Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 24.03.2010


BGH 24.03.2010 - 2 StR 10/10

Anordnung von Sicherungsverwahrung: Erheblichkeitsschwelle bei sexuellem Missbrauch von Kindern


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
24.03.2010
Aktenzeichen:
2 StR 10/10
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend LG Kassel, 15. Juli 2009, Az: 4653 Js 21862/08 - 10 KLs, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 15. Juli 2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafen: ein Jahr neun Monate, ein Jahr neun Monate, ein Jahr sechs Monate sowie zwei Jahre) verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich mit der Sachrüge allein dagegen, dass die Strafkammer von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

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1. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision wirksam auf die Frage der Sicherungsverwahrung beschränkt; denn zwischen der Strafe und der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht grundsätzlich keine der Rechtsmittelbeschränkung entgegenstehende Wechselwirkung (vgl. BGH NStZ 1994, 280, 281; 2007, 212, 213; Senatsurteil vom 24. Februar 2010 - 2 StR 509/09). Auch hier schließt der Senat aus, dass die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe niedriger ausgefallen wäre, wenn der Tatrichter die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet hätte.

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2. Das Landgericht hat von der Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB gegen den Angeklagten mit der Begründung abgesehen, die von diesem begangenen und auch künftig zu erwartenden schweren sexuellen Missbrauchshandlungen an Kindern seien nicht so erheblich, dass sie eine Sicherungsverwahrung rechtfertigen würden (UA 52 f.); dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

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a) Nach den Feststellungen ist der 1968 geborene Angeklagte seit Beginn seiner Volljährigkeit mit Vorwürfen sexueller Annäherungen gegenüber kleinen Jungen konfrontiert. 1992 wurde er erstmals wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Angeklagte bei sich bietenden Gelegenheiten zwei elf und zwölf Jahre alten Jungen in die Hose gegriffen und an deren Geschlechtsteilen manipuliert hatte. Die dem Angeklagten gewährte Bewährung wurde widerrufen, weil er eine angeordnete therapeutische Behandlung verweigerte. Auch ein während des Vollzugs unternommener Therapieversuch scheiterte an seiner fehlenden Mitarbeit.

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Eine weitere Verurteilung wegen gleichgelagertem sexuellen Missbrauch eines neunjährigen Jungen in zwei Fällen zu einer vollstreckten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr erfolgte im Jahr 1997.

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Letztmalig wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen wurde der Angeklagte im Jahr 2000 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die er bis zum 6. Juni 2003 verbüßte; die sich anschließende Führungsaufsicht endete im Juni 2006. Opfer war ein 13jähriger Junge, an dessen entblößtem Glied der Angeklagte manipuliert hatte.

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Im Anschluss an seine Haftentlassung engagierte sich der Angeklagte in Fußballvereinen als Betreuer von Kindermannschaften. Gleichzeitig suchte er mit Erfolg die Nähe von allein erziehenden Frauen mit Kindern vornehmlich männlichen Geschlechts. Die dadurch bewusst geschaffenen Gelegenheiten nutzte er aus, um im Zeitraum Januar bis April 2008 in vier Fällen zwei elf- bzw. zwölfjährigen Jungen sowie einem elfjährigen Mädchen in die Hose zu greifen und an deren Geschlechtsteilen zu manipulieren.

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b) Das Landgericht hat - sachverständig beraten - zur Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass die formellen Voraussetzungen für eine Anordnung gemäß § 66 Abs. 2 StGB vorliegen und dass bei dem Angeklagten gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB ein Hang zur Begehung von Straftaten besteht. Dem Angeklagten sind sexuelle Beziehungen zu Erwachsenen nicht möglich. Bei ihm liegt eine narzisstische dissoziale Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit einer ausgeprägten und chronifizierten homosexuellen Pädophilie vor. Er hat schon in der Vergangenheit und auch bei den vorliegenden Taten gezeigt, dass er auch nach Haftverbüßung wegen einschlägiger Vorverurteilungen immer wieder in sein altes Verhaltensmuster zurückfällt, indem er Lebenssituationen sucht oder selber schafft, um die direkte Nähe zu Kindern zu erreichen. Hinzu kommt, dass er - nach geständigen Einlassungen in den früheren Verfahren - nunmehr die Begehung nicht nur der hier abgeurteilten, sondern auch der vergangenen Taten leugnet und ankündigt, auch künftig Kontakt zu Kindern haben zu wollen, da er sich diesbezüglich nichts vorzuwerfen habe.

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c) Soweit die Strafkammer jedoch meint, dass es sich bei den durch den Angeklagten in der Zukunft zu befürchtenden Hangtaten um solche handelt, welche die Erheblichkeitsschwelle nicht überschreiten (UA 52 f.) und deshalb eine Sicherungsverwahrung nicht rechtfertigen würden, begegnet dies - auch in Anbetracht des dem Tatrichter insoweit zustehenden Beurteilungsspielraums (BGH NJW 2000, 3015) - durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Selbst wenn - wie der Sachverständige meint - nicht zu vermuten wäre, dass der Angeklagte seine pädophilen Neigungen künftig mit gesteigerter Intensität in aggressiverer Art und Weise als bisher ausleben werde, ist der daraus gezogene Schluss, eine schwere körperliche und seelische Schädigung künftiger Opfer sei nicht zu befürchten, nicht haltbar. So ist es bereits mit den sonstigen Urteilsgründen unvereinbar, wenn die Strafkammer darauf abstellt, sie habe in der Hauptverhandlung von den betroffenen Kindern den Eindruck gewonnen, die Missbrauchshandlungen des Angeklagten hätten keine nachhaltigen erheblichen Auswirkungen verursacht (UA 53). An anderer Stelle des Urteils (UA 29 f.) heißt es nämlich:

"Bei L. wurde bei ihrer Aussage deutlich, dass sie zuerst keine Angaben zu den konkreten Vorfällen machen wollte, da sie das vergangene Geschehen nachhaltig negativ beeindruckt hatte. Als sie vom Gericht auf die konkrete Situation und die im Raum stehenden Tathandlungen des Angeklagten angesprochen wurde, blockte sie vollkommen ab, wurde nahezu apathisch und war für zwei bis drei Minuten zu keiner weiteren Angabe mehr bereit. Die Sitzung musste kurz unterbrochen werden, damit sich die Zeugin wieder sammeln konnte … die Zeugin antwortete weiterhin stockend und sichtlich bedrückt."

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Weiter berücksichtigt das Landgericht nicht hinreichend den Schutzzweck der §§ 176, 176 a StGB, nämlich die ungestörte Entwicklung von Kindern (BGHSt 45, 131, 132). Mit sexuellem Missbrauch ist typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden. Hinsichtlich künftiger Taten konkrete seelische Schäden bei kindlichen Opfern zu prognostizieren, ist nahezu ausgeschlossen, weshalb auch die allgemeine und abstrakte Gefährlichkeit von Delikten Grundlage von Sicherungsverwahrung sein kann (BGH NJW 2000, 3015). So lagen auch hier in der Hauptverhandlung und damit nur kurze Zeit nach dem Missbrauch - wie die Strafkammer selbst einräumt - noch überhaupt keine gesicherten Erkenntnisse über traumatische Störungen in der weiteren Entwicklung der betroffenen sehr jungen Kinder vor (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2007 - 1 StR 201/07). Die hier zu beurteilenden Missbrauchsfälle sind daher grundsätzlich als erheblich i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB einzustufen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2007 - 1 StR 201/07; BGH NStZ-RR 2003, 73; Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 Rdn. 149), was nicht zuletzt die Einordnung des schweren sexuellen Missbrauchs als Verbrechen mit einem Strafrahmen von Freiheitsstrafe von ein bis fünfzehn Jahren verdeutlicht. Dass der Angeklagte darüber hinaus keine körperliche Gewalt gegen seine Opfer angewandt hat, beseitigt nicht die Erheblichkeit seines Tuns, sondern führt lediglich dazu, dass er nicht auch noch der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB) schuldig ist, kommt ihm aber nicht bei der Prüfung von § 66 StGB zugute (BGH NStZ 2007, 464, 465).

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3. Nach alledem muss über die Sicherungsverwahrung neu entschieden werden. Zwar kann der Tatrichter nach seinem vom Revisionsgericht nur begrenzt überprüfbaren Ermessen von Sicherungsverwahrung auch absehen, wenn alle Voraussetzungen von § 66 Abs. 2 StGB vorliegen (BGH NStZ 2007, 464 m.w.N.). Hier hat die Strafkammer jedoch schon die Erheblichkeit der vom Angeklagten begangenen und künftig zu erwartenden Straftaten verkannt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie bei Zugrundelegung zutreffender Maßstäbe und bei Abwägung aller Erkenntnisse Sicherungsverwahrung angeordnet hätte.

Rissing-van Saan                                         Fischer                                        Roggenbuck

                                       Appl                                           Cierniak