Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 22.05.2013


BGH 22.05.2013 - 4 StR 170/13

Strafverfahren wegen versuchten Mordes: Anwendung des Zweifelsgrundsatzes auf das Vorliegen von Rücktrittsvoraussetzungen


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
22.05.2013
Aktenzeichen:
4 StR 170/13
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Bielefeld, 18. Dezember 2012, Az: 10 Ks 446 Js 177/12 - 17/12
Zitierte Gesetze

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts – Schwurgericht – Bielefeld vom 18. Dezember 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes (Mordmerkmal Heimtücke) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 5 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision beanstandet der Angeklagte unter anderem die Verneinung eines strafbefreienden Rücktritts. Sein Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

1. Nach den Feststellungen wohnte der Angeklagte zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder      P.    – dem späteren Tatopfer – und den gemeinsamen Eltern in einem Haus. Der Angeklagte bedrohte seinen Bruder wiederholt mit dem Tod und wurde häufig gewalttätig.     P.    wehrte sich hiergegen zunächst nicht. Erst ab seinem 18. Lebensjahr, das er im Jahr 2008 erreicht hatte, war er nicht länger bereit, die Beleidigungen, Drohungen und physischen Angriffe des Angeklagten hinzunehmen. Er trieb vermehrt Sport, unter anderem Kampfsport, um dem Angeklagten körperlich nicht mehr unterlegen zu sein, und wehrte sich in der Folgezeit bei Übergriffen. Außerdem besorgte er sich eine Stange, die er neben sein Bett legte, um sich im Notfall gegen den Angeklagten verteidigen zu können. Auch schlief er in der Regel erst ein, wenn er hörte, dass der Angeklagte sich zur Ruhe begeben hatte. In den Monaten vor der Tat spitzte sich die familiäre Situation durch das Verhalten des Angeklagten derart zu, dass sich    P.    an den Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt H.    mit der Bitte um Unterstützung wandte.

3

In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 2012 ging     P.   gegen  2:00 Uhr in seinem Zimmer im ersten Obergeschoss zu Bett. Als der Angeklagte ihn gegen 3:00 Uhr aufforderte, mit ihm Computer zu spielen, lehnte er dies ab und schlief kurz darauf ein. Der Angeklagte war über diese Zurückweisung verärgert. Er weckte die zur Familie gehörenden Hunde auf, um seinen Bruder in den unteren Flur zu locken. Dort wollte er ihm auflauern und ihn körperlich angreifen. Tatsächlich wurde    P.    durch das laute Bellen der Hunde aufgeweckt. Er stand auf und ging – bekleidet mit Boxershorts und T-Shirt – ins Erdgeschoss. Da er annahm, dass die Hunde Auslauf haben wollten, ließ er sie auf die Terrasse. Nachdem er sich im Esszimmer noch eine Zigarette gestopft hatte, schaltete er das Licht aus und ging in den unbeleuchteten Flur, in den nur aus seinem Zimmer und durch ein kleines Fenster etwas Licht fiel. Als er vor der zu seinem Zimmer im Obergeschoss führenden Treppe stand, hörte er ein mehrmaliges Klopfen gegen eine Tür. Er ging daraufhin in Richtung der Haustür, weil er dachte, dass ein Bekannter gekommen sei und sich nun durch das Klopfen bemerkbar machen wollte. Der Angeklagte, der     P.   bewusst in den dunklen Bereich des Flures gelockt hatte, um ihm die Verteidigung gegen den geplanten Angriff zu erschweren, trat nun wortlos von rechts auf seinen Bruder zu. Ob er dabei etwas in der Hand hatte, war für     P.    – der darauf auch nicht achtete – in diesem Moment nicht erkennbar. Als der Angeklagte unmittelbar vor seinem Bruder stand, drückte er ihn gegen die Wand. Spätestens jetzt nahm er ein Anglermesser mit einer etwa 13,5 cm langen, nach vorn spitz zulaufenden Klinge aus einem am Gürtel getragenen Holster und stach mit großer Wucht mindestens einmal auf den Oberkörper von P.  ein. Dabei nahm er tödliche Verletzungen zumindest billigend in Kauf. Der Stich traf     P.    , der seine Arme schützend vor Oberkörper und Gesicht gehoben hatte, zunächst am linken Unterarm und drang dann in den Brustkorb ein. Ihm gelang es, den Angeklagten zurückzustoßen. Sodann kam es zu einer Rangelei, bei der     P.    bemüht war, Abstand zwischen sich und den Angeklagten zu bekommen. Als ihm dies gelungen war, trat er zurück in den helleren Bereich des Flures. Dort sah er durch das einfallende Licht, dass er eine mehrere Zentimeter große klaffende Wunde an seinem linken Arm hatte, von der die bis auf den Knochen geöffnete Haut wie ein Lappen herunterhing. Auch bemerkte er, dass der Angeklagte das Messer in der rechten Hand hielt.     P.    verließ den Flur und lief durch das Esszimmer in  Richtung der Terrasse. Seiner Mutter rief er im Vorbeilaufen zu, dass sie Hilfe holen möge. Sodann öffnete er die Tür zur Terrasse und schloss diese wieder, nachdem er das Haus verlassen hatte. Von dort aus lief er in den Garten. Der Angeklagte, der seinem Bruder ins Esszimmer gefolgt war, verweilte dort kurz. Als er bemerkte, dass seine Mutter telefonisch einen Notruf absetzen wollte, riss er ihr das Telefon aus der Hand und warf es gegen die Wand, sodass es beschädigt auf den Boden fiel.     P.    lief währenddessen im Garten  durch den Hühnerstall – wo er zwei Türen entriegeln und wieder verschließen musste – zu einem etwa 300 Meter entfernt liegenden Gartenhaus und weckte seinen dort schlafenden Vater. Dieser ließ seinen Sohn herein und setzte einen Notruf ab. Anschließend begann er dessen Verletzung zu verbinden. In dieser Situation erschien der Angeklagte ohne Messer im Gartenhaus. Dabei sagte er zu seinem Bruder: „Ach, Du lebst ja noch“ und zu seinem Vater gewandt: „Ich habe oft um Hilfe gebeten, aber ihr habt nichts getan“. Kurze Zeit danach verließ er das Gartenhaus wieder.

4

      P.    erlitt eine Schnittwunde im rechten oberen Thorax, die sich nur zwei bis drei Zentimeter entfernt von einem größeren Blutgefäß sowie in unmittelbarer Nähe von Herz und Lunge befand. Des Weiteren hatte er eine tiefe Schnittwunde am linken Unterarm mit Durchtrennung einer Sehne und Spaltung der Elle.

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2. Das Landgericht hat angenommen, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz auf seinen Bruder eingestochen und dabei heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gehandelt hat. Einen strafbefreienden Rücktritt hat es mit der Begründung verneint, dass ein beendeter Versuch im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB gegeben sei und der Angeklagte keine Rettungsbemühungen entfaltet habe. Ein beendeter Versuch sei hier anzunehmen, weil nicht festgestellt werden konnte, dass sich der Angeklagte über die Folgen seiner Tat überhaupt irgendwelche Vorstellungen gemacht hat. Ein realer Gesichtspunkt, an den die Annahme anknüpfen könnte, der Angeklagte habe geglaubt, der mit Tötungsvorsatz geführte Stich sei nicht tödlich, bestehe nicht. Der Umstand, dass der Geschädigte noch weglaufen konnte, sei ohne Bedeutung, weil der tödliche Erfolg nicht in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der verursachenden Handlung stehen müsse und auch erst einige Zeit später durch Verbluten eintreten könne. Auch die Einlassung des Angeklagten habe in Bezug auf sein Vorstellungsbild nichts erbracht. Wenn sich aber Erwägungen des Angeklagten, dass die zugefügten Verletzungen nicht tödlich sein würden, nicht feststellen lassen, könne allenfalls festgestellt werden, dass sich der Angeklagte überhaupt keine Vorstellungen darüber gemacht habe, ob der Geschädigte sterben könne oder nicht. In diesem Fall sei ein beendeter Versuch anzunehmen. Der Zweifelsgrundsatz, der auch auf das Vorliegen der Rücktrittsvoraussetzungen Anwendung finde, erlaube es nicht, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für die es – wie hier – keine konkreten Anhaltspunkte gäbe (UA 28).

II.

6

Die Revision des Angeklagten hat Erfolg, weil die Erwägungen, mit denen das Landgericht zur Annahme eines beendeten Versuches gelangt ist und daran anknüpfend einen strafbefreienden Rücktritt verneint hat, an einem Erörterungsmangel leiden (§ 261 StPO) und deshalb revisionsrechtlicher Überprüfung nicht standhalten.

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1. Im Ansatzpunkt zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass ein beendeter Versuch, von dem nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, Satz 2 StGB zurückgetreten werden kann, auch dann vorliegt, wenn sich der Täter im Augenblick des Verzichts auf eine mögliche Weiterführung der Tat keine Vorstellung von den Folgen seines bisherigen Verhaltens macht (BGH, Urteil vom 3. Juni 2008 – 1 StR 59/08, NStZ 2009, 264 Rn. 9; Beschluss vom 3. Februar 1999 – 2 StR 540/98, NStZ 1999, 299; Urteil vom 10. Februar 1999 – 3 StR 618/98, NStZ 1999, 300, 301; Beschluss vom 12. April 1995 – 2 StR 105/95, MDR 1995, 878, 879 bei Holtz; Urteil vom 2. November 1994 – 2 StR 449/94, BGHSt 40, 304, 306; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 24 Rn. 15; SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, § 24 Rn. 37). Diese gedankliche Indifferenz des Täters gegenüber den von ihm bis dahin angestrebten oder doch zumindest in Kauf genommenen Konsequenzen ist eine innere Tatsache, die positiv festgestellt werden muss. Hierzu bedarf es in der Regel einer zusammenfassenden Würdigung aller maßgeblichen objektiven Umstände. Können keine eindeutigen Feststellungen getroffen werden, ist der Zweifelsgrundsatz anzuwenden (BGH, Urteil vom 3. Juni 2008 – 1 StR 59/08, NStZ 2009, 264 Rn. 14; Urteil vom 13. März 2008 – 4 StR 610/07, Rn. 13 mwN).

8

Diesen Anforderungen werden die Darlegungen in den Urteilsgründen nicht gerecht. Soweit das Landgericht dem von dem Angeklagten wahrgenommenen „Weglaufen“ des Geschädigten nach dem Messerstich jegliche Indizwirkung für ein Ausbleiben tödlicher Folgen abgesprochen hat, erschöpft sich die Begründung in dem allgemeinen Hinweis, dass bei Messerstichen ein Tod durch Verbluten auch noch mit zeitlicher Verzögerung eintreten könne. Dies ist zwar zutreffend, doch hätte sich das Landgericht an dieser Stelle näher mit den von ihm festgestellten weiteren Umständen des Geschehens bei und unmittelbar nach der Tat auseinandersetzen und diese zusammenfassend würdigen müssen. Der Messerstich wurde im Dunkeln geführt. Erst nachdem sich der Geschädigte von dem Angeklagten gelöst hatte und ins Licht gelangt war, sah er die klaffende Wunde an seinem linken Arm. Bei dieser Sachlage wäre zu erörtern gewesen, ob für den unter gleichen Sichtverhältnissen agierenden Angeklagten nur diese nicht naheliegend als lebensgefährlich anzusehende Verletzung als Auswirkung des Messerstichs erkennbar war und deshalb aus seiner Sicht – auch mit Blick auf das nachfolgende Verhalten seines Bruders (Zurückstoßen des Angeklagten, erfolgreich bestandene Rangelei, Verlassen des Hauses durch die anschließend wieder verschlossene Terrassentür, Weg durch den Garten usw.) – Grund für die Annahme bestand, der mit bedingtem Tötungsvorsatz geführte Stich werde tatsächlich keine lebensbedrohlichen Folgen haben.

9

Auch ist es rechtlich bedenklich, dass das Landgericht aus der Tatsache, dass es keine Feststellungen zu den Vorstellungen des Angeklagten in Bezug auf den Erfolgseintritt treffen konnte, auf ein Fehlen derartiger Vorstellungen geschlossen hat (SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, § 24 Rn. 37). Zwar trifft es zu, dass der Zweifelssatz nicht dazu nötigt, (innere) Tatsachen zugunsten des Angeklagten zu unterstellen, für die es keine Anhaltspunkte gibt (BGH, Urteil vom 3. Juni 2008 – 1 StR 59/08, NStZ 2009, 264 Rn. 14; Urteil vom 13. März 2008 – 4 StR 610/07, Rn. 13 mwN), doch rechtfertigt dies für sich genommen noch nicht den vom Landgericht gezogenen Schluss. Allerdings kann in Fällen, in denen sich aus den objektiven Umständen kein Hinweis auf das konkrete Vorstellungsbild des Täters im Zeitpunkt des Abbruchs der Tathandlung ergibt, die Annahme gerechtfertigt sein, dass bei ihm die der Tatbegehung zugrunde liegende Folgeneinschätzung fortbestanden hat; maßgeblich ist indes auch dann sein „Rücktrittshorizont“ nach der letzten Ausführungshandlung (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2011 – 3 StR 337/11).

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2. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird der neue Tatrichter – sofern er wieder entsprechende Feststellungen zu treffen vermag – auch zu erwägen haben, ob der Äußerung des Angeklagten beim Anblick seines verletzten Bruders im Gartenhaus („Ach, Du lebst ja noch“) ein Hinweis auf ein indifferentes Vorstellungsbild oder eine Gleichgültigkeit gegenüber einem möglichen Todeseintritt entnommen werden kann.

Mutzbauer                           Roggenbuck                         Franke

                     Quentin                                  Reiter