Entscheidungsdatum: 10.09.2013
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2012 - L 12 AS 1882/11 - aufgehoben und der Rechtstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Streitig sind höhere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) nach dem SGB II in der Zeit von August 2008 bis Januar 2009.
Der 1950 geborene Kläger bewohnte eine ca 76 qm große Wohnung, für die aufgrund eines Vertrags mit der S GmbH ab 1.1.2008 Kosten in Höhe von 611,24 Euro monatlich entstanden (Grundmiete in Höhe von 432,28 Euro abzgl eines Verzichts der Vermieterin in Höhe von 45,14 Euro, Betriebskostenvorauszahlung in Höhe von 122 Euro, Kabelanschlusskosten in Höhe von 12,10 Euro, monatliche Abschlagszahlungen für Frischwasser, Entwässerung, Heizung und Warmwasser in Höhe von 90 Euro). Er bezog ab 1.8.2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Nachdem der Beklagte unter Berücksichtigung eines zunächst bestehenden Untermietverhältnisses die tatsächlich geringeren KdU übernommen hatte, forderte er den Kläger mit Schreiben vom 18.9.2007 zur Kostensenkung auf. Ab 1.3.2008 würden für seine Wohnung nur noch die angemessenen Unterkunftskosten unter Berücksichtigung des örtlichen Mietpreisniveaus von 428,85 Euro (Kaltmiete zzgl Nebenkosten) anerkannt. Entsprechend bewilligte der Beklagte für den streitigen Zeitraum vom 1.8.2008 bis 31.1.2009 SGB II-Leistungen für August 2008 in Höhe von 899,23 Euro (351 Euro Regelleistung, 479,28 Euro KdU-Anteil; 69 Euro befristeter Zuschlag) und Leistungen in Höhe von 886,28 Euro (351 Euro Regelleistung, 479,28 Euro KdU, befristeter Zuschlag in Höhe von 56 Euro) für September 2008 bis Januar 2009 (Bescheid vom 18.6.2008; Widerspruchsbescheid vom 15.4.2011).
Das SG hat den Beklagten verpflichtet, dem Kläger im streitigen Zeitraum monatlich weitere 4,74 Euro zu zahlen und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 19.9.2011). Das SG ist auf der Grundlage eigener, auf dem Mietspiegel 2007 beruhender Berechnungen davon ausgegangen, dass ein qm-Preis von 7,21 Euro (= 324,45 Euro für 45 qm) angemessen sei. Es hat dahinstehen lassen, ob die Ermittlung des vom Beklagten zugrunde gelegten Quadratmetermietpreises von 7,43 Euro (= 334,45 Euro für 45 qm) für den Vergleichsraum Münster den Anforderungen des BSG an ein schlüssiges Konzept standhalte. Die Angemessenheit des Quadratmeterpreises ergebe sich zudem aus einem Vergleich mit den Werten der rechten Spalte der Wohngeldtabelle zu § 8 Wohngeldgesetz (WoGG) in der bis zum 31.12.2008 bzw § 12 WoGG in der seit 1.1.2009 geltenden Fassung. Für Münster, das der Mietenstufe IV zugeordnet sei, ergebe sich bei einem Haushaltsmitglied ein Höchstbetrag von 358 Euro monatlich. Der Beklagte habe dem Kläger mit 428,85 Euro im streitigen Zeitraum knapp 20 % höhere Leistungen gewährt.
Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20.6.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, Streitgegenstand seien lediglich Ansprüche auf KdU, weil der Kläger den Streitstoff zulässig bereits mit der Klage hierauf beschränkt habe. Die von dem Beklagten anstelle der tatsächlichen Kosten als angemessen festgesetzten KdU-Aufwendungen in Höhe von 428,85 Euro (Bruttokaltmiete) seien nicht als zu gering zu beanstanden. Der Senat lasse dahinstehen, ob die Ermittlungen des Beklagten den Anforderungen des BSG an ein schlüssiges Konzept genügten. Ebenfalls könne offen bleiben, ob eine eigene Berechnung des SG eine ausreichende Beurteilungsgrundlage bilde, wenn der Leistungsträger dieses Berechnungsmodell nicht als "eigenes schlüssiges Konzept" annehme. Der Kläger habe auch dann keinen Anspruch auf höhere Leistungen für KdU, wenn ein schlüssiges Konzept zu verneinen wäre und dem Beklagten die Nachreichung eines solchen Konzepts im Prozess nicht gelinge. Insofern habe das SG in seinen ergänzenden Überlegungen zutreffend darauf hingewiesen, dass die angemessene Miete in diesen Fällen durch die Tabellenwerte des WoGG begrenzt werde. Für den streitigen Zeitraum von August 2008 bis Januar 2009 ergebe sich unter Berücksichtigung von § 8 bzw § 12 WoGG (in der ab 1.1.2009 geltenden Fassung) für den Kläger als einzelnes Haushaltsmitglied bei der für Münster geltenden Mietenstufe IV heranzuziehende Wert nach § 8 WoGG von 325 Euro - bei zusätzlicher Berücksichtigung eines Sicherheitszuschlags von 10 % - von 357 Euro. Der nach § 12 WoGG nF heranzuziehende Wert betrage 358 Euro. Da die vom Beklagten festgesetzten Beträge sogar weit über diesen Grenzen lägen, seien die dem Kläger im streitigen Zeitraum gewährten Leistungen der Bruttokaltmiete keinesfalls zu niedrig, vielmehr zu seinen Gunsten zu hoch festgesetzt worden.
Mit seiner vom BSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, der Beklagte habe kein schlüssiges Konzept für die Bewertung der Angemessenheit der KdU angewandt. Auch die vom erstinstanzlichen Gericht zugrunde gelegte Berechnung auf der Grundlage des Mietspiegels der Stadt Münster erscheine fehlerhaft. Das LSG habe entgegen der Rechtsprechung des BSG weder das von dem Beklagten vorgelegte Konzept noch die Berechnung des erstinstanzlichen Gerichts auf seine Schlüssigkeit überprüft, sondern sich trotz der Möglichkeit der Verschaffung einer zuverlässigen Entscheidungsgrundlage mit der Möglichkeit des Nachholens einer bislang unterbliebenen Datenerhebung und -aufbereitung auf die Tabellenwerte des WoGG gestützt.
Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2012 und des Sozialgerichts Münster vom 19. September 2011 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 18. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. April 2011 zu verurteilen, weitere Kosten der Unterkunft und Heizung vom 1. August 2008 bis 31. Januar 2009 in Höhe der Differenz zwischen den tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung und den bisher vom Beklagten gewährten Kosten der Unterkunft und Heizung zu erbringen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beklagte macht geltend, die von ihm mit monatlich 428,85 Euro festgesetzten Beträge der Bruttokaltmiete lägen weit über den Grenzen der Wohngeldtabelle. Entgegen dem Vorbringen des Klägers sei das SG gerade nicht von den "unteren Werten" des Mietspiegels ausgegangen, weil das erstinstanzliche Gericht sowohl den Mietspiegel als auch die Dokumentation zum Mietspiegel herangezogen habe.
Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG).
Streitgegenstand sind höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 1.8.2008 bis 31.1.2009 als der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 18.6.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.4.2011 festgelegt hat. Der Kläger hat den Streitgegenstand zulässigerweise auf die Leistungen der Unterkunft und Heizung beschränkt. Bei diesen handelt es sich um abtrennbare Verfügungen des Gesamtbescheids (stRspr seit BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 18f). Dies gilt zumindest für laufende Verfahren über vor dem 1.1.2011 abgeschlossene Bewilligungsabschnitte (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 46, RdNr 11; BSGE 110, 52 ff = SozR 4-4200 § 22 Nr 51, RdNr 11).
Zwar ist der Kläger Berechtigter iS des § 7 Abs 1 SGB II, weil er im streitigen Zeitraum das 15. Lebensjahr, nicht jedoch die Altersgrenze nach § 7a SGB II erreicht hatte (§ 7 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB II) und dem Gesamtzusammenhang der Ausführungen des LSG zu entnehmen ist, dass er erwerbsfähig (§ 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II) und hilfebedürftig (§ 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB II) war sowie auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte (§ 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II). Ob der Kläger in dem streitigen Zeitraum vom 1.8.2008 bis 31.1.2009 höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung beanspruchen konnte, kann der Senat schon deshalb nicht abschließend beurteilen, weil tatsächliche Feststellungen des LSG zur Festlegung der angemessenen Unterkunftskosten fehlen (§ 163 SGG).
Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind (vgl § 22 Abs 1 S 1 SGB II). Der Begriff der "Angemessenheit" unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle. Zur Festlegung der abstrakt angemessenen Leistungen für die Unterkunft ist zunächst die angemessene Wohnungsgröße und der maßgebliche örtliche Vergleichsraum zu ermitteln. Angemessen ist eine Wohnung nur dann, wenn sie nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entspricht und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist, wobei es genügt, dass das Produkt aus Wohnfläche und Standard, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, angemessen ist (BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 24; BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 27
Zwar reichen die Feststellungen des LSG zur angemessenen Wohnfläche im hier streitigen Zeitraum und zum maßgeblichen Vergleichsraum, nicht jedoch diejenigen zum Fehlen eines tragfähigen schlüssigen Konzepts des Beklagten und zum Erkenntnisausfall bei der Ermittlung der Höhe der angemessenen Unterkunftskosten. Nach seinen rechtlichen Ausführungen ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass bereits dann auf die Werte des WoGG zurückge-griffen werden kann, wenn der von dem Grundsicherungsträger berücksichtigte Wert für die Grundmiete und die Betriebskosten über den Beträgen nach § 8 WoGG liegt. Von diesem recht-lichen Standpunkt hat das LSG keine eigenen Feststellungen zum schlüssigen Konzept des Beklagten für die Stadt Münster vorgenommen und sich auch nicht - etwa durch Bezugnahme auf die Feststellungen und Wertungen des SG - dessen Überlegungen zu eigen gemacht. Anders als das SG, das die von dem Beklagten als angemessen angesehenen Werte durch eigene Berechnungen für Münster anhand eigener Berechnungen nach dem Mietspiegel verifiziert hat, hat das Berufungsgericht ausdrücklich keine eigene Prüfung vorgenommen. Für eine Überprüfung des Anspruchs durch das BSG fehlt es aus diesem Grund an den notwendig im Berufungsurteil zu treffenden Feststellungen (§ 163 SGG).
Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG haben entschieden, dass ein Rückgriff auf die Werte des WoGG - zur Festlegung ausschließlich der abstrakt angemessenen Kosten der Unterkunft im Sinne einer Obergrenze - nur dann zulässig ist, wenn nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen Erkenntnismöglichkeiten und -mittel zur Festlegung der von dem SGB II-Träger zu tragenden angemessenen Aufwendungen der Unterkunft nach einem schlüssigen Konzept nicht mehr vorhanden sind. Zwar hat der erken-nende Senat für den Fall des Ausfalls von lokalen Erkenntnismöglichkeiten aufgrund von feh-lenden Ermittlungen des Grundsicherungsträgers eine Begrenzung der Amtsermittlungspflicht der Sozialgerichte für zulässig erachtet und ausdrücklich betont, dass es im Wesentlichen Sache der Grundsicherungsträger sei, für ihren Zuständigkeitsbereich ein schlüssiges Konzept zu ermitteln (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 27
Erst wenn Feststellungen zu den abstrakt angemessenen Kosten der Unterkunft iS des § 22 Abs 1 S 1 SGB II nicht mehr möglich sind, kann ein Rückgriff auf die Werte der Wohngeldtabelle erfolgen. Wegen der dann nur abstrakten, vom Einzelfall und den konkreten Umständen im Vergleichsraum losgelösten Begrenzung ist zur Bestimmung der angemessenen Nettokaltmiete zuzüglich der kalten Betriebskosten nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bei § 8 WoGG auf den jeweiligen Höchstbetrag der Tabelle zurückzugreifen und ein "Sicherheitszuschlag" von 10 vH einzubeziehen (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 29 RdNr 27 im Anschluss an BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3, RdNr 23; BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 59
Der Senat folgt dem Berufungsgericht darin, dass nicht bereits die Kostensenkungsaufforderung des Beklagten zur Übernahme der tatsächlichen KdU wegen Unmöglichkeit bzw Unzumutbarkeit einer Kostensenkung führt. Soweit die tatsächlichen Aufwendungen des Leistungsberechtigten für seine Unterkunft die angemessene Referenzmiete überschreiten, sind diese solange zu berücksichtigen, wie es ihm konkret nicht möglich oder nicht zumutbar ist, durch Anmietung einer als angemessen eingestuften Wohnung, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate (§ 22 Abs 1 S 3 SGB II idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 BGBl I 1706). Der Beklagte hat den Kläger mit dem Schreiben vom 18.9.2007 durch Angabe der aus seiner Sicht angemessenen Mietobergrenze von 428,85 Euro sowie über die bestehende Rechtslage hinreichend informiert. Dies ist ausreichend. Wie die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG bereits entschieden haben, stellt § 22 Abs 1 S 3 SGB II keine über eine Aufklärungs- und Warnfunktion hinausgehenden Anforderungen (BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 29; BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 7 RdNr 20 ff; BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.