Entscheidungsdatum: 31.08.2017
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Januar 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache darüber, ob eine Berufskrankheit nach Nr 2106 ("Druckschädigung der Nerven") der Anl 1 zur BKV (BK 2106) festzustellen ist und der Kläger Verletztenrente beanspruchen kann.
Der Kläger war als Bergmann unter Tage Druckeinwirkungen ausgesetzt, die potentiell nervenschädigend waren. Seine Anträge auf Feststellung und Entschädigung einer BK 2106 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 29.8.2013 und Widerspruchsbescheid vom 17.4.2014), nachdem sie das nervenärztliche Verwaltungsgutachten nebst Zusatzgutachten aus einem Parallelverfahren betreffend die BK 2104 ("Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen …") beigezogen und ausgewertet hatte. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9.8.2016); das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Beschluss vom 24.1.2017): Es fehle der Vollbeweis einer "Druckschädigung der Nerven", wie die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden und das SG in dem angegriffenen Urteil gestützt auf das Ergebnis des nervenärztlichen Verwaltungsgutachtens zutreffend dargelegt hätten. Hierauf nehme der Senat Bezug und sehe von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG vom 24.1.2017 rügt der Kläger die Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG). Er macht insbesondere geltend, das LSG hätte das von ihm beantragte nervenärztliche Gutachten einholen müssen.
II. Die zulässige Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG ist begründet. Die formgerecht (§ 103 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG) gerügte Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht liegt vor.
Dem im angegriffenen Beschluss wiedergegebenen, bis zuletzt aufrechterhaltenen und hinreichend konkreten Beweisantrag des unvertretenen Klägers, für den die erhöhten Anforderungen an Präzisierung und Formulierung eines prozessordnungskonformen Beweisantrags nicht in vollem Umfang gelten (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5 und Nr 13 RdNr 11; BVerfG SozR 3-1500 § 160 Nr 6 S 14; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 733), ist das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Dabei ist unerheblich, ob es die Ablehnung des Beweisantrags hinreichend begründet hat, sondern es kommt allein darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit BSG Beschluss vom 31.7.1975 - 5 BJ 28/75 - SozR 1500 § 160 Nr 5; vgl zuletzt Senatsbeschluss vom 30.3.2017 - B 2 U 181/16 B - Juris RdNr 7 mwN). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 48/08 B - Juris RdNr 8), insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (Senatsbeschluss aaO).
Ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung hätte sich das LSG aus objektiver Sicht gedrängt fühlen müssen, ein nervenärztliches Sachverständigengutachten zum Vorliegen bzw Nichtvorliegen von Nervenschäden im Bereich der Arme und eventuell auch der unteren Extremitäten sowie ggf zur haftungsbegründenden Kausalität zwischen den berufsbedingten Druckeinwirkungen und den Nervenschäden beizuziehen. Soweit das LSG die "Einholung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen … nicht für erforderlich" hält, übersieht es bereits, dass weder im Klage- noch im Berufungsverfahren ein Sachverständigengutachten von Amts wegen erstattet worden ist. SG und LSG stützen ihre Entscheidungen ausschließlich auf das Verwaltungsgutachten des Neurologen Prof. Dr. T. vom 29.10.2013 nebst elektromyografischen und elektroneurografischen Zusatzgutachten, die im Verwaltungsverfahren zur Feststellung einer BK nach Nr 2104 (Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können) erstattet worden sind. Auf der Grundlage dieser Gutachten durfte das LSG indes nicht davon ausgehen, das Fehlen eines (druckbedingten) Nervenschadens sei bereits erwiesen. Denn das neurologische Hauptgutachten sowie die elektromyografischen und elektroneurografischen Zusatzgutachten sind in einem völlig anderen Kontext (BK 2104) differentialdiagnostisch zu "Durchblutungsstörungen an den Händen" erstellt worden und konnten schon deshalb nicht alle potentiellen Nervendruckschäden erfassen, die nach dem Wortlaut der BK 2106 prinzipiell in allen Körperregionen (und nicht nur "an den Händen") auftreten können. Schon deshalb war weitere Sachaufklärung durch Einholung eines nervenärztlichen Sachverständigengutachtens von Amts wegen geboten. Im Übrigen hätten die Verwaltungsgutachten vorliegend nur dann alleinige Grundlage der gerichtlichen Entscheidungen sein können, wenn der Kläger in die Übermittlung und Nutzung seiner hochsensiblen Sozialdaten (§ 35 Abs 1 S 1 SGB I; § 67 Abs 1 und Abs 12 SGB X) an das SG und LSG schriftlich eingewilligt (§ 67b Abs 2 S 3 SGB X) hätte, weil die gesetzliche Übermittlungsbefugnis in § 69 Abs 1 Nr 2 SGB X nur für die Übermittlung von Verwaltungsgutachten für ein dieses Verwaltungsverfahren betreffendes Gerichtsverfahren gilt.
Bei dieser Sachlage ist in Übereinstimmung mit dem Vorbringen des Klägers nicht auszuschließen, dass die beantragte Zuziehung eines nervenärztlichen Sachverständigengutachtens nicht nur den Vollbeweis eines Nervenschadens, sondern auch überzeugende Anhaltspunkte für die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen den beruflichen Druckeinwirkungen und dem Nervenschaden erbracht hätten, die ihrerseits zur Feststellung einer BK 2106 und zur Gewährung einer Stützrente nach einer MdE von 10 vH geführt hätten.
Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.