Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 23.04.2013


BGH 23.04.2013 - 5 StR 617/12

Anordnung der Sicherungsverwahrung: Anwendung der Weitergeltungsanordnung des BVerfG nach Inkrafttreten der neuen bundesgesetzlichen Regelung


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
23.04.2013
Aktenzeichen:
5 StR 617/12
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend LG Berlin, 12. Juli 2012, Az: (539) 9 Ju Js 1917/10 KLs (73/11)
Zitierte Gesetze
SichVAbstUmsG

Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Juli 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

– Von Rechts wegen –

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person, und wegen sexuellen Missbrauch eines Kindes in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die vom Generalbundesanwalt vertretene, auf die Nichtanordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wirksam beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

2

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

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1. Der Angeklagte und seine damalige Lebensgefährtin, die Zeugin S.   P.    , waren mit der Mutter der am 27. April 1995 geborenen Nebenklägerin      F.    übereingekommen, dass die Nebenklägerin während der Nachtschichten ihrer Mutter bei ihnen übernachten durfte. Während der Übernachtungsbesuche der Nebenklägerin, die von März bis Mai 2007 stattfanden, kam es in vier Fällen dazu, dass der Angeklagte sich dem Kind, das zumeist bei ihm im Wohnzimmer auf der Couch schlief, sexuell näherte. Dabei drang er jeweils mit einem Finger in die Scheide der Nebenklägerin ein.

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Die am 4. Januar 2001 geborene Zeugin     W.    war mit der Tochter des Angeklagten J.   P.    sowie seinem Stiefsohn F.   P.    befreundet. Nach der Trennung des Angeklagten von der Zeugin S.   P.     kam es im Zeitraum von Herbst 2009 bis zur Festnahme des Angeklagten am 12. Dezember 2011 zu einer Vielzahl von gemeinsamen Übernachtungsbesuchen der drei Kinder bei dem Angeklagten. Die Kinder teilten sich dabei jeweils das Bett im Schlafzimmer des Angeklagten. In drei Fällen legte sich der Angeklagte neben die Zeugin W.     und nahm im Beisein der schlafenden Kinder J.    und F.     sexuelle Handlungen an ihr vor (Streicheln am unbedeckten Geschlechtsteil des Kindes, Lecken zwischen den Schamlippen, Schenkelverkehr).

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2. Das Landgericht hat die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB im Hinblick auf einschlägige Vorverurteilungen des Angeklagten bejaht.

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Er war bereits am 11. August 1992 durch das Landgericht Berlin wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden, die vollständig vollstreckt wurde. Gegenstand der Verurteilung waren von Sommer 1991 bis Februar 1992 begangene Missbrauchstaten zum Nachteil der damals zwölfjährigen Stieftochter aus seiner zur Tatzeit bereits mehrere Jahre geschiedenen zweiten Ehe sowie zum Nachteil der achtjährigen Tochter einer befreundeten Familie. Alle Taten ereigneten sich bei Übernachtungen der Kinder in seiner Wohnung oder bei Übernachtungen des Angeklagten bei der befreundeten Familie. In einigen Fällen versuchte der Angeklagte, mit seinem Glied in die Scheide des jeweiligen Kindes einzudringen, was ihm zumindest bis in den Scheidenvorhof gelang.

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Am 14. September 1999 war der Angeklagte erneut wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden, die er wiederum vollständig verbüßte. Die im Zeitraum November 1998 bis März 1999 begangenen Taten richteten sich gegen die beiden elf und zwölf Jahre alten Töchter zweier befreundeter Familien. Auch hier nutzte der Angeklagte jeweils Übernachtungsbesuche der Kinder in seiner Wohnung für sexuelle Handlungen aus. Dabei kam es jeweils auch zum vaginalen Geschlechtsverkehr.

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3. Die sachverständig beratene Strafkammer ist zu dem Schluss gekommen, dass bei dem Angeklagten ein Hang bestehe, „seinen Geschlechtstrieb in strafbarer Weise mit präpubertären Mädchen zu befriedigen“ (UA S. 59). Die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung hat sie gleichwohl verneint, da es – gemessen an dem nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) anzulegenden strengen Prüfungsmaßstab – an der erforderlichen Prognose schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten fehle, die den Angeklagten für die Allgemeinheit gefährlich machten. Sie stellt dabei maßgeblich auf Umstände des Einzelfalls ab.

II.

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Diese Begründung für das Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

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1. Im Ansatz zu Recht geht das Landgericht davon aus, dass die Regelungen über die Anordnung der Sicherungsverwahrung, die entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (aaO) wegen Verletzung des Abstandsgebots mit dem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar sind und lediglich befristet weitergelten, während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden dürfen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfGE aaO S. 406).

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2. Jedoch ist bereits zu beanstanden, dass das Landgericht keine Feststellungen dazu trifft, welche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang wären insbesondere auch die entsprechenden Ausführungen des Sachverständigen darzulegen und zu würdigen gewesen, die das Urteil vollständig verschweigt. Soweit das Landgericht davon ausgeht, dass die „abnehmende Intensität sexueller Praktiken“ des Angeklagten „gegen die zu stellende Gefährlichkeitsprognose im Sinne erheblicher Sexualstraftaten“ (UA S. 60) spreche, hätte es hierzu näherer, ebenfalls die Ergebnisse des Sachverständigen einbeziehender Darlegungen bedurft, inwieweit es sich hierbei um eine – unabhängig von zufälligen Tatumständen bestehende – verfestigte Tendenz in Verhalten und Persönlichkeit des Angeklagten handelt, aufgrund derer eine für die Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderliche Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Sexualstraftaten nicht besteht.

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3. Zumindest Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie der Angeklagte sie zum Nachteil der Nebenklägerin begangen hat, sind im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen und die hohe Strafdrohung unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung – unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – grundsätzlich als schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zu werten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 2011 – 5 StR 267/11, NStZ-RR 2012, 9, vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11, BGHR StGB § 66 Strikte Verhältnismäßigkeit 1, vom 11. August 2011 – 3 StR 221/11, vom 26. Oktober 2011 – 2 StR 328/11, StV 2012, 212, und Urteile vom 28. März 2012 – 2 StR 592/11, NStZ-RR 2012, 272, und vom 19. Februar 2013 – 1 StR 275/12). Die vom Landgericht genannten Umstände rechtfertigen eine Ausnahme von diesem Grundsatz nicht.

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Dass der Angeklagte – außer dem Auseinanderdrücken der Beine der Zeugin     W.    – keine Gewalt gegen seine Opfer angewendet hat und dies mithin – auch unter Berücksichtigung seiner Vortaten – zukünftig nicht hinreichend konkret zu erwarten sein dürfte, ist für die Einordnung der Delikte als schwere Sexualstraftaten unerheblich (vgl. BGH, Urteil vom 19. Februar 2013 aaO). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (aaO) nennt die Gefahr schwerer Sexualstraftaten ausdrücklich und selbständig neben derjenigen schwerer Gewaltstraftaten als mögliche Anordnungsgrundlage der Sicherungsverwahrung. Schon ohne Gewaltanwendung ist die durch § 176a StGB geschützte sexuelle Entwicklung des Kindes in schwerwiegender Weise gefährdet; im Hinblick auf die unzureichenden Verstandes- und Widerstandskräfte kindlicher Opfer erübrigt sich häufig die Anwendung nötigender Mittel im Rahmen sexueller Übergriffe.

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Auch der Umstand, dass der Angeklagte bei erkennbarer Ablehnung seiner Opfer von diesen abließ, ist ohne große Aussagekraft. Schon bei seinen früheren Taten hatte der Angeklagte die sexuelle Handlung beendet, wenn das Opfer Schmerzen oder Ablehnung äußerte. Dies hatte ihn indes weder bei den früheren noch bei den verfahrensgegenständlichen Taten davon abgehalten, weitere Taten gegen jeweils dieselben Opfer zu begehen.

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Inwieweit die Tatsache, dass die Übernachtungen seiner Opfer bei dem Angeklagten nicht durch seine Initiative zustande gekommen sind, seine Gefährlichkeit maßgeblich berühren soll, erhellt sich nicht. Dass es dem Angeklagten künftig deutlich erschwert sein könnte, vergleichbare günstige Gelegenheiten zu sexuellen Handlungen an Kindern zu finden und auszunutzen, ist nicht ausgeführt. Auch der Umstand, dass der Angeklagte – aktuell – eine Beziehung zu einer Frau mit einer erwachsenen Tochter unterhält, bietet hierfür keinen hinreichenden Anhaltspunkt. Bei den bisherigen Tatopfern handelte es sich mehrheitlich nicht um die Töchter seiner Partnerinnen, sondern um diejenigen befreundeter Eltern, die ihm vertrauten.

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Schließlich vermag auch die Erwägung der Strafkammer, die Taten seien im vorliegenden Fall für die Opfer ohne schwerwiegende langfristige Folgen geblieben, das Ergebnis nicht zu stützen. Denn hier werden Umstände der – inzwischen zurückliegenden – Einzelfälle angeführt, die nicht dem Verhalten des Angeklagten, sondern der Tatsache geschuldet sind, dass bei den konkreten Tatopfern jene Schäden, denen §§ 176, 176a StGB vorbeugen wollen, ausgeblieben zu sein scheinen. Zumindest mit Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden. Es ist nahezu ausgeschlossen, hinsichtlich künftiger Taten konkrete seelische Schäden bei kindlichen Opfern zu prognostizieren (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2010 – 2 StR 10/10, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Erheblichkeit 7).

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Die Ausführungen des Urteils zu einem möglichen Umdenken des Angeklagten „in Bezug auf den Umgang mit seiner sexuellen Neigung“ (UA S. 61), für welches das Landgericht Anhaltspunkte in der Wahl seiner aktuellen Partnerin und der Äußerung von Therapiebereitschaft sieht, lassen besorgen, dass es den ersten Ansatz für eine – nur in einem langfristigen therapeutischen Prozess erzielbare – Verhaltensänderung mit deren erwartbarem Erfolg gleichsetzt.

III.

18

Der Senat hebt das Urteil deshalb mit den zugehörigen Feststellungen auf, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist. Die Einzelstrafen und die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe sind so milde, dass sie bestehen bleiben können. Der Senat schließt aus, dass sie niedriger ausgefallen wären, wenn das Tatgericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet hätte (vgl. BGH, Urteil vom 19. Februar 2013 – 1 StR 275/12 mwN).

IV.

19

Das neue Tatgericht ist verpflichtet, über die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung (BGBl. I 2012, 2425) am 1. Juni 2013 weiterhin auf der Grundlage des bisherigen Maßstabs strikter Verhältnismäßigkeit (BVerfGE 128, 326) zu entscheiden. Grundsätze des im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vertrauensschutzes verbieten, einen Angeklagten in der Folge eines gerichtlichen Fehlers insoweit schlechter zu stellen, als er bei einem von ihm zu erwartenden rechtsfehlerfreien Urteil der Tatsacheninstanz gestanden hätte. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob und inwieweit der im Freiheitsgrundrecht verankerte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch künftig eine im Vergleich zu früherer Rechtsanwendung eingeschränkte Auslegung insbesondere des Gefährlichkeitsmaßstabs in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB gebietet.

Basdorf                         Sander                            Schneider

                    Dölp                            König