Entscheidungsdatum: 24.03.2015
Begründet der Hilfebedürftige am Ort einer stationären Einrichtung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im sicheren Wissen, später in die Einrichtung aufgenommen zu werden, gilt dieser Aufenthalt wegen der Begründung einer Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers nicht als gewöhnlicher Aufenthalt.
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. September 2013 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 12 210,12 Euro festgesetzt.
Im Streit ist die Erstattung von Kosten einer stationären Maßnahme der Sozialhilfe für die Zeit vom 2.6.2010 bis 28.2.2011 (12 210,12 Euro), die der Landkreis Limburg-Weilburg dem Hilfeempfänger J. K. (K) bewilligt hat.
Der 1955 geborene K lebte bis zum 15.4.2010 in D. (Rheinland-Pfalz) in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Freundin. Nach der Trennung an diesem Tag verließ er die Wohnung und bereiste besuchsweise England, Frankreich, Spanien und Marokko; am 18.5.2010 meldete er sich in D. polizeilich ab und hielt sich anschließend an verschiedenen Orten auf. Vom 31.5. bis zum 1.6.2010 übernachtete er zuletzt in der "Herberge" des W.-A.-Hauses in L. (Hessen), die Übernachtungsmöglichkeiten für wohnsitzlose Menschen anbietet. Er hatte dabei das Ziel, dauerhaft in L. zu leben und in das W.-A.-Haus selbst (stationär) aufgenommen zu werden. Der Aufenthalt in der Herberge erfolgte lediglich für zwei Tage zur Überbrückung bis zur (absehbaren) Aufnahme in die Einrichtung am 2.6.2010. Der Landkreis Limburg-Weilburg übernahm vorläufig die Kosten hierfür (Bescheid vom 9.8.2010). Der Beklagte lehnte eine Kostenerstattung mit der Begründung ab, K habe in der Herberge einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, sodass der Landkreis selbst der zuständige Sozialhilfeträger sei (Schreiben vom 6.12.2010).
Die Klage, erhoben vom Landeswohlfahrtsverband Hessen - während des Berufungsverfahrens wurde durch den Landkreis eine Vollmacht zur Durchführung des Gerichtsverfahrens erteilt -, hatte in beiden Instanzen Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Kassel vom 30.10.2012; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 30 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) sowie des § 109 SGB XII. Mit dem Zuzug des K nach L. sei ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, es bestehe die Notwendigkeit, den Schutz des § 109 SGB XII auf zeitlich der Aufnahme vorgelagerte Aufenthalte zu erstrecken.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG und den Gerichtsbescheid des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung für zutreffend.
Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
Die Klage ist mit der durch den Landkreis Limburg-Weilburg im Berufungsverfahren erteilten Ermächtigung zulässig geworden (dazu im Einzelnen bereits Senatsurteil vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - RdNr 9 f). Das Rubrum war allerdings zu korrigieren, weil die Aufgaben des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe in Rheinland-Pfalz - nach § 1 Abs 2Landesgesetz zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (AGSGB XII) vom 22.12.2004 - Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes 571 - durch das beteiligtenfähige (vgl § 70 Nr 3 SGG) Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung wahrgenommen werden.
Sonstige von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel liegen nicht vor. Eine Beiladung des K wie auch des Landkreises Limburg-Weilburg ist nicht erforderlich (vgl dazu Senatsurteil, aaO, RdNr 11 mwN).
Ob der Kläger gemäß § 106 Abs 1 SGB XII (in der Normfassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 - BGBl I 3022) iVm § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII (in der Normfassung des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006 - BGBl I 2670) die Erstattung der Aufwendungen des Landkreises vom Beklagten verlangen kann, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Danach hat der nach § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII für die Hilfegewährung (örtlich) zuständige Träger dem nach § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII vorläufig leistenden Träger die aufgewendeten Kosten zu erstatten. Es ist schon nicht beurteilbar, ob sich ein Zahlungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Zuständigkeit überhaupt gegen den Beklagten richten kann. Denn sollte es sich bei der Leistung ab 2.6.2010 um eine solche nach § 67 SGB XII gehandelt haben, wäre nach dem rheinland-pfälzischen Landesrecht eine Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers und damit des Beklagten statt des örtlichen Trägers nur denkbar, wenn die Leistungserbringung an K in einer stationären Einrichtung erforderlich gewesen wäre (vgl § 2 Abs 2 Nr 5 AGSGB XII). Hierzu hat das LSG lediglich ausgeführt, es sei "unstreitig", dass die Leistungserbringung in Form einer stationären Maßnahme an K erforderlich gewesen sei; diese Ausführungen ermöglichen keine rechtliche Überprüfung durch den Senat.
Ob der Beklagte bzw der örtliche Träger der Sozialhilfe der nach § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII eigentlich zuständige Träger ist, weil K seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in die Einrichtung in Rheinland-Pfalz und damit in seinem Zuständigkeitsbereich hatte, kann ebenfalls nicht abschließend beurteilt werden. Der Landkreis hat zwar nach § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII zu Recht vorläufig Leistungen an K erbracht. Steht innerhalb von vier Wochen nicht fest, wo der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Leistungsberechtigten im Zeitpunkt der Aufnahme oder innerhalb von zwei Monaten vor der Aufnahme in eine Einrichtung war, ist nach § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII nämlich der nach § 98 Abs 1 SGB XII für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Leistungsträger - hier der Landkreis Limburg-Weilburg - örtlich zuständig, um eine möglichst schnelle Deckung des geltend gemachten Bedarfs unabhängig von Zuständigkeitsfragen sicherzustellen. Diese dem Schutz des Hilfebedürftigen dienende Zuständigkeitsregelung greift nicht nur bei Unklarheiten im Tatsächlichen, sondern gilt nach ihrem Sinn und Zweck gleichermaßen, wenn - wie hier - zwischen zwei Leistungsträgern unterschiedliche Rechtsansichten darüber bestehen, wo der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Hilfebedürftigen liegt und deshalb keine Einigung über die örtliche Zuständigkeit erzielt werden kann (vgl Senatsurteil vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - RdNr 13).
Nach § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I hat eine Person den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Für die Feststellung des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts sind die mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände des Einzelfalls festzustellen; im Rahmen einer vorausschauenden Betrachtung (Prognoseentscheidung) sind alle für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände, nicht nur der Wille des Betroffenen, zu würdigen und als hypothetische Tatsache festzustellen, und zwar auch dann, wenn wie hier der gewöhnliche Aufenthalt rückblickend zu ermitteln ist. Dies ist Aufgabe der Tatsachengerichte und für den Senat bindend, solange nicht durchgreifende Verfahrensrügen dagegen erhoben werden (zum Ganzen bereits Senatsurteil vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - RdNr 15 mwN).
Insoweit sind die Ausführungen des LSG, wonach K am 31.5.2010 einen gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I in L. begründet hat, dieser aber wegen der Ausnahmeregelung des § 109 SGB XII nicht als gewöhnlicher Aufenthalt behandelt wird, rechtlich zwar nicht zu beanstanden (dazu sogleich); das LSG hat jedoch die erforderliche Prognoseentscheidung im Hinblick auf die zwischenzeitlichen Aufenthalte des K nach dem Wegzug aus D. nicht getroffen. Es hat - von dem Beklagten unangegriffen - festgestellt, dass K bereits am 31.5.2010 entschieden gewesen sei, dauerhaft in L. zu leben, weil er mit dem Ziel der stationären Aufnahme in das W.-A.-Haus gekommen war. Aus seiner Sicht habe L. zum Mittelpunkt der Lebensbeziehungen werden sollen; seine Aufnahme in die stationäre Einrichtung sei auch tatsächlich nicht unsicher gewesen. Der Aufenthalt in der Herberge sei vielmehr lediglich für zwei Tage zur Überbrückung bis zur erwarteten und erkennbar absehbaren Aufnahme in die Einrichtung erfolgt, sodass ausgehend von den Kriterien des § 30 SGB I ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden wäre.
Jedoch kommt - wie das LSG zutreffend entschieden hat - zugunsten des Ortes, an dem K in die Einrichtung aufgenommen worden ist, die Regelung des § 109 SGB XII zum Tragen. Danach gilt als gewöhnlicher Aufenthalt ua nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung iS des § 98 Abs 2 SGB XII. Die Herberge des W.-A.-Hauses ist zwar selbst keine stationäre Einrichtung (zum Einrichtungsbegriff zuletzt BSG SozR 4-3500 § 106 Nr 1 RdNr 19 mwN). Der Rechtsgedanke des § 109 SGB XII gebietet jedoch eine Vorverlagerung des Schutzes auf einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Ortes, an dem der Hilfebedürftige in die Einrichtung aufgenommen worden ist; denn mit den vom LSG festgestellten Umständen begründet der Hilfebedürftige bereits mit dem Eintreffen am Ort der Einrichtung und nicht erst mit der Aufnahme in einem bestimmten Haus - sei es die Einrichtung, die angeschlossene Herberge oder eine sonstige Unterkunft - dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Würde eine solche, auch nur kurzfristige Aufenthaltsbegründung außerhalb der Einrichtung Anknüpfungspunkt für die Kostentragung sein, liefe der Schutz des Einrichtungsorts weitgehend leer (so bereits BVerwGE 42, 196 f).
Dieser Schutz gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine Person schon mit dem sicheren Wissen, später in eine Einrichtung aufgenommen zu werden, den Ort der Einrichtung aufsucht, und nur eine vorübergehende Zeit außerhalb der Einrichtung bis zur Aufnahme überbrücken muss und will (BVerwGE aaO). Nicht ausreichend wäre es, wenn der Hilfebedürftige lediglich mit dem Entschluss an den Ort der Einrichtung reist, in dieser Aufnahme zu finden, ohne dass erkennbar wird, dass sich dieser Entschluss unmittelbar realisieren lässt. Nach den Feststellungen des LSG liegt der Fall hier aber anders: K wollte und sollte kurzfristig in die Einrichtung aufgenommen werden. Dieser Sachverhalt ist maßgebend für den Schutz des Einrichtungsortes. Es kommt dann nicht darauf an, ob K diese Sicherheit schon bei Verlassen seines vorangegangenen Aufenthaltsortes hatte.
Soweit das LSG davon ausgegangen ist, dass K zwischenzeitlich nach seiner Trennung bis zur Aufenthaltsnahme in L. an keinem anderen Ort einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, liegt eine Prognoseentscheidung des LSG im dargestellten Sinne aber nicht vor. Insbesondere die Annahme, es habe sich "offensichtlich" um eine Zeit des "Umherziehens ohne Niederlassungswillen" (und damit ohne die zwischenzeitliche Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts) gehandelt, stellt keine Tatsachenfeststellung im Sinne einer Prognose unter Würdigung nicht nur des Willens von K dar. Das LSG hat vielmehr für den Personenkreis der wohnungslosen Personen zu Unrecht rechtlich abweichende Kriterien für einen gewöhnlichen Aufenthalt aufgestellt, indem es allein auf den Niederlassungswillen abstellt. Die erforderliche Prognose (vgl Senatsurteil vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - RdNr 16) wird es nachzuholen haben. Der Kläger trägt ggf die objektive Beweislast dafür, dass K in den zwei Monaten vor der Aufnahme in die Einrichtung zuletzt in D. seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte; denn die daraus für den Beklagten (bzw den örtlichen Träger der Sozialhilfe) folgende Zuständigkeit nach § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII gehört zu den anspruchsbegründenden Tatsachen iS des § 106 Abs 1 SGB XII.
Das LSG hat schließlich keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob die an K erbrachten Leistungen dem Grund und der Höhe nach rechtmäßig sind (vgl zu dieser Voraussetzung nur BSGE 109, 56 ff RdNr 10 = SozR 4-3500 § 98 Nr 1). Hierzu hat das LSG lediglich ausgeführt, die Kosten seien in der Höhe "unstreitig". Diese Ausführungen ermöglichen keine rechtliche Überprüfung durch den Senat.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 3 und Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, §§ 40, 47 Abs 1 und Abs 2, 52 Abs 3 Gerichtskostengesetz.