Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 21.03.2013


BSG 21.03.2013 - B 3 KR 37/12 B

Krankenversicherung - Hilfsmittelversorgung - Erforderlichkeit der CPM-Bewegungstherapie unter Einsatz der Schulterbewegungsschiene - gerichtliche Sachaufklärungspflicht - Verfahrensfehler - Nichtzulassungsbeschwerde - Zurückverweisung


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsdatum:
21.03.2013
Aktenzeichen:
B 3 KR 37/12 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Koblenz, 30. Juni 2009, Az: S 14 KR 212/07, Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 18. Oktober 2012, Az: L 5 KR 350/11, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. Oktober 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Anmietung einer fremdkraftbetriebenen Schulterbewegungsschiene (CPM-Schiene, CPM = continuous passive motion, dh kontinuierliche passive Bewegung) gemäß § 13 Abs 3 SGB V.

2

Die 1944 geborene Klägerin erlitt am 15.11.2006 einen Bruch des - durch eine Inaktivitätsosteoporose (Zustand nach Plexusfibrose, Bestrahlung wegen Mamma-Karzinoms links) und eine Osteopenie (altersbedingte Abnahme des Knochengewebes) ohnehin geschwächten - linken Oberarmes (subkapitale Humerusfraktur), der noch am gleichen Tag operativ versorgt wurde (offene Reposition und Retention mittels winkelstabiler Humeruskopfplatte). Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus (17.11.2006) trug die Klägerin insgesamt 30 Tage lang einen der Ruhigstellung des Armes dienenden Gilchrist-Verband, davon die letzten 20 Tage nur nachts. Bis zum Fadenzug am zehnten postoperativen Tag erfolgten Zentrierungsübungen bei freiem Ellenbogen und anschließend für 20 Tage Pendelübungen. Danach erhielt sie krankengymnastische Leistungen. Für insgesamt 40 Tage sollte eine Belastung des linken Armes strikt vermieden werden.

3

In der Zeit vom 14. bis zum 27.12.2006 führte die Klägerin auf Empfehlung ihres Arztes Dr. S. (Facharzt für Chirurgie - Unfallchirurgie, Leitender Arzt des ambulanten Rehazentrums K.) eine ambulante CPM-Bewegungstherapie mit täglich drei Übungseinheiten von jeweils 30 Minuten Dauer durch, um die Beweglichkeit des gebrochenen Armes zu fördern. Ihren Antrag, die Mietkosten der dazu erforderlichen, von Dr. S. vertragsärztlich verordneten CPM-Schiene zu übernehmen, lehnte die beklagte Krankenkasse ab, weil die CPM-Bewegungstherapie im häuslichen Bereich, also ohne Anwesenheit eines Arztes oder Physiotherapeuten, mangels nachweisbaren therapeutischen Nutzens medizinisch nicht erforderlich sei. Vorzuziehen sei eine kontinuierliche Heilmitteltherapie (zB Krankengymnastik) und die regelmäßige selbsttätige Durchführung erlernter Übungen (Bescheid vom 13.12.2006, Widerspruchsbescheid vom 5.6.2007). Nach Zugang des Ablehnungsbescheids mietete die Klägerin die CPM-Schulterbewegungsschiene am 14.12.2006 von der Ormed GmbH & Co KG an, deren Vertreter sie in die Handhabung einwies. Nach Beendigung der CPM-Therapie gab sie das Hilfsmittel zurück und beglich die Mietkosten in Höhe von 150 Euro (Rechnung vom 27.12.2006).

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Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30.6.2009). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 18.10.2012). Es hat sich dabei im Wesentlichen auf das Sozialmedizinische Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 25.6.2012 gestützt (erstellt vom Arzt im MDK G.). Der Einsatz der Schulterbewegungsschiene sei nicht erforderlich gewesen, weil nicht das Schultergelenk, sondern der Oberarmknochen unterhalb des Gelenks operativ versorgt worden sei. Aufgrund der Art des Eingriffs sei nicht ernsthaft mit einer Arthrofibrose (Gelenkversteifung der Schulter) zu rechnen gewesen. Eine Übungsbehandlung unter krankengymnastischer Aufsicht wäre zweckmäßig und ausreichend gewesen; eine krankengymnastische Behandlung habe in der fraglichen Zeit auch an drei Tagen (20., 22. und 27.12.2006) stattgefunden. Die Begründung von Dr. S. für den Einsatz der CPM-Schiene, eine Heilmitteltherapie oder eigenständige Übungen seien damals wegen erheblicher Schmerzen ausgeschlossen gewesen, überzeuge nicht, zumal die Klägerin mit Schmerzmitteln behandelt worden sei. Der Einholung eines Gutachtens von Amts wegen bedürfe es nicht, weil der Sachverhalt ausreichend aufgeklärt sei.

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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 18.10.2012 richtet sich die Beschwerde der Klägerin vom 5.12.2012, die sie mit Verfahrensfehlern begründet (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

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II. Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Das Rechtsmittel führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zwecks erneuter Verhandlung und Entscheidung des Berufungsverfahrens.

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1. Die erhobene Verfahrensrüge der Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) ist begründet, weil das LSG einen Beweisantrag der Klägerin zu Unrecht abgelehnt hat. Zugleich mit der Erklärung ihres Einverständnisses zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) hat die Klägerin in ihrem Schriftsatz an das LSG vom 14.9.2012 beantragt, ein Sachverständigengutachten zu ihrer Behauptung einzuholen, die CPM-Bewegungstherapie mit der motorkinetischen Schulterbewegungsschiene sei medizinisch erforderlich gewesen und werde durch Krankengymnastik nur ergänzt, könne aber durch Krankengymnastik nicht völlig ersetzt werden. Beide Maßnahmen hätten einen unterschiedlichen therapeutischen Ansatz. Zur Zweckmäßigkeit der CPM-Bewegungstherapie hatte die Klägerin im Berufungsverfahren umfangreich vorgetragen und schon mit Schriftsatz vom 9.8.2012 die Einholung eines Sachverständigengutachtens ua zu ihrer Behauptung beantragt, aufgrund der vergleichbaren Umstände der operativen Versorgung eines Oberarmbruches und der Bewegungseinschränkungen sei der Einsatz der Schulterbewegungsschiene nicht nur bei einem unmittelbaren Eingriff am Schultergelenk selbst, sondern auch hier notwendig gewesen, weil eine Gelenkversteifung der Schulter gedroht habe. Dieses Vorbringen hat die Klägerin der Sache nach trotz ihres Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) bis zum Ende des Berufungsverfahrens aufrechterhalten; ansonsten wäre ihr Vorbringen im letzten Schriftsatz vom 14.9.2012 auch nicht verständlich gewesen. Das LSG ist zutreffend ebenfalls davon ausgegangen, die Klägerin begehre weiterhin die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Erforderlichkeit der CPM-Bewegungstherapie unter Einsatz der Schulterbewegungsschiene; dies ergibt sich aus dem Hinweis in den Entscheidungsgründen, der Einholung eines Gutachtens von Amts wegen bedürfe es nicht, weil der Sachverhalt ausreichend aufgeklärt sei.

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2. Die Ablehnung der weiteren Sachaufklärung (§ 103 SGG) erweist sich als verfahrensfehlerhaft. Das LSG durfte sich nicht allein auf die Stellungnahme des MDK-Arztes G. vom 25.6.2012 stützen, der die Erforderlichkeit des Einsatzes der CPM-Schulterbewegungsschiene verneint hat.

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Es geht hier nicht um den Einzelfall betreffende medizinische Fragen, sondern um generelle Tatsachen: 1) Entspricht der Einsatz der CPM-Schulterbewegungsschiene zur Mobilisierung des Schultergelenks auch bei einem operativ versorgten Oberarmbruch generell oder zumindest bei einer an Osteoporose/Osteopenie leidenden Patientin dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse selbst oder ist die CPM-Bewegungstherapie nur bei Eingriffen am Schultergelenk sinnvoll? 2) Macht der konsequente Einsatz krankengymnastischer Maßnahmen die CPM-Bewegungstherapie ggf überflüssig oder ergänzen sich beide Behandlungsformen?

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Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 15.3.2012 (B 3 KR 2/11 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 38) eingehende Ausführungen zum Umfang der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht bei Fragen zum allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse im Bereich der Hilfsmittelversorgung (§ 33 SGB V) gemacht. Auf diese Ausführungen kann hier verwiesen werden. Eine Begutachtung der Beweisfrage anhand der aktuellen Studienlage ist danach unverzichtbar.

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3. Ergänzend bleibt anzumerken: Sollte die Behandlungsform im stationären Bereich dem heutigen medizinischen Standard entsprechen, wäre für den hier interessierenden ambulanten Einsatz der CPM-Schulterbewegungsschienen eine Prüfung nach § 135 SGB V entbehrlich, wenn keine "neue Behandlungsmethode" im Sinne dieser Vorschrift, sondern lediglich eine Anwendungsvariante vorliegen würde. Dass die Übungen im Krankenhaus unter ärztlicher oder physiotherapeutischer Kontrolle stattfinden, während sie im ambulanten Bereich von den Versicherten nach den konkreten Anweisungen des Arztes weitgehend allein durchgeführt werden, macht die Behandlungsform im ambulanten Bereich möglicherweise nicht zu einer neuen Behandlungsmethode iS des § 135 SGB V, weil sich die Methodik bzw der therapeutische Ansatz gerade nicht ändert. Ob ein Versicherter tatsächlich in der Lage ist, die ärztlichen Anweisungen umzusetzen und das Gerät nach einer eingehenden Unterweisung durch den Hilfsmittellieferanten sachgerecht zu bedienen, muss der verordnende Arzt im Einzelfall im Rahmen seiner Therapiefreiheit und ärztlichen Verantwortung entscheiden. Sollte die Behandlungsform hingegen als eigenständige neue Behandlungsmethode zu qualifizieren sein, wäre der Anwendungsbereich des § 135 SGB V betroffen. Es könnte sich anbieten, zur Abgrenzung eine Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses einzuholen und diesen ggf dann auch beizuladen.

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4. Im erneut durchzuführenden Berufungsverfahren wird zudem zu klären sein, ob der Kostenerstattungsanspruch 150 Euro oder nur 140 Euro beträgt. Die Klägerin hat eine Eigenbeteiligung von 10 Euro in Ansatz zu bringen, wenn sie im Falle einer Sachleistungsversorgung eine Zuzahlung von 10 Euro (§ 33 Abs 8 SGB V) hätte tragen müssen, sie von der Zuzahlungspflicht also nicht befreit war (§ 62 SGB V). Der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als der entsprechende Sachleistungsanspruch.

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5. Über die Frage der Kostenerstattung im Beschwerdeverfahren wird das LSG im Zuge des erneut durchzuführenden Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.