt, dass T.H.T. ein Kondom verwende.

9

Weshalb es letztlich doch zu einem ungeschützten Geschlechtsverkehr gekommen sei , lasse sich den Angaben der Klägerin nicht entnehmen. Es bestehe kein Anlass, T.H.T. entsprechend dem Hilfsantrag der Klägerin als Zeugen zu vernehmen. Der Senat unterstelle den von der Klägerin vorgetragenen Sachverhalt als zutreffend, so dass insoweit kein weiteres Aufklärungsbedürfnis bestehe.

10

Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin als Verfahrensmangel die Verletzung des § 103 SGG geltend. Das LSG sei ohne hinreichende Begründung ihrem gestellten Beweisantrag nicht gefolgt. Durch die beantragte Vernehmung hätte nachgewiesen werden können, dass T.H.T. von den psychischen Störungen der Klägerin gewusst habe. Neben weiteren Umständen sei auch zu klären gewesen, weshalb T.H.T. bei dem Geschlechtsverkehr kein Kondom verwendet habe.

11

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 22.7.2011 ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) ergangen.

12

Das LSG ist dem von der Klägerin bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag auf Vernehmung des Zeugen T.H.T. ohne hinreichende Begründung, dh ohne hinreichenden Grund (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5), nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Zwar ist das von der Klägerin bezeichnete Beweisthema "Vergewaltigung" bei wörtlicher Betrachtung eigentlich nicht nur auf die Aufklärung tatsächlicher Umstände gerichtet, sondern schließt auch deren rechtliche Würdigung ein. Sinngemäß sind jedoch die näheren Einzelheiten der Vorgänge zwischen der Klägerin und dem Zeugen T.H.T. am 29.9.2006 gemeint.

13

Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 49). Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zur gesetzlichen Voraussetzung eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs nach § 1 Abs 1 OEG bestand für das LSG zwingende Veranlassung, dem Beweisantrag nachzukommen. Insbesondere die Frage, warum T.H.T. entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Klägerin kein Kondom verwendet hat, hätte dem LSG Anlass zur Zeugenvernehmung geben müssen. Auch der weitere Geschehensablauf bedurfte der Klärung. So ist unklar, wann die Klägerin das Fehlen des Kondoms erkannt und wie sie sich daraufhin verhalten hat. Zur Klärung stand auch ein präsentes Beweismittel, nämlich der Zeuge T.H.T., zur Verfügung. Soweit das LSG ausgeführt hat, "weshalb es letztlich doch zu einem ungeschützten Geschlechtsverkehr gekommen ist, lässt sich den Angaben der Klägerin nicht entnehmen", hat es den bestehenden Aufklärungsbedarf auch selbst erkannt. Hier ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Klägerin an einer psychischen Störung leidet, die gravierende Auswirkungen auf ihre Erwerbsfähigkeit und ihren GdB nach dem Schwerbehindertenrecht hat. Dementsprechend war das LSG aufgerufen, besonders intensiv auch andere Erkenntnisquellen als die Angaben der Klägerin selbst zu nutzen. Weshalb es gleichwohl den beschuldigten Schädiger nicht als Zeugen zu diesen Umständen vernommen hat, ist auch unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils nicht zu erkennen.

14

Auf diesem Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der beantragten Zeugenvernehmungen der Rechtsstreit einer anderen, für die Klägerin günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.

15

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der ihm durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

16

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.