Entscheidungsdatum: 17.12.2014
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. September 2013 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 14 211,29 Euro festgesetzt.
I
Im Streit ist die Erstattung von Kosten für eine stationäre Maßnahme der Sozialhilfe für die Zeit vom 25.3.2010 bis 28.2.2011, die der Landkreis L.-W. (L) für den Hilfeempfänger D. B. (B) erbracht hat.
Der 1986 geborene B lebte bis zum 20.3.2010 in Be. (R.-P.) im elterlichen Haushalt. Nachdem ihn seine Mutter der Wohnung verwiesen hatte, hielt er sich zunächst bis 22.3.2010 bei einem Bekannten - ebenfalls in R.-P. auf. Vom 22. bis 24.3.2010 übernachtete er in der "Herberge" des W.-A.-Hauses in Li. (H.), die Übernachtungsmöglichkeiten für wohnsitzlose Menschen anbietet. Diese Tage nutzte er, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob er in das W:-A.-Haus selbst (stationär) aufgenommen werden wolle; diese Aufnahme erfolgte dann am 25.3.2010. L übernahm vorläufig die Kosten hierfür (Bescheide vom 30.6.2010 und 28.10.2010). Der Beklagte lehnte die geltend gemachte Kostenerstattung mit der Begründung ab, B habe in der Herberge einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, sodass L selbst der zuständige Sozialhilfeträger sei (Schreiben vom 7.12.2010).
Die auf Erstattung von 14 211,29 Euro an sich gerichtete Klage, erhoben vom Landeswohlfahrtsverband H. während des Berufungsverfahrens wurde durch L eine Vollmacht zur Durchführung des Gerichtsverfahrens erteilt -, hatte in beiden Instanzen Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Kassel vom 30.10.2012; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 30 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) sowie des § 109 SGB XII. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, am 22.3.2010 sei der Verbleib des B in Li. noch nicht sicher gewesen; allein die Möglichkeit, dass er an einen anderen Ort hätte weiterziehen können, stehe ohnedies der rechtlichen Wertung eines zukunftsoffenen Verbleibs und damit der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht entgegen. Es bestehe auch nicht die Notwendigkeit, den Schutz des § 109 SGB XII auf zeitlich der Aufnahme vorgelagerte Aufenthalte zu erstrecken.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG und den Gerichtsbescheid des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung für zutreffend.
Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
Gegenstand des Verfahrens ist die Erstattung von Aufwendungen in Höhe von 14 211,29 Euro, die L in der Zeit vom 25.3.2010 bis 28.2.2011 für B vorläufig erbracht haben soll und deren Erstattung der Kläger in Form einer eigennützigen gewillkürten Prozessstandschaft mit der allgemeinen Leistungsklage (§ 54 SGG) durch Zahlung an sich verlangt. Insoweit ist die Klage jedenfalls mit der durch L im Berufungsverfahren erteilten Ermächtigung zulässig geworden. Anders als das LSG meint, war und ist L vom Kläger als überörtlichem Träger der Sozialhilfe (§ 100 Abs 1 Nr 5 Bundessozialhilfegesetz
Doch hat L diese Befugnis prozessual wirksam dem Kläger übertragen (gewillkürte Prozessstandschaft; zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen vgl nur Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 72. Aufl 2014, Grdz § 50 RdNr 29 f; Zöller, ZPO, 30. Aufl 2014, vor § 50 RdNr 42 ff, insbesondere RdNr 49) und diesem unter Berücksichtigung des Inhalts der Erklärung auch das Recht eingeräumt, Zahlung an sich selbst zu verlangen (vgl dazu nur BGH, Urteil vom 7.6.2001 - I ZR 49/99). Wegen der besonderen Konstellation der Heranziehung, in der der Kläger für diese Leistung originär zuständig war und trotz der Heranziehung auch geblieben ist, hat der Kläger naturgemäß ein eigenes berechtigtes Interesse an der Prozessführung (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, aaO, RdNr 30). Zur Auslegung der vorgenannten, an sich nicht revisiblen (§ 162 SGG) landesrechtlichen Regelungen war der Senat befugt, weil das LSG insoweit keine eigenen Feststellungen getroffen hat (vgl zu dieser Voraussetzung: BSGE 94, 38, 43 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1; BSGE 96, 64, 67 f = SozR 4-4300 § 143a Nr 1). Es hat bei seinen Ausführungen zur Zuständigkeit vielmehr lediglich auf § 1 Abs 2 des Delegationsbeschlusses abgestellt; die eigentlich maßgeblichen landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Zuständigkeit hat es jedoch nicht ermittelt bzw ausgelegt.
Sonstige von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel liegen nicht vor. Insbesondere war eine Beiladung des B in den Fällen des § 106 SGB XII, der hier als Anspruchsnorm allein in Betracht kommt, nicht erforderlich; weil die Rechtsstellung des B durch das vorliegende Verfahren nicht berührt wird (vgl zuletzt Senatsentscheidung vom 13.2.2014 - B 8 SO 11/12 R -, SozR 4-3500 § 106 Nr 1 RdNr 14 mwN). Von einer Beiladung des L wiederum konnte hier schon deshalb abgesehen werden, weil L kein eigenes rechtliches Interesse an der Geltendmachung der Forderung (mehr) hat; der Kläger hat ihm die aufgewendeten Kosten bereits erstattet.
Ob der Kläger gemäß § 106 Abs 1 iVm § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII die Erstattung der Aufwendungen des L vom Beklagten verlangen kann, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Es ist schon nicht beurteilbar, ob sich ein Zahlungsanspruch überhaupt gegen den Beklagten richten kann, weil es an der Prüfung der sachlichen Zuständigkeit des Beklagten nach Landesrecht fehlt, die dem Senat nicht möglich ist. Denn sollte es sich bei der Leistung ab 25.3.2010 um eine solche nach § 67 SGB XII gehandelt haben, wäre eine Zuständigkeit des Landes R.-P. als überörtlichem Sozialhilfeträger statt des örtlichen nur denkbar, wenn die Leistungserbringung an B in einer stationären Einrichtung erforderlich gewesen wäre (vgl § 2 Abs 2 Nr 5 Landesgesetz zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Es fehlen jedoch auch weitere tatsächliche Feststellungen. Nach § 106 Abs 1 SGB XII hat der nach § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII für die Hilfegewährung (örtlich) zuständige Träger dem nach § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII vorläufig leistenden Träger die aufgewendeten Kosten zu erstatten. L hat nach § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII zu Recht vorläufig Leistungen an B erbracht. Steht innerhalb von vier Wochen nicht fest, wo der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Leistungsberechtigten im Zeitpunkt der Aufnahme in eine Einrichtung war, ist nach § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII nämlich der nach § 98 Abs 1 SGB XII für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Leistungsträger - hier L - örtlich zuständig, um eine möglichst schnelle Deckung des geltend gemachten Bedarfs unabhängig von Zuständigkeitsfragen sicherzustellen. Diese dem Schutz des Hilfebedürftigen dienende Zuständigkeitsregelung greift nicht nur bei Unklarheiten im Tatsächlichen, sondern gilt nach ihrem Sinn und Zweck gleichermaßen, wenn - wie hier - zwischen zwei Leistungsträgern unterschiedliche Rechtsansichten darüber bestehen, wo der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Hilfebedürftigen liegt und deshalb keine Einigung über die örtliche Zuständigkeit erzielt werden kann (vgl BT-Drucks 12/4401, S 84 zur Vorgängerregelung des § 97 Abs 2 Satz 3 BSHG).
Ob der Beklagte bzw der örtliche Träger der Sozialhilfe (siehe oben) jedoch der nach § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII eigentlich zuständige Träger ist, weil B seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in die Einrichtung in R.-P. bei seiner Mutter, damit in seinem Zuständigkeitsbereich, hatte, kann nicht abschließend beurteilt werden.
Nach § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I hat eine Person den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Für die Feststellung des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts sind die mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände des Einzelfalls festzustellen; im Rahmen einer vorausschauenden Betrachtung (Prognoseentscheidung) unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände zu würdigen und als hypothetische Tatsache festzustellen (BSGE 112, 116 ff RdNr 25 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6; BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17; BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183), und zwar auch dann, wenn wie hier der gewöhnliche Aufenthalt rückblickend zu ermitteln ist. Dies ist Aufgabe der Tatsachengerichte und für den Senat bindend, solange nicht durchgreifende Verfahrensrügen (dazu BSGE 94, 133 ff RdNr 16 = SozR 4-3200 § 81 Nr 2) dagegen erhoben werden.
Dass das LSG eine Prognose getroffen hat, ist für den Senat nicht erkennbar. Die vom LSG festgestellten Umstände, warum B in die Herberge kam und wie er die Tage dort nutzte, haben nach den aufgezeigten Maßstäben keine selbständige materiellrechtliche Bedeutung; denn sie können nur neben weiteren objektiven Umständen die Grundlage der einheitlichen Prognoseentscheidung bilden. Das LSG hat zukunftsgerichtet lediglich die subjektive Tatsache festgestellt, dass B im Zeitpunkt des Eintreffens in der Herberge noch nicht den Willen hatte, dauerhaft in Li. zu verbleiben. Ebenso sei denkbar gewesen, dass er weiterziehe; er habe sich daher "zukunftsoffen" in L aufgehalten.
Die Formulierung "zukunftsoffen" ist jedoch nur der Gebrauch eines Rechtsbegriffs. Sie genügt damit nicht den Anforderungen einer (hypothetischen) Tatsachenfeststellung im Sinne der erforderlichen Prognose, die eine Würdigung nicht nur des Willens von B, sondern aller Umstände verlangt. Nach der Formulierung des LSG hat dieses die Zukunftsoffenheit rechtlich unzutreffend lediglich mit der subjektiven Vorstellung des B verknüpft, nicht aber eine eigene Einschätzung vorgenommen, ob trotz dessen subjektiver Offenheit unter Berücksichtigung weiterer Umstände nicht doch mit einem Verbleib in Li. zu rechnen war. Besonders deutlich wird dies auch daran, dass das LSG zu einer anderen rechtlichen Würdigung des Verbleibs unter dem Gesichtspunkt der Zukunftsoffenheit gelangt, indem es B mit einem wohnsitzlosen Menschen gleichstellt und für diesen Personenkreis zu Unrecht abweichende Kriterien für die Prognose aufstellt.
Wäre mit einem Verbleib in Li. zu rechnen gewesen, hätte B in der Herberge und damit im Zuständigkeitsbereich des L einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. § 109 SGB XII fände keine Anwendung. Danach gilt als gewöhnlicher Aufenthalt ua nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung iS des § 98 Abs 2 SGB XII. Der Rechtsgedanke des § 109 SGB XII gebietet eine Vorverlagerung dieses Schutzes auf einen Aufenthalt in der einer Einrichtung angeschlossenen Herberge nur unter der Voraussetzung, dass eine Person schon mit dem sicheren Wissen, in eine Einrichtung aufgenommen zu werden, den Ort der Einrichtung aufsucht und deshalb nur eine vorübergehende Zeit außerhalb der Einrichtung bis zur Aufnahme überbrücken muss (so bereits BVerwGE 42, 196 f). Die Absicht des Eintretens in die Einrichtung muss mithin der Grund für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts an den Ort der Einrichtung sein, was nach den Feststellungen des LSG bei B gerade nicht der Fall war. Demgemäß hat das LSG die Anwendung des § 109 SGB XII auch nur für den Fall bejaht, dass man entgegen seiner tatsächlichen Feststellungen von einer Entschlossenheit des B zum Wechsel in die Einrichtung ausgehen würde.
Sollte das LSG hingegen zum Schluss kommen, B habe sich nur vorübergehend in L aufgehalten, dort also keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, wäre weiter zu prüfen, ob die dem B von L erbrachten Leistungen dem Grund und der Höhe nach rechtmäßig sind (vgl nur BSGE 109, 56 ff RdNr 10 = SozR 4-3500 § 98 Nr 1). Hierzu hat das LSG lediglich ausgeführt, es sei "unstreitig", dass die Leistungserbringung an B erforderlich gewesen sei; der Erstattungsanspruch sei zudem auch seiner Höhe nach "unstreitig". Diese Ausführungen ermöglichen keine rechtliche Überprüfung durch den Senat.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG ggf das Rubrum im Hinblick auf das in R.-P. geltende Behördenprinzip unter Berücksichtigung von § 1 Abs 2 Satz 2 AGSGB II R.-P. vom 22.12.2004 (GVBl 571) zu berichtigen haben.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 3 und Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG), §§ 40, 47 Abs 1 und Abs 2 GKG, § 52 Abs 3 GKG.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.