Entscheidungsdatum: 24.11.2011
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 6. Oktober 2010 sowie der Bescheid des Beklagten vom 15. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2009 geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin höheres Sozialgeld zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zur Hälfte.
Die Beteiligten streiten im Hinblick auf die Höhe der von dem Beklagten im April 2009 zu erbringenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) darum, in welchem Umfang Einkommen der Klägerin zu berücksichtigen ist.
Die nicht erwerbsfähige Klägerin bezieht seit 2005 Leistungen nach dem SGB II. Sie lebt in einem Haushalt mit ihrer 1993 geborenen, erwerbsfähigen Tochter und ihrem 1996 geborenen Sohn. Seit November 2008 war die Klägerin als Aushilfskraft beschäftigt, das Einkommen aus dieser Tätigkeit floss ihr im Folgemonat zu. Sie kündigte Anfang März 2009 das Arbeitsverhältnis fristlos.
Mit einem Änderungsbescheid vom 15.4.2009 berücksichtigte der Beklagte nach Einreichung der Lohnabrechnung das tatsächlich für den Monat März erzielte Einkommen der Klägerin in Höhe von 61,12 Euro. Dabei setzte er ein bereinigtes Einkommen in Höhe von 31,12 Euro an und bewilligte der Klägerin Leistungen für April 2009 in Höhe von 677,48 Euro. Die Klägerin machte demgegenüber geltend, Einkommen aus Erwerbstätigkeit sei nach Abzug des Grundfreibetrags bei ihr nicht zu berücksichtigen. Der Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin zurück, weil diese nicht erwerbsfähig sei und ihr daher der gesetzliche Freibetrag in Höhe von 100 Euro monatlich nicht zustehe (Widerspruchsbescheid vom 19.5.2009).
Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom 6.10.2010 abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, es liege keine Verletzung des Gleichheitssatzes vor. Ziel der Freibetragsregelungen nach dem SGB II sei es, Hilfebedürftigen Anreize zur Wiederaufnahme oder zur Weiterführung einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bieten. Die Differenzierung nach der Erwerbsfähigkeit sei sachgerecht, da die Eingliederung nicht erwerbsfähiger Personen in den allgemeinen Arbeitsmarkt in der Regel von vornherein nicht erreicht werden könne. Das SG hat in seinem Urteil die Sprungrevision zugelassen, die die Klägerin eingelegt hat.
Sie macht geltend, der Gesetzgeber habe nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige planwidrig von den Freibetragsregelungen des SGB II ausgenommen. Auch Nichterwerbsfähige könnten mit ihrem Einkommen zum Unterhalt der Bedarfsgemeinschaft beitragen. Daher liege es nahe, auch die Freibeträge nach § 11 Abs 2 Satz 2 iVm § 30 SGB II zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 6. Oktober 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 15. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2009 zu verurteilen, ihr höheres Sozialgeld ohne Berücksichtigung von Erwerbseinkommen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die fristgerecht eingelegte und auch ansonsten zulässige Revision der Klägerin (§§ 161, 164 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) ist begründet (§ 170 Abs 2 SGG). Die Klägerin hat Anspruch auf höheres Sozialgeld (§ 28 SGB II), denn die Freibetragsregelung nach § 82 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) ist im vorliegenden Fall entsprechend anzuwenden.
1. Der Rechtsstreit wird nur von der anwaltlich vertretenen Klägerin selbst geführt, denn nur sie hat Revision eingelegt und es geht nach ihrem Vortrag auch allein um ihre Ansprüche.
Das beklagte Jobcenter ist gemäß § 70 Nr 1 SGG beteiligtenfähig. Bei dem Jobcenter (§ 6d SGB II idF des Gesetzes vom 3.8.2010, BGBl I 1112) handelt es sich um eine gemeinsame Einrichtung (§ 44b Abs 1 Satz 1 SGB II, ebenfalls idF des Gesetzes vom 3.8.2010), die mit Wirkung vom 1.1.2011 kraft Gesetzes entstanden und im Laufe des gerichtlichen Verfahrens als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisher beklagten Arbeitsgemeinschaft (vgl § 76 Abs 3 Satz 1 SGB II) getreten ist. Dieser kraft Gesetzes eingetretene Beteiligtenwechsel wegen der Weiterentwicklung der Organisation des SGB II stellt keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung dar. Das Passivrubrum war daher von Amts wegen zu berichtigen (vgl dazu insgesamt Bundessozialgericht
2. Gegenstand des Verfahrens ist allein der zuletzt noch angefochtene Bescheid des Beklagten vom 15.4.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.5.2009, mit dem der Beklagte über die Leistungen der Klägerin für April 2009 ohne Abzug eines Freibetrags vom Erwerbseinkommen entschieden hat. Die Klägerin, die höheres Sozialgeld ohne Berücksichtigung von Erwerbseinkommen begehrt, ist dagegen zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) vorgegangen.
3. Die Klägerin unterfällt dem Leistungsrecht des SGB II, obwohl sie selbst nach den Feststellungen des SG (§ 163 SGG) erwerbsunfähig ist, denn sie bildet mit ihren beiden minderjährigen Kindern eine Bedarfsgemeinschaft (vgl Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 41 RdNr 9). Erwerbsfähige Hilfebedürftige gemäß § 7 Abs 3 Nr 1 SGB II ist dabei die 1993 geborene Tochter. Über § 7 Abs 3 Nr 2 SGB II gehört die Klägerin damit ebenso zur Bedarfsgemeinschaft wie ihr Sohn über § 7 Abs 3 Nr 4 iVm Nr 2 SGB II.
4. Die Klägerin hat Anspruch auf höheres Sozialgeld als von dem Beklagten ermittelt worden ist. Der Beklagte hat auf den monatlichen Bedarf der Klägerin in Höhe von 693,34 Euro zu Unrecht 15,86 Euro als Einkommen aus Erwerbstätigkeit angerechnet, ohne einen Freibetrag zu berücksichtigen. Zwar kann die Klägerin nicht den Grundfreibetrag nach § 11 Abs 2 Satz 2 SGB II verlangen, ihr steht jedoch ein Freibetrag nach § 82 Abs 3 SGB XII zu, der hier entsprechend anzuwenden ist.
Das SG hat zutreffend entschieden, dass vom Einkommen der Klägerin aus Erwerbstätigkeit kein Grundfreibetrag nach § 11 Abs 2 Satz 2 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen ist. Dieser Freibetrag steht nur erwerbsfähigen Hilfebedürftigen mit Erwerbseinkommen zu (vgl BSG Urteil vom 30.9.2008 - B 4 AS 57/07 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 16 RdNr 33). Die nach den Feststellungen des SG nicht erwerbsfähige Klägerin kann daher ungeachtet der Tatsache, dass sie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, diesen Freibetrag nicht beanspruchen.
Als nicht erwerbsfähige Person würde die Klägerin aber - soweit sie die Voraussetzungen des § 41 Abs 3 SGB XII erfüllt - Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII erhalten. Dabei ist gemäß § 82 Abs 3 SGB XII (idF des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006, BGBl I 2670) bei der Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung neben den Absetzbeträgen nach § 82 Abs 2 SGB XII, die ähnlich denen des § 11 Abs 2 Satz 1 SGB II ausgestaltet sind, ein Betrag in Höhe von 30 vH des Einkommens aus selbstständiger und nichtselbstständiger Tätigkeit des Leistungsberechtigten abzusetzen, höchstens jedoch 50 vH des Eckregelsatzes. Damit sieht die gesetzgeberische Konzeption im SGB XII vor, auch für nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Anreiz zur Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit durch Aufnahme einer ihren Möglichkeiten entsprechenden Erwerbstätigkeit zu schaffen (vgl BT-Drucks 16/2711 S 12).
Diese Freibetragsregelung kann bei der Klägerin nur deshalb nicht berücksichtigt werden, weil sie nicht alleinstehend ist, sondern über ihre über 15-jährige erwerbsfähige Tochter der Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II angehört. Die Freibeträge, die dieses Leistungssystem bietet, bleiben der Klägerin aber ebenfalls verschlossen, weil sie nicht erwerbsfähig ist. Da somit in beiden Existenzsicherungssystemen für die Anrechnung von Erwerbseinkommen Freibeträge vorgesehen sind, kann die Klägerin nicht nur deshalb schlechter behandelt werden, weil sie als nicht Erwerbsfähige in das Leistungssystem des SGB II einbezogen wird. Insofern besteht eine planwidrige Gesetzeslücke.
Dass die fehlende Berücksichtigung der Personengruppe, der die Klägerin angehört, im Regelungskonzept des Gesetzgebers nicht beabsichtigt war, zeigt auch die Einfügung des § 1 Abs 1 Nr 9 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung, durch den - neben den in § 11 Abs 3 SGB II genannten Einnahmen - bei Sozialgeldempfängern, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Einnahmen aus Erwerbstätigkeit, soweit diese einen Betrag von 100 Euro monatlich nicht übersteigen, nicht als Einkommen angerechnet werden. Danach bliebe allein die Personengruppe, der die Klägerin angehört, nämlich über 15-jährige erwerbsunfähige Hilfebedürftige, die über einen Familienangehörigen in das Leistungssystem des SGB II hineingezogen werden, von der Möglichkeit der Geltendmachung eines anrechnungsfreien Betrages ausgeschlossen. Diese Konsequenz ist mit dem Gleichheitsgebot des Art 3 Grundgesetz nicht vereinbar.
Die bestehende Regelungslücke ist vielmehr durch eine entsprechende Anwendung des § 82 Abs 3 SGB XII zu schließen. Die Personengruppe nicht erwerbsfähiger Sozialgeldbezieher nach dem SGB II steht den vom Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII erfassten Personengruppen näher als der Gruppe der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Die entsprechende Anwendung der Vorschriften des SGB XII berücksichtigt zum einen die Anreizfunktion und motiviert zu einer fähigkeitsgerechten Annäherung an den Arbeitsmarkt, gleichzeitig wirkt sie aber wegen der Grenze des § 82 Abs 3 Satz 1 SGB XII der Gefahr einer gesundheitlichen Überforderung aus finanziellen Beweggründen entgegen.
Der sich aus der entsprechenden Anwendung des § 82 Abs 3 Satz 1 SGB XII ergebende Freibetrag ist von "dem Einkommen", also von dem Bruttoeinkommen, zu berechnen (s auch Schmidt in jurisPK-SGB XII, § 82 RdNr 67 mwN). Der Absetzbetrag bestimmt sich damit wie in § 30 SGB II aF und § 11b Abs 3 SGB II nF - unabhängig von den übrigen "personenbezogenen" Absetzbeträgen. Diese sind - soweit sie konkret anfallen - zunächst gesondert zu berücksichtigen (vgl BSG Urteil vom 15.4.2008 - B 14/7b AS 58/06 R - SozR 4-4200 § 9 Nr 5 RdNr 46).
Der Beklagte wird das Sozialgeld der Klägerin nach den genannten Vorgaben neu zu berechnen haben. Durch den Abzug eines Freibetrags vom Erwerbseinkommen ergibt sich in jedem Fall ein höheres Sozialgeld für die Klägerin. Ob ihr Erwerbseinkommen im Ergebnis überhaupt nicht berücksichtigt werden muss, wie die Klägerin meint, hängt von der konkreten Berechnung unter Berücksichtigung des Freibetrags nach § 82 Abs 3 Satz 1 SGB XII und weiteren Absetzbeträgen ab.