Entscheidungsdatum: 10.01.2012
Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die die Erteilung und Annullierung eines einheitlichen Visums regelnden Art. 21, 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 vom 15. September 2009, S. 1, Visakodex – VK) dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen entgegenstehen, in denen die geschleusten Personen zwar über ein Visum verfügen, dieses aber durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates über den wahren Reisezweck erlangt haben?
Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorlagefrage ausgesetzt.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat über die Revision des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Berlin zu entscheiden. Das Landgericht hatte den Angeklagten unter anderem wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.
I.
1. Dem Revisionsverfahren liegt folgender, vom Landgericht festgestellter Sachverhalt zugrunde:
Der Angeklagte gehörte einer international organisierten Schleuserbande an. Sie ging in der Weise vor, dass der ungarischen Botschaft in Vietnam vorgespiegelt wurde, bei gegen ein Entgelt von 12.000 € bis 14.000 € zu schleusenden vietnamesischen Staatsbürgern handele es sich um Mitglieder touristischer Reisegruppen. Die vorgeblichen Reisegruppen bestanden jeweils aus 20 bis 30 Personen. In der irrigen Annahme, dass die Reisen tatsachlich stattfinden würden, erteilte die ungarische Botschaft den Betroffenen Touristenvisa, die einen kurzen Aufenthalt in allen Schengenstaaten ermöglichten. Die Reisen wurden in den ersten Tagen zum Schein gemäß Reiseprogramm durchgeführt, bevor die Geschleusten dem vorab gefassten Tatplan entsprechend von Paris aus in die jeweiligen Zielländer weitertransportiert wurden. Die in Berlin eintreffenden Geschleusten wurden zunächst in so genannten „Safehouses“ untergebracht, bis sie dann von in Deutschland ansässigen Verwandten abgeholt und anderweitig einquartiert wurden.
2. Dem Angeklagten liegt zur Last:
Er begleitete am 18./19. Mai 2010 sechs Vietnamesen im Reisebus von Paris nach Berlin und brachte sie dort im Lokal einer Mitangeklagten unter, wobei er auch die Pässe der geschleusten Personen übergab; zudem organisierte er im Zusammenwirken mit anderen Bandenmitgliedern die Unterbringung von weiteren 15 nach Deutschland verbrachten Vietnamesen in „Safehouses“ (Tat 1). Am 22. Juni 2010 begleitete er drei von insgesamt neun Vietnamesen von Paris nach Berlin (Tat 2). Alle geschleusten Personen verfügten – was das Landgericht für Tat 1 ausdrücklich festgestellt hat, was aber nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe auch für Tat 2 zugrunde zu legen ist – zur Tatzeit über auf die vorgenannte Weise erlangte Touristenvisa, die formal die Einreise in den Schengenraum und den dortigen Aufenthalt erlaubten. Ein Beitrag des Angeklagten zur Erschleichung der Visa bei der ungarischen Botschaft in Vietnam lässt sich den Urteilsfeststellungen nicht entnehmen.
2. Nach Auffassung des Landgerichts hat sich der Angeklagte dadurch in zwei selbständigen Fällen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern nach § 97 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 und § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) strafbar gemacht. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist dabei, dass hinsichtlich der geschleusten Personen der Tatbestand der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) bzw. des unerlaubten Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) erfüllt ist. Wie aus der Zitierung des § 95 Abs. 6 AufenthG im Urteil ersichtlich ist, hat das Landgericht in dem Umstand, dass die geschleusten Personen formell über Visa verfügten, keinen die Strafbarkeit hindernden Umstand gesehen. Gemäß dieser Vorschrift steht für die Tatbestände des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein – hier gegebenes – Handeln aufgrund eines durch falsche Angaben erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.
3. Mit seiner Revision wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung. Er beanstandet, ohne dies näher zu begründen, die Verletzung sachlichen Rechts.
II.
Der Senat hält die Beantwortung der Vorlagefrage für den Erlass seiner Entscheidung über die Revision für erforderlich. Sie ist entscheidungserheblich, ohne dass einschlägige oder übertragbare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ersichtlich wäre (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 Rn. 25, und vom 22. September 2011 – 2 BvR 947/11 Rn. 14, jeweils mwN). Er legt sie deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vor.
Der Senat geht von Folgendem aus:
1. Die Voraussetzungen des § 95 Abs. 6 AufenthG sind erfüllt. Die zu schleusenden Personen gaben – unterstützt durch im angefochtenen Urteil im Einzelnen benannte Bandenmitglieder – gegenüber den Amtsträgern der ungarischen Botschaft in Vietnam bewusst wahrheitswidrig vor, zu touristischen Zwecken für einen Kurzaufenthalt in den Schengenraum einreisen zu wollen (vgl. Art. 21 VK, auch i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. a, c, d und e der Verordnung (EG) – Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, Schengener Grenzkodex – SGK, ABl. L 105 vom 13. April 2006, S. 1). Demgegenüber hatten sie von Anfang an die Absicht, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, was der Erteilung der Visa zwingend entgegenstand (vgl. Art. 21 Abs. 1 VK, Art. 5 Abs. 1 lit. e SGK; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 6 Rn. 22). Nach den tatgerichtlichen Feststellungen wurden die Visa nur aufgrund der Fehlvorstellung der Amtsträger über den wahren Zweck der Reisen erteilt.
2. § 95 Abs. 6 AufenthG stellt für die Fälle des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG) ein Handeln aufgrund eines solchermaßen erlangten Aufenthaltstitels einem Handeln ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel gleich. Die Vorschrift bewirkt in den relevanten Fällen trotz Vorhandensein eines verwaltungsrechtlich formell bestandskräftigen Aufenthaltstitels eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, die ihrerseits den Anknüpfungspunkt für die „Schleusungstatbestände“ nach §§ 96, 97 AufenthG bilden kann.
a) Dass der deutsche Gesetzgeber diese Rechtsfolge herbeiführen wollte, unterliegt keinem Zweifel. Unter anderem mit der durch Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970, 1988) eingeführten Vorschrift des § 95 Abs. 6 AufenthG reagierte er auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. April 2005 (2 StR 457/04, BGHSt 50, 105). Darin hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass ausländerrechtlichen Erlaubnissen für die verwaltungsakzessorischen Straftatbestände des Aufenthaltsgesetzes Tatbestandswirkung zukommt, weswegen rechtsmissbräuchlich erlangte, jedoch formell wirksame Einreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen (Visa) die Strafbarkeit wegen illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3, auch i.V.m. § 96 Abs. 1 AufenthG) ausschließen (BGHSt aaO, S. 110 ff.). Der Behebung von Strafbarkeitslücken aufgrund dieser Entscheidung dienen verschiedene im genannten Gesetz enthaltene Maßnahmen (hierzu Gesetzentwurf der deutschen Bundesregierung, BT-Drucks. 16/5065 S. 164, 182 f., 199). Mit § 95 Abs. 6 AufenthG wollte der Gesetzgeber sämtliche Fälle erfassen, „in denen die strafbefreiende Genehmigung auf unlautere Weise erlangt worden ist“ (BT-Drucks. 16/5065 S. 199; vgl. hierzu auch den diesbezüglichen Hinweis in BGHSt aaO, S. 115).
b) In § 95 Abs. 6 AufenthG hat der gesetzgeberische Wille auch unter dem Blickwinkel des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) hinreichenden Niederschlag gefunden. Für die illegale Einreise erscheint dies eindeutig und wird im deutschen Schrifttum soweit ersichtlich auch nicht bestritten (vgl. MünchKomm-StGB/Gericke, Bd. 6/2, 1. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 107). Gleiches gilt indessen entgegen vereinzelten Stimmen in der Literatur (MünchKomm/Gericke aaO § 95 AufenthG Rn. 28; Schott, Einschleusen von Ausländern, 2. Aufl., S. 282 f.) auch in Bezug auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (so im Ergebnis der Großteil des Schrifttums: vgl. Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand April 2010, § 95 AufenthG Rn. 11a; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 22; Mosbacher in GK/AufenthG, Stand Juli 2008, § 95 Rn. 57; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 2010, § 95 AufenthG Rn. 110; Brocke, NStZ 2009, 546, 548).
Allerdings ersetzt § 95 Abs. 6 AufenthG ausdrücklich nur das Fehlen des erforderlichen Aufenthaltstitels und erwähnt die – vorliegend relevante –weitere in § 95 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AufenthG normierte Voraussetzung einer vollziehbaren Ausreisepflicht nicht. Der Umstand, dass ein Aufenthaltstitel grundsätzlich eine vollziehbare Ausreisepflicht hindert, führt indessen nicht dazu, dass die ausdrücklich auch auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zielende Regelung des § 95 Abs. 6 AufenthG „fehlgeschlagen“ ist (so Gericke aaO; Schott aaO). Aus der Gleichstellung des Handelns auf Grund eines erschlichenen Aufenthaltstitels mit dem Handeln ohne Aufenthaltstitel folgt vielmehr auch, dass im Rahmen der Strafvorschriften des § 95 AufenthG die mit einem erschlichenen Aufenthaltstitel erfolgte Einreise als unerlaubt und die Ausreisepflicht somit als vollziehbar anzusehen ist (vgl. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Besonderer Erwähnung im Gesetzestext bedarf dies nicht zwingend.
3. § 95 Abs. 6 AufenthG lockert im vorbezeichneten Umfang die Akzessorietät der betroffenen deutschen Strafrechtsbestimmungen zu dem durch Unionsrecht ausgeformten Verwaltungsrecht, indem er für das Strafrecht durch arglistige Täuschung erlangte Visa ungeachtet einer vorherigen Annullierung als nicht existent betrachtet. Der Senat sieht die – trotz grundsätzlicher Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Strafrecht gegebene – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Strafrechtsnormen so auszugestalten, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist (dazu etwa Europäischer Gerichtshof, Nr. 53 bis 55 des Urteils vom 28. April 2011 – C-61/11 PPU, ABl. C 186 vom 25. Juni 2011, S. 8 mwN), hierdurch jedoch nicht verletzt.
a) Die zu schleusenden Personen haben – unterstützt durch Mitglieder der Schleuserbande – durch Falschangaben die Erteilung von Visa erschlichen, die ihnen nicht hätten erteilt werden dürfen (Art. 21 Abs. 1 VK, Art. 5 Abs. 1 lit. e SGK) und bei Kenntnis ihrer Absichten durch die zuständigen Behörden auch nicht erteilt worden wären. Art. 34 Abs. 1 Satz 1 VK schreibt den zuständigen Behörden vor, unter den hier gegebenen Vorzeichen erteilte Visa bei Kenntniserlangung zu annullieren, also für von Anfang an ungültig zu erklären. Daraus ergibt sich, dass ein schutzwürdiges Vertrauen der Betroffenen auf Rechtswirkungen aufgrund nur formellen Bestandes von Visa, deren bloßer Besitz ohnehin nicht automatisch zur Einreise berechtigt (Art. 30 VK, Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 GK), nicht anzuerkennen ist. Dementsprechend erscheint es auch auf der Grundlage des Unionsrechts folgerichtig, dem bestimmten Gebot des deutschen Gesetzgebers entsprechend solchen wegen zurechenbaren eigenen Verhaltens der Betroffenen von Anfang an schwer fehlerbehafteten Visa eine die Strafbarkeit ausschließende Wirkung zu versagen.
b) Hinzu kommt, dass bei anderweitiger Betrachtung das von der Europäischen Union verfolgte Ziel effektiver Bekämpfung illegaler Einwanderung und der Beihilfe hierzu mit den Mitteln des Strafrechts (vgl. Rahmenbeschluss betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt vom 28. November 2002; Richtlinie 2002/90/EG des Rates zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt vom 28. November 2002, ABl. L 328 vom 5. Dezember 2002, S. 1, 17; jeweils Erwägungsgründe 1 und 2) in Fällen wie dem vorliegenden, der nur einen Ausschnitt aus einem Komplex gleichgelagerter Verfahren bildet, nicht erreicht werden könnte. Denn die hier betroffenen „Schleusertatbestände“ des deutschen Rechts setzen eine rechtswidrige Haupttat in Form illegaler Einreise bzw. illegalen Aufenthalts voraus, der infolge formellen Bestands von Visa im Zeitpunkt der Tat des Angeklagten nicht gegeben wäre. Typischerweise entziehen sich die eingeschleusten Personen jeglichen Zugriffs der Behörden, so dass eine formell erklärte Annullierung faktisch nicht möglich ist. Dementsprechend müsste zumindest ein – beachtlicher – Teil der Täter straflos bleiben.
c) Dass die Visa nicht von deutschen Behörden erteilt worden sind, steht einer Interpretation im vorgenannten Sinne nicht entgegen. Denn die Entscheidung über die Bestandskraft von Visa wird durch den Visakodex nicht ausschließlich dem erteilenden Mitgliedstaat vorbehalten. Dies erweist Art. 34 Abs. 1 Satz 2 VK, wonach Visa von den Behörden eines anderen Mitgliedstaates annulliert werden können, bei positiver Kenntnis von arglistiger Täuschung sogar müssen (vgl. auch Beschluss der Kommission vom 19. März 2010 über ein Handbuch für die Bearbeitung von Visumanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa, K(2010) 1620 endgültig, S. 119 f.).
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