Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 26.01.2012


BSG 26.01.2012 - B 5 R 334/11 B

Nichtzulassungsbeschluss - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage - Verfahrensfehler


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsdatum:
26.01.2012
Aktenzeichen:
B 5 R 334/11 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Berlin, 21. März 2005, Az: S 35 RA 3631/92 W97vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 28. Juli 2011, Az: L 8 R 437/05, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. Juli 2011 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

Gründe

1

Mit Urteil vom 28.7.2011 hat es das LSG Berlin-Brandenburg abgelehnt, den Bescheid vom 7.1.2003 aufzuheben, mit dem die Beklagte den Anspruch des inzwischen verstorbenen Ehemanns der Klägerin (im Folgenden: Rentner) auf Entschädigungsrente nach dem Entschädigungsrentengesetz (ERG) vom 22.4.1992 (BGBl I 906, zuletzt geändert durch Art 21 des Gesetzes vom 9.12.2004, BGBl I 3242) mit sofortiger Wirkung aberkannt hat.

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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung wurde Beschwerde zum BSG eingelegt. In der Beschwerdebegründung werden die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (I.) sowie Verfahrensmängel (II.) geltend gemacht.

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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil kein Zulassungsgrund ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).

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Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

        

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die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG),

        

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das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (aaO Nr 2) oder

        

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ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (aaO Nr 3).

5

Derartige Gründe werden in der Beschwerdebegründung nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 S 3 SGG dargetan. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.

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I. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN; Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 160a RdNr 41).

7

Die Klägerin hält die Fragen für grundsätzlich bedeutsam,

        

1.    

"ob Personen, die an Sitzungen des Kollegiums des MfS teilgenommen hätten - ohne dabei ein Entscheidungsgremium gewesen zu sein -, hierdurch einen zurechenbaren und zugleich einen mehr als nur unerheblichen Beitrag geleistet haben, welcher unmittelbar oder mittelbar gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 ERG verstößt und ob bei einer körperlichen Abwesenheit während der Beschlussfassung mit der nachträglichen Unterzeichnung des Protokolls der Kollegiumssitzung die Zustimmung zu den Beschlüssen erklärt wurde."

        

2.    

"ob die Beteiligung von Personen in Form der Mittäterschaft an nicht systematisch begangenen Straftaten, die strafrechtlich als Vergehen zu werten sind und damit unterhalb der Verbrechensschwelle liegen, einen für § 5 ERG relevanten Verstoß darstellen, der zur Aberkennung der Ehrenpension führen muss."

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Sie versäumt es jedoch bereits, die Breitenwirkung dieser Fragen darzulegen. Rechtsfragen haben nur dann übergreifende Relevanz, wenn sie über den Einzelfall hinaus in weiteren Fällen streitig und maßgeblich für eine Vielzahl bereits anhängiger oder konkret zu erwartender gleich gelagerter Prozesse sind und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berühren (BSG SozR 1500 § 160a Nr 39; BSG SozR 1500 § 160 Nr 53 sowie BAG Beschluss vom 5.10.2010 - 5 AZN 666/10 - NJW 2011, 1099). Hierfür hätte die Klägerin substantiiert aufzeigen müssen, dass den aufgezeigten Fragen über den konkreten Einzelfall hinaus noch Bedeutung für eine Mehrzahl ähnlich gelagerter Prozesse zukommen könnte. Keinesfalls genügt es, pauschal zu behaupten, dass die Rechtsfrage "einen größeren Personenkreis betrifft, der dem Risiko der Aberkennung der Entschädigungsrente ausgesetzt ist".

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Darüber hinaus ist auch die Klärungsfähigkeit der Fragen nicht hinreichend dargelegt. Soweit die Klägerin die Frage aufwirft, ob jemand schon mit der bloßen Teilnahme an Kollegiumssitzungen des MfS gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit iS von § 5 Abs 1 ERG zurechenbar "verstoßen" haben könne, legt sie den Sachverhalt, den das LSG für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat (§ 163 SGG), jedenfalls nur unvollständig zugrunde. Denn das Berufungsgericht hat - wie aus dem zweiten Teil der ersten Frage sowie der übrigen Beschwerdebegründung hervorgeht - seine Entscheidung gerade nicht nur auf die bloße Teilnahme an den Kollegiumssitzungen, sondern auch tragend darauf gestützt, dass der Ehemann der Klägerin den dort gefassten Beschlüssen (ggf nachträglich) zugestimmt habe. Wenn die Klägerin im ersten Teil der ersten Frage dem Kollegium des MfS dennoch den Status eines "Entscheidungsgremiums" abspricht, setzt sie sich in Widerspruch zu den von ihr selbst geschilderten Feststellungen des Berufungsgerichts, wonach das Kollegium "wichtige Fragen" durch "eine demokratische Beschlussfassung nach heutigen Maßstäben" beantwortet und "einen erheblichen sachlichen Einfluss ausgeübt" habe (S 4/5 der Beschwerdebegründung). Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache scheidet jedoch aus, wenn die als rechtsgrundsätzlich bezeichnete Frage Tatsachen ausblendet, auf die das LSG sein Urteil tragend stützt. Denn das Recht kann auf der Grundlage eines Sachverhalts, den das LSG in wesentlichen Zügen abweichend festgestellt hat, nicht fortgebildet werden.

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Trägt somit schon der erste Begründungsstrang das Entscheidungsergebnis, kommt es auf die zweite Frage nicht mehr entscheidungserheblich an, weil das LSG sein Urteil mit einer kumulativen Mehrfachbegründung sowohl auf die (nachträgliche) Zustimmung des verstorbenen Rentners zu bestimmten Beschlüssen des MfS-Kollegiums (Frage 1) als auch auf die "vier Fälle der Freiheitsberaubung durch Entführung bzw. Inhaftierung von Personen auf Veranlassung bzw mit Billigung" des Rentners (S 4 der Beschwerdebegründung) gestützt hat (Frage 2).

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Überdies hat die Klägerin auch die Klärungsbedürftigkeit der zweiten Frage nicht hinreichend aufgezeigt. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht bzw das BVerfG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; s hierzu auch Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 160a RdNr 41 mwN). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG zu dem Problemkreis substantiiert vorgetragen werden, dass das BSG zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung gefällt oder durch die schon vorliegenden Urteile die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet hat (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IX RdNr 183 mwN).

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Hieran fehlt es. Die Beschwerdebegründung geht insbesondere nicht auf das Urteil des BSG vom 30.1.1997 (4 RA 23/96 - SozR 3-8850 § 5 Nr 1) ein, wonach Verstöße gegen die Menschlichkeit vorliegen und die Unwürdigkeitsklausel des § 5 Abs 1 ERG erfüllt ist, wenn der Entschädigungsrentner als staatlicher Machtinhaber "Leben, Körper, Gesundheit oder Freiheit" anderer verletzt hat, was bei einer strafrechtlichen Verurteilung wegen vierfacher Freiheitsberaubung durch Entführung bzw Inhaftierung - begangen in Leitungsfunktionen der Staatssicherheitsorgane der DDR - evident der Fall ist. Warum es angesichts dieser Rechtsprechung auf die (rein strafrechtliche) Unterscheidung zwischen Vergehen und Verbrechen ankommen könnte, erläutert die Klägerin nicht, zumal der Wortlaut des § 5 Abs 1 ERG an diese Begrifflichkeiten - anders als etwa der Ausschlusstatbestand des § 6 Abs 1 Nr 3 BEG - überhaupt nicht anknüpft.

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II. Auch die Verfahrenrügen haben keinen Erfolg. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht.

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1. Soweit die Klägerin eine überlange Verfahrensdauer rügt und Verstöße gegen Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 6 Abs 1 EMRK geltend macht, fehlt es an ausreichenden Darlegungen. Weder dem GG noch der EMRK lassen sich allgemein gültige Zeitvorgaben dafür entnehmen, wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und damit unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall (vgl BVerfGE 55, 349, 369; BVerfG Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20.9.2007 - 1 BvR 775/07 - NJW 2008, 503 und vom 24.8.2010 - 1 BvR 331/10 - NZS 2011, 384 sowie EGMR SozR 4-6020 Art 6 Nr 5 und EGMR Urteil vom 21.4.2011 - 41599/09 - FamRZ 2011, 1283). Deshalb hätte die Klägerin den Verfahrensablauf, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten sowie den Schwierigkeits- und Komplexitätsgrad des Falles detailliert darstellen und dabei aufzeigen müssen, welche Verzögerungen in welchen Zeiträumen aufgetreten und wem sie jeweils zuzurechnen sind. Keinesfalls genügt es, lediglich Beginn und Ende des Berufungsverfahrens anzugeben und aus der sich daraus ergebenden Zeitspanne (hier: 6 Jahre 2 Monate) auf eine überlange Verfahrensdauer zu schließen.

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Im Übrigen hat es die Klägerin auch versäumt darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf dem angeblichen Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 18 RdNr 13; BSG Beschlüsse vom 6.2.2008 - B 6 KA 61/07 B - Juris RdNr 8, vom 19.2.2008 - B 13 R 391/07 B - Juris RdNr 13, vom 25.2.2010 - B 11 AL 114/09 B, vom 28.2.2008 - B 7 AL 109/07 B - Juris RdNr 5, vom 29.5.2008 - B 11a AL 111/07 B - Juris RdNr 4, vom 11.3.2009 - B 6 KA 31/08 B - Juris RdNr 47, vom 13.7.2009 - B 13 R 183/09 B - BeckRS 2009, 68831 RdNr 7 und vom 11.11.2010 - B 13 R 267/10 B - RdNr 9). Denn das LSG hat seine Entscheidung (zumindest auch) tragend auf die strafrechtliche Verurteilung wegen vierfacher Freiheitsberaubung durch Entführung bzw Inhaftierung gestützt und die Beschwerdebegründung lässt offen, was der Rentner im sozialgerichtlichen Berufungsverfahren gegen diese Tatsache hätte einwenden können, wenn er nicht zwischenzeitlich verstorben wäre.

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2. Die Klägerin macht bereits keine Verfahrensmängel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend, wenn sie die angeblich fehlerhafte Besetzung der Kommission iS von § 3 des Gesetzes über das Ruhen von Ansprüchen aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen (Versorgungsruhensgesetz) vom 25.7.1991 (BGBl I 1606) beanstandet und gleichzeitig rügt, diese habe verfahrensfehlerhaft im Umlaufverfahren entschieden. Denn zu den Verfahrensmängeln zählen nur Verstöße gegen das Prozessrecht einschließlich der Vorschriften, auf die das SGG unmittelbar oder mittelbar verweist. Rügefähig sind folglich nur Fehler, die dem Gericht auf dem Weg zu seiner Entscheidung unterlaufen sind (error in procedendo; vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 445; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 160 RdNr 16a und § 144 RdNr 32; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IX RdNr 87). Mängel des behördlichen Verwaltungsverfahrens (vgl dazu BVerwG vom 17.3.1994 - 3 B 12/94 - NVwZ-RR 1995, 113) oder eine fehlerhafte Rechtsanwendung des Verwaltungsverfahrensrechts genügen dagegen nicht (error in iudicando; vgl Senatsbeschluss vom 30.11.2010 - B 5 R 176/10 B - BeckRS 2011, 65396 RdNr 13). Deshalb ist im Beschwerdeverfahren von vornherein unbeachtlich, ob die Kommission fehlerfrei besetzt war und im Umlaufverfahren entscheiden durfte. Die Klägerin verkennt, dass das BSG die Sachentscheidung des LSG keinesfalls im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, sondern erst im Rahmen einer zugelassenen Revision inhaltlich überprüfen kann (Senatsbeschluss vom 18.5.2011 - B 5 R 48/11 B).

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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

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Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.