Bundespatentgericht

Entscheidungsdatum: 01.08.2013


BPatG 01.08.2013 - 4 Ni 28/11 (EP)

Patentnichtigkeitsklageverfahren – „Bildprojektor“ (europäisches Patent) – unzulässige Erweiterung des Patentanspruchs – beschränkte Verteidigung eines EP-Patents unter schutzbeschränkender Erklärung (Prioritätsdisclaimer) ist unzulässig


Gericht:
Bundespatentgericht
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsdatum:
01.08.2013
Aktenzeichen:
4 Ni 28/11 (EP)
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
nachgehend BGH, 15. September 2015, Az: X ZR 112/13, Urteil
Zitierte Gesetze
Art 87 EuPatÜbk

Leitsätze

Bildprojektor

1. Kann eine Priorität nach Art. 87 EPÜ für einen Patentanspruch eines EP-Patents nicht in Anspruch genommen werden, weil dieser ein beschränkendes Anspruchsmerkmal enthält, welches über den Inhalt des Prioritätsdokuments hinausgeht, so ist es nicht zulässig die erforderliche Erfindungsidentität durch eine schutzbeschränkende Erklärung (Prioritätsdisclaimer) herzustellen.

2. Die beschränkte Verteidigung eines im Nichtigkeitsverfahren wegen mangelnder Patentfähigkeit angegriffenen Patentanspruchs eines EP-Patents unter Erklärung eines sog. Prioritätsdisclaimers oder dessen Aufnahme in den Patentanspruch ist deshalb unzulässig.

Tenor

In der Patentnichtigkeitssache

betreffend das europäische Patent 0 799 436

(DE 596 01 140)

hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2013 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Engels, der Richterin Dr. Mittenberger-Huber und der Richter Dipl.-Phys. Dr. rer. nat. Müller, Dipl.-Ing. Veit und Dipl.-Ing. (Univ.) Schmidt-Bilkenroth

für Recht erkannt:

I. Das europäische Patent 0 799 436 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.

II. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens ist das Streitpatent EP 0 799 436, das die Verwendung eines Bildprojektors zum Darstellen sich bewegender Bilder im Hintergrund einer Bühne betrifft. Der Beklagte ist eingetragener Inhaber des Streitpatents, das am 31. August 1996 mit Wirkung auch für die Bundesrepublik Deutschland unter Inanspruchnahme der Priorität des deutschen Gebrauchsmusters DE 295 15 073 U1 vom 20. September 1995 angemeldet wurde. Die Erteilung des in deutscher Sprache abgefassten Streitpatents ist am 13. Januar 1999 veröffentlicht worden.

2

Im Einspruchsverfahren hat die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts in ihrer Entscheidung vom 16. November 2001 das Streitpatent beschränkt aufrechterhalten (B2-Schrift, Anlage L1). In dieser Fassung umfasst es 13 Patentansprüche, von denen Patentanspruch 1 in der Verfahrenssprache Deutsch folgenden Wortlaut hat:

3

1. Verwendung eines Bildprojektors (12), einer reflektierenden Fläche (18) und einer glatten transparenten und teilreflektierenden Folie (20) zum Darstellen von Bildern im Hintergrund einer Bühne (28) oder dergleichen, wobei die reflektierende Fläche (18) auf dem Boden (30) der Bühne (28) in deren mittlerem Bereich angeordnet ist und die Folie (20) zwischen dem Boden (30) und der Decke (32) der Bühne (28) über deren gesamter Breite derart verläuft, daß ihr unteres Ende an einer Stelle zwischen der reflektierenden Fläche (18) und dem Hintergrund der Bühne (28) und ihr oberes Ende an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und der Bildprojektor (12) an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und der Bildprojektor (12) an der Decke (32) vor dem dort gehaltenen oberen Ende der Folie (20) angeordnet und auf die reflektierende Fläche (18) gerichtet ist, so daß das vom Bildprojektor (12) projizierte Licht zuerst von der reflektierenden Fläche (18) teilweise reflektiert wird, so daß aus dem reflektierten Licht ein virtuelles Bild (26) im Hintergrund der Bühne (28) entsteht, wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist und unter Zugspannung steht.

4

Mit ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin geltend, der Gegenstand von Patentanspruch 1 gehe über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldeunterlagen (WO 97/11405 = Anlage L3) hinaus, da diese das Merkmal der „teilreflektierenden Folie“ nicht offenbarten. Das Streitpatent könne ferner nicht das Prioritätsrecht des Gebrauchsmusters (DE 295 15 073 U1 = Anlage L2) in Anspruch nehmen, da dieses die in Patentanspruch 1 enthaltenen wesentlichen Merkmale „teilreflektierende Folie“ und die Flächenangabe der Folie von „mindestens 3 m mal 4m“ nicht enthalte. Daher komme dem Streitpatent nur der Zeitrang des Anmeldetags zu, nämlich der 31. August 1996; die L2 bilde deshalb selbstkollidierend uneingeschränkten Stand der Technik. Der Gegenstand des Streitpatents sei zudem nicht patentfähig, da er nicht erfinderisch sei. Zusammen mit dem Wissen des Fachmanns ergebe sich aus der L2 in nahe liegender Weise der Gegenstand des Patentanspruchs 1. Ebenso legten die am 14. Dezember 1995 veröffentlichte Druckschrift WO 95/33540 (Anlage L11) und die als „Pepper’s Ghost Illusion“ bezeichnete Anlage L8 in der Zusammenschau die Erfindung nahe. Dasselbe gelte für die Druckschrift „Pepper’s Ghost Illusion“ in Kombination mit der Druckschrift DE 38 08 406 (Anlage L13). Die abhängigen Ansprüche leisteten ebenfalls keinen erfinderischen Beitrag.

5

Die Klägerin beruft sich hierzu auf folgende Druckschriften:

6

L2 DE 295 15 073 U1

7

L3 WO 97/011405

8

L4 EP 0 799 436 B1

9

L5 Entscheidungsgründe Einspruchsabteilung EPA

10

L7 Skizze: Erzeugung eines virtuellen Bildes

11

L8 Pepper's Ghost Illusion

12

L9 Preisliste 2-86 Foil Mirror

13

L9a DE 90 01 172 U1

14

L9b DE 44 45 302 C1

15

L10 korrigierte Fig. 2 des Streitpatentes

16

L11 WO 95/33540 A1

17

L12 zeichnerische Darstellung

18

L13 DE 38 08 406 A1.

19

Die Klägerin beantragt,

20

den deutschen Teil des europäischen Patents EP 0 799 436 (DE 569 01 140) in vollem Umfang für nichtig zu erklären.

21

Der Beklagte beantragt,

22

die Klage abzuweisen;

23

hilfsweise verteidigt er das Streitpatent mit den Anspruchssätzen nach Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 und Hilfsantrag 2 und den sich hieran jeweils anschließenden Patentansprüchen 2 bis 13 entsprechend der B2-Schrift des Streitpatents, wobei die Patentansprüche 6, 10 bis 13 entsprechend der B2-Schrift des Streitpatents auch isoliert verteidigt werden. Der Beklagte beantragt insoweit sinngemäß:

24

Hilfsantrag 1

25

Die Klage abzuweisen, soweit der nach der B2-Schrift geltende Patentanspruch 1 mit der Maßgabe verteidigt wird, dass für das Merkmal „wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist“ bei der Beurteilung der Patentfähigkeit die Priorität aus der L2 nicht beansprucht wird und nicht berücksichtigt wird.

26

Hilfsantrag 2

27

Weiter hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Streitpatent mit der Maßgabe verteidigt wird, dass für das Merkmal „wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist“ bei der Beurteilung der Patentfähigkeit die Priorität aus der L2 nicht beansprucht und nicht berücksichtigt wird und Patentanspruch 1 wie folgt lautet

28

(Änderung gegenüber dem geltenden Patentanspruch 1 doppelt unterstrichen):

29

1. Verwendung eines Bildprojektors (12), einer reflektierenden Fläche (18) und einer glatten transparenten und teilreflektierenden Folie (20), die 30 % – 50 % des auf sie treffenden Lichts reflektiert, zum Darstellen von Bildern im Hintergrund einer Bühne (28) oder dergleichen, wobei die reflektierende Fläche (18) auf dem Boden (30) der Bühne (28) in deren mittlerem Bereich angeordnet ist und die Folie (20) zwischen dem Boden (30) und der Decke (32) der Bühne (28) über deren gesamter Breite derart verläuft, daß ihr unteres Ende an einer Stelle zwischen der reflektierenden Fläche (18) und dem Hintergrund der Bühne (28) und ihr oberes Ende an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und der Bildprojektor (12) an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und der Bildprojektor (12) an der Decke (32) vor dem dort gehaltenen oberen Ende der Folie (20) angeordnet und auf die reflektierende Fläche (18) gerichtet ist, so daß das vom Bildprojektor (12) projizierte Licht zuerst von der reflektierenden Fläche (18) teilweise reflektiert wird, so daß aus dem reflektierten Licht ein virtuelles Bild (26) im Hintergrund der Bühne (28) entsteht, wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist und unter Zugspannung steht.

30

Der Beklagte tritt den Ausführungen der Klägerin in allen Punkten entgegen und hält das Streitpatent für patentfähig. Es nehme insbesondere die Priorität des Gebrauchsmusters zu Recht in Anspruch. Jedenfalls müsse die hilfsweise beantragte Disclaimerlösung dahingehend möglich sein, dass im Sinne der Entscheidungen Prioritätsdisclaimer (BPatG) und Winkelmesseinrichtung (BGH) Merkmal M5 nicht mitgelesen werde und damit nicht prioritätsschädlich sei. An einer unzulässigen Erweiterung fehle es ebenfalls. Auch die Zusammenschau der übrigen von der Klägerin genannten Dokumente führe nicht dazu, dass der Lehre des Streitpatents die erfinderische Tätigkeit fehle.

31

Zwischen den Parteien ist ein Patentverletzungsverfahren anhängig. Das Landgericht Düsseldorf hat im Verfahren 4b O 128/07 die Klage abgewiesen. Dagegen hat der hiesige Beklagte Berufung zum Oberlandesgericht Düsseldorf (I-2 U 7/09) eingelegt.

32

Der Senat hat den Parteien einen frühen gerichtlichen Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG zugeleitet. Auf den Inhalt dieses Hinweises vom 29. November 2012 wird Bezug genommen (Bl. 100/108 d. A.).

33

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze samt allen Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

34

Die zulässige Klage, mit der die in Artikel II § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 3 IntPatÜG, Artikel 138 Absatz 1 lit. a) und c) EPÜ i. V. m. Artikel 54 Absatz 1, 2 und Artikel 56 EPÜ vorgesehenen Nichtigkeitsgründe der unzulässigen Erweiterung und der mangelnden Patentfähigkeit geltend gemacht werden, erweist sich als begründet. Der Streitpatentgegenstand ist unzulässig erweitert und zudem nicht erfinderisch. Dies führt antragsgemäß zur uneingeschränkten Nichtigerklärung des Streitpatents.

I.

35

1. Nach den Angaben in der Beschreibungseinleitung betrifft das Streitpatent die Verwendung eines Bildprojektors, einer reflektierenden Fläche und einer glatten transparenten und teilreflektierenden Folie zum Darstellen sich bewegender Bilder im Hintergrund einer Bühne oder dergleichen unter Verwendung eines Bildprojektors (vgl. Absatz [0001] der Streitpatentschrift).

36

Bei einem Diavortrag projiziert der Vortragende feststehende Bilder auf eine Leinwand. Er selbst steht außerhalb des Lichtkegels zwischen Projektor und Leinwand und kommentiert die Bilder. Statt des Diaprojektors kann der Vortragende auch einen Filmapparat benutzen. Dann erscheinen bewegliche Bilder auf der Leinwand, und der Vortragende kommentiert diese. In beiden Fällen steht der Vortragende außerhalb des Lichtkegels. Er erscheint nicht auf dem oder in dem Bild selbst. Falls er in den Lichtkegel hineintreten würde, würde er einen Teil des Lichtstrahls abdecken. Statt des Bildes würde dann der Schatten des Vortragenden auf der Leinwand erscheinen. Falls der Vortragende seine Zuschauer auf eine bestimmte Stelle im Bild hinweisen will, verwendet er hierzu einen Zeigestock oder eine Lampe mit einem scharf gebündelten Lichtstrahl (vgl. Absatz [0002] der Streitpatentschrift).

37

Die obige Art des Vortrages reicht für Bild- und Filmvorträge von Foto- und Filmamateuren aus. Auch Reisende, die einem großen Zuschauerkreis Filme oder Dias von ihren Reisen zeigen, können diese Vortragsart ohne Schaden verwenden. Die Zuschauer interessieren sich nur für den Film oder die Dias und die Worte des Vortragenden. Der Art des Vortrags und dem technischen Beiwerk messen sie nur eine geringe Bedeutung zu (vgl. Absatz [0003] der Streitpatentschrift).

38

Die Lage ist anders, wenn die Zuschauer kein besonderes Interesse an den zu zeigenden Gegenständen haben und ein Interesse erst noch geweckt werden muss. Etwas anderes gilt auch dann, wenn sich der Filmvortrag aus übergeordneten Gründen auf einem hohen technischen Niveau abspielen oder der Filmvortrag aufgelockert und mit sogenannten Schaueffekten verbunden werden soll (vgl. Absatz [0004] der Streitpatentschrift).

39

Bei Bild- und Filmvorträgen, sei es bei Verkaufs- und Werbeveranstaltungen, in Museen, in Schulen usw., ist es erwünscht, sie locker zu gestalten und dabei dem Vortragenden die Möglichkeit zu geben, selbst in das Bild hineinzutreten, ohne dadurch die Wiedergabe des Bildes auf einer Leinwand oder allgemein auf einer Fläche zu stören.

40

2. Der Erfindung liegt nach Angaben der Streitpatentschrift die Aufgabe zugrunde, eine solche lockere Gestaltung von Film- und Bildvorträgen und ähnlichem zu ermöglichen, bei dem der Vortragende oder die Vortragenden selbst in das Bild hineintreten können. Damit kann die Aufmerksamkeit der Zuschauer erregt und/oder verstärkt werden. Weiter lässt sich das Bild oder lassen sich einzelne Bildelemente besser erläutern (vgl. Absatz [0008]).

41

3. Diese Aufgabe soll durch die Verwendung eines Bildprojektors in Verbindung mit den Merkmalen des Anspruchs 1 gelöst werden.

42

Der mit Gliederungspunkten versehene Patentanspruch 1, wie er gemäß Hauptantrag verteidigt wird, lautet in deutscher Sprache:

43

M1 Verwendung eines Bildprojektors (12), einer reflektierenden Fläche (18) und einer glatten transparenten und teilreflektierenden Folie (20) zum Darstellen von Bildern im Hintergrund einer Bühne (28) oder dergleichen,

44

M2 wobei die reflektierende Fläche (18) auf dem Boden (30) der Bühne (28) in deren mittlerem Bereich angeordnet ist und

45

M3 die Folie (20) zwischen dem Boden (30) und der Decke (32) der Bühne über deren gesamter Breite derart verläuft,

46

M3a dass ihr unteres Ende an einer Stelle zwischen der reflektierenden Fläche (18) und dem Hintergrund der Bühne (28) und

47

M3b ihr oberes Ende an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und

48

M4 der Bildprojektor (12) an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und

49

M4a der Bildprojektor (12) an der Decke (32) vor dem dort gehaltenen oberen Ende der Folie (20) angeordnet und

50

M4b auf die reflektierende Fläche (18) gerichtet ist,

51

M4c so dass das vom Bildprojektor (12) projizierte Licht zuerst von der reflektierenden Fläche (18) teilweise reflektiert wird,

52

M4d so dass aus dem reflektierten Licht ein virtuelles Bild (26) im Hintergrund der Bühne entsteht,

53

M5 wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist

54

M5a und unter Zugspannung steht.

55

Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 ist mit Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag identisch. Er weist nur zusätzlich einen Hinweis im Sinne eines Disclaimers auf.

56

Der mit Gliederungspunkten versehene Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 lautet (Änderung gegenüber Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag und Hilfsantrag 1 doppelt unterstrichen):

57

M1a Verwendung eines Bildprojektors (12), einer reflektierenden Fläche (18) und einer glatten transparenten und teilreflektierenden Folie (20), die 30 % bis 50 % des auf sie treffenden Lichts reflektiert, zum Darstellen von Bildern im Hintergrund einer Bühne (28) oder dergleichen,

58

M2 wobei die reflektierende Fläche (18) auf dem Boden (30) der Bühne (28) in deren mittlerem Bereich angeordnet ist und

59

M3 die Folie (20) zwischen dem Boden (30) und der Decke (32) der Bühne über deren gesamter Breite derart verläuft,

60

M3a dass ihr unteres Ende an einer Stelle zwischen der reflektierenden Fläche (18) und dem Hintergrund der Bühne (28) und

61

M3b ihr oberes Ende an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und

62

M4 der Bildprojektor (12) an der Decke (32) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist, und

63

M4a der Bildprojektor (12) an der Decke (32) vor dem dort gehaltenen oberen Ende der Folie (20) angeordnet und

64

M4b auf die reflektierende Fläche (18) gerichtet ist,

65

M4c so dass das vom Bildprojektor (12) projizierte Licht zuerst von der reflektierenden Fläche (18) teilweise reflektiert wird,

66

M4d so dass aus dem reflektierten Licht ein virtuelles Bild (26) im Hintergrund der Bühne entsteht,

67

M5 wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist

68

M5a und unter Zugspannung steht.

69

Hinsichtlich der erteilten Unteransprüche 2 bis 13 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.

70

4. Der für die objektive Problemlösung berufene Fachmann ist nach Auffassung des Senats ein berufserfahrener Fachhochschul-Ingenieur der Fachrichtung Elektrotechnik oder Optik mit Erfahrungen im Bereich der Theater- und Veranstaltungstechnik.

II.

71

1. Die erfindungsgemäße Lehre nach Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag ist gegenüber dem Inhalt der Anmeldung unzulässig erweitert.

72

Zum Offenbarungsgehalt einer Patentanmeldung gehört im Zusammenhang mit der Frage, ob eine unzulässige Erweiterung vorliegt, nur das, was der Gesamtheit der ursprünglich eingereichten Unterlagen „unmittelbar und eindeutig“ als zur angemeldeten Erfindung gehörig zu entnehmen ist, nicht hingegen eine weitergehende Erkenntnis, zu der der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens oder durch Abwandlung der offenbarten Lehre gelangen kann (BGH, Urt. v. 16. Dezember 2008, X ZR 89/07, GRUR 2009, 382, 384 – Rn. 25 – Olanzapin; Urt. v. 8. Juli 2010, Xa ZR 124/07, GRUR 2010, 910, 914 – Rn. 46 – Fälschungssicheres Dokument).

73

Merkmal M1 - betreffend die „teilreflektierende Folie“ – ist in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen (L3) weder explizit noch implizit in dieser Allgemeinheit offenbart. In den Anmeldeunterlagen ist nämlich lediglich angegeben (vgl. Seite 4, zweiter Absatz), dass „die Folie 30 % bis 50 %, vorzugsweise 30 % des auf sie treffenden Lichts reflektieren soll“. Der Fachmann wird den Offenbarungsgehalt der Anmeldung hierauf beschränkt sehen. Denn der Fachmann billigt Zahlen-, Maß- oder Bereichsangaben in aller Regel einen höheren Grad an Eindeutigkeit und Klarheit zu, als dies bei verbal umschriebenen Elementen der erfindungsgemäßen Lehre der Fall wäre. Denn Zahlen sind als solche eindeutig, während sprachlich formulierte allgemeine Begriffe eine gewisse Abstraktion von dem durch sie bezeichneten Gegenstand bedeuten. Solche Zahlen-, Maß- oder Bereichsangaben sind daher nicht als minder verbindliche, lediglich beispielhafte Festlegungen der geschützten technischen Lehre anzusehen (BGH, Urteil vom 12. März 2002 – X ZR 168/00, GRUR 2002, 515, 517 – Schneidmesser I). Eine Verallgemeinerung dahingehend, dass die Folie ohne konkrete Beschränkung teilreflektierend sein soll, was auch Reflektionsgrade außerhalb des oben genannten Bereichs, d. h. von über 0 % bis unter 30 % oder von über 50 % bis unter 100 % beinhalten würde, ist der Offenbarung nicht unmittelbar und eindeutig als zur Erfindung gehörend zu entnehmen (BGH, a. a. O., Rn. 25 – Olanzapin). Anhaltspunkte dafür, dass der Fachmann von der Regel abweichend diesen Offenbarungsgehalt verallgemeinert und zur Erfindung gehörend versteht, bestehen nicht.

74

Der Beklagte hat zwar vorgetragen, dass sowohl der L2 (S. 2 u. 3; S. 6 oben) als auch der L3 bereits zwei Eigenschaften der Folie zu entnehmen gewesen seien, nämlich einerseits die Reflexion (des virtuellen Bildes) und zugleich andererseits die Transparenz (Blick auf den Vortragenden). Dies bedeute zwangsläufig, dass die Folie weder komplett transparent noch komplett spiegelnd, und somit „teilreflektierend“ habe sein müssen. Der Hinweis (L3, S. 4 Mitte), dass eine Folie mit 30 bis 50 %, bevorzugt mit 30 %, sich besonders gut für die erfindungsgemäßen Zwecke eigne, bilde nur ein Ausführungsbeispiel, nicht die Qualität bzw. Eigenschaften der Folie generell. Die Lehre im Anspruch 1 sei breiter. Diese Auffassung verkennt jedoch, dass auch unter Berücksichtigung des Wortlauts von Patentanspruch 1 die Gesamtoffenbarung nicht so verallgemeinert interpretiert werden kann, dass die Bereichsangabe von 30 % - 50 % nur als präferierter Bereich bzw. als Ausführungsbeispiel angegeben ist. Dem steht insbesondere der Wortlaut der Anmeldung entgegen, dass als bevorzugter Reflexionswert lediglich ein Wert von 30 % angegeben ist, nicht der gesamte Bereich von 30-50 %. Der Fachmann, der sich mit Vorrichtungen zum Darstellen bewegter Bilder auskennt, weiß ferner, dass die Gesamtausleuchtung eine Rolle spielt, da das virtuelle Bild und der durch die transparente Folie real zu erkennende Körper in ähnlicher Weise beleuchtet sein müssen, um für den Zuschauer in etwa gleich hell zu erscheinen. Zu hohe, z. B. über 80 %, oder zu geringe, z. B. unter 15 % liegende Reflexionsgrade kann er deshalb von vorneherein ausschließen, da dann entweder das virtuelle Bild zu dunkel und der Körper zu hell - oder umgekehrt - erscheinen würde und ein Ausgleich über die Helligkeit des Projektors und die Bühnenbeleuchtung ohne übertriebenen Aufwand bzw. gar nicht mehr möglich ist. Außerdem besteht bei zu hohen Reflexionsgraden die Gefahr, dass die Zuschauer die Folie bemerken. Die Angabe von Bereichen für Reflexionsgrade entspricht deshalb von vornherein dem technischen Verständnis des Fachmanns und seiner Erwartung. Hinzu kommt, dass teilreflektierende Folien zum Anmeldezeitpunkt noch nicht üblich waren - was beide Parteien bestätigt haben – so dass für den Fachmann, der die technische Lehre realisieren sollte, eine Bereichsangabe als Voraussetzung für die erfolgreiche Ausführung der Lehre besonders wichtig war und aus seiner Sicht deshalb nicht so zu verstehen war, dass diese Angabe nur Relevanz im Rahmen einer präferierten Ausführungsform erlangen sollte.

75

2. Im Übrigen wäre der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag auch nicht erfinderisch gegenüber dem aus der Druckschrift L2 bekannten Stand der Technik wie die Ausführungen zu dem weiter eingeschränkten Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 zeigen.

III.

76

1. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 ist aus den vorgenannten Gründen ebenfalls unzulässig erweitert, der Hilfsantrag 1 deshalb bereits auf eine unzulässig geänderte Fassung gerichtet.

77

Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 1 ist seinem Wortlaut nach mit dem Hauptantrag identisch. Soweit der Beklagte diesen eingeschränkt mit einem sog. Prioritätsdisclaimer bezüglich des Merkmals M5 – „wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist“ – verteidigt, führt dies nicht zur Beseitigung der unzulässigen Erweiterung hinsichtlich des Teilmerkmals „teilreflektierende Folie“ zu M1.

78

2. Im Übrigen wäre der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 1 auch nicht zulässig, weil der Beklagte diesen mit einem unzulässigen Prioritätsdisclaimer verteidigt, wie auch die beanspruchte Lehre gegenüber dem aus der Druckschrift L2 bekannten Stand der Technik nicht erfinderisch ist. Insoweit wird auf die folgenden Ausführungen zu dem weiter eingeschränkten Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 verwiesen.

IV.

79

Hilfsantrag 2 enthält in Merkmal M1a eine Beschränkung in Bezug auf die teilreflektierende Folie durch Einfügen der Bereichsangabe „die 30 % bis 50 % des auf sie treffenden Lichts reflektiert“. Dies entspricht nach den Ausführungen unter II. 1. den Angaben in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen L3. Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 ist insoweit zulässig geändert. Soweit Hilfsantrag 2 daneben einen Prioritätsdisclaimer enthält, erweist sich dieser und damit auch der Gegenstand des Hilfsantrags als unzulässig beschränkt.

80

1. Art. 87 Abs. 1 EPÜ gewährt jedermann für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von 12 Monaten nach Einreichung der ersten Anmeldung ein Recht auf Inanspruchnahme der Priorität. Die Inanspruchnahme der Priorität einer früheren Anmeldung setzt jedoch gem. Art. 88 EPÜ voraus, dass die Prioritätsunterlagen die Gesamtheit der Merkmale der durch den geltenden bzw. verteidigten Patentanspruch umschriebenen technischen Lehre deutlich offenbaren, wobei eine Übereinstimmung auch nachträglich durch zulässige Beschränkung des Anspruchs hergestellt werden kann. Wird die erfindungsgemäße Lehre durch eine im Prioritätsdokument nicht (deutlich) offenbarte Eigenschaft eines ihrer Bestandteile charakterisiert, fehlt es an einer Offenbarung im Prioritätsdokument (BGH Urteil vom 14. Oktober 2003 – X ZR 4/00, GRUR 2004, 133, 135 – Elektrische Funktionseinheit; Urteil vom 14. August 2012 – X ZR 3/10, GRUR 2012, 1133 – Rdn. 31 f. – UV-unempfindliche Druckplatte; Urteil vom 30. Januar 2008 – X ZR 107/04 – GRUR 2008, 597 – Rdn. 17a – Betonstraßenfertiger; Urteil vom 11. September 2001 – X ZR 168/98, GRUR 2002, 146 – Luftverteiler).

81

1.1. Das deutsche Gebrauchsmuster als Prioritätsdokument (L2) stimmt hinsichtlich des Offenbarungsgehaltes zu der in Patentanspruch 1 beanspruchten „teilreflektierenden Folie“ mit dem Wortlaut der europäischen Patentanmeldung L3 überein, so dass insoweit auf das oben unter II. 1. und III. Gesagte verwiesen werden kann. Danach fehlt es schon wegen des Merkmals M1 bei der mit Hauptantrag und Hilfsantrag 1 verteidigten Fassung von Patentanspruch 1 an der von Art. 87 EPÜ vorausgesetzten Identität der Erfindungen für eine wirksame Inanspruchnahme der Priorität. Mit dem gestellten Hilfsantrag 2 hat der Beklagte den Wortlaut des Patentanspruchs 1 entsprechend der Prioritätsschrift eingeschränkt auf eine Folie, „die 30 % – 50 % des auf sie treffenden Lichts reflektiert“, die insoweit auch in der Prioritätsschrift bereits offenbart ist, so dass die Voraussetzungen für die wirksame Inanspruchnahme der Priorität in diesem Punkt erfüllt wären.

82

1.2. Nicht als zur beanspruchten Erfindung gehörend offenbart in der prioritätsbegründenden Schrift L2 ist jedoch das auch in Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 enthaltene Merkmal M5 „wobei die Folie (20) eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist“. Das Streitpatent kann deshalb für die Merkmalsgesamtheit des Patentanspruchs 1 die Priorität der deutschen Gebrauchsmusteranmeldung (L2) vom 20. September 1995 nicht wirksam in Anspruch nehmen. Die L2 enthält weder ausdrückliche Größenangaben betreffend die Fläche der Folie noch sonstige Angaben oder Figuren, aus denen die konkret beanspruchte Flächenangabe unmittelbar und eindeutig entnommen werden könnte. Auch die Darstellung eines Fahrzeugs und einer Person auf einer Bühne enthalten keine derartige unmittelbare Offenbarung. Insbesondere enthält die L2 keine Offenbarung, dass die Fläche „mindestens 3 m mal 4 m aufweist“. Dieses Merkmal findet sich erst in der PCT-Anmeldung WO 97/11405 (L3) vom 31. August 1996 in dem – auf Patentanspruch 6 rückbezogenen – Patentanspruch 7.

83

Wie auch der Beklagte zutreffend erkannt und deshalb nicht beansprucht hat, ist auch eine Streichung des Merkmals M5 zur Rettung der Priorität nicht möglich, da dies im Hinblick auf die hiermit verbundene Erweiterung des Schutzbereichs des erteilten Patentanspruchs zu einer unzulässigen Änderungen des Patentanspruchs und zu einem neuen Nichtigkeitsgrund gemäß § 138 Abs. 1 lit. d) EPÜ führen würde.

84

Damit gilt für das Streitpatent der Zeitrang des Anmeldetags vom 31. August 1996 und die Druckschrift L2 zählt aufgrund ihres Eintragungstages 7. Dezember 1995 zum vorveröffentlichten Stand der Technik, der sowohl für die Prüfung der Neuheit wie auch der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen ist. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Patentinhaber Anmelder der L2 ist und mithin eine Selbstkollision vorliegt, da das EPÜ diese im Rahmen der Beurteilung der Patentfähigkeit nicht ausschließt (vgl. auch EPA T 14443/05, Beschl. v. 4. Juni 2008 – Biozidzusammensetzung; kritisch Drope Mitt. 2012, 494).

85

2. Nicht in Anspruch nehmen kann der Beklagte einen sog. Prioritätsdisclaimer dahingehend, dass das Merkmal M5 bei der Prüfung der Patentfähigkeit nicht berücksichtigt wird, zugleich aber dem Patentgegenstand der Zeitrang der Prioritätsanmeldung zukommen soll. Denn nach Überzeugung des Senats ist ein solcher Prioritätsdisclaimer, der weder im EPÜ noch im PatG geregelt ist, nicht zulässig. Hiermit würden auch die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung überschritten, wonach der Richter sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen darf, an diesen gebunden ist und deshalb die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren muss (hierzu BVerfG Beschl. v. 25. Januar 2011, 1 BvR 918/10 = BVerfGE 128, 193; Beschl. v. 14. Februar 1973, 1 BvR 112/65 = BVerfGE 34, 269).

86

2.1. Der Bundesgerichtshof (a. a. O., GRUR 2012, 1133 – UV-unempfindliche Druckplatte; a. a. O., GRUR 2008, 597 – Betonstraßenfertiger; a. a. O., GRUR 2004, 133 – elektrische Funktionseinheit; a. a. O., GRUR 2002, 146 – Luftverteiler) hat bisher in seiner Rechtsprechung die Frage nach einem „Prioritätsdisclaimer“ nicht erörtert, obwohl die Rechtsprechung Fälle umfasst, in denen Abweichungen von Vor- und Nachanmeldung als nicht prioritätsschädlich betrachtet werden. Eine Lösung wurde ausschließlich in der Anwendung und Grenzziehung der für die Inanspruchnahme einer Priorität vorausgesetzten Erfindungsidentität gesucht.

87

Beruhen die Erfindungen der Vor- und Nachanmeldung eindeutig auf dem gleichen Gedanken, stehen Abweichungen bei der Ausgestaltung dieses Erfindungsgedankens in der Nachanmeldung der wirksamen Prioritätsinanspruchnahme nicht in jedem Fall entgegen. Ein solcher Fall kann z. B. dann vorliegen, wenn zur Vermeidung einer unbilligen Beschränkung des Anmelders bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehaltes auch Verallgemeinerungen ursprungsoffenbarter Ausführungsbeispiele zugelassen werden (BGH, a. a. O. – Rn. 32 f. – UV-unempfindliche Druckplatte). Die Grenze des Zulässigen sei erst dann überschritten, wenn mit der Abstraktion auf eine als solche nicht genannte oder für den Fachmann ohne Weiteres erkennbare Eigenschaft abgehoben werde. Dies gelte ausdrücklich auch für die Prioritätsbeanspruchung (a. a. O.). Ebenso wenig wird das Prioritätsrecht der Nachanmeldung davon berührt, dass ihr Gegenstand erst nach Patenterteilung in Folge nachträglicher Beschränkung deckungsgleich mit der prioritätsbegründenden Anmeldung wird (BGH, Urteil vom 14. Oktober 2003, GRUR 2004, 133, 135 - elektronische Funktionseinheit; Benkard/Ullmann/Grabinski, EPÜ, X. Auflage, Art. 88 Rn. 10 m. w. N.) oder davon, dass eine technische Wirkung im erteilten Patent beansprucht ist, die in der Prioritätsanmeldung nicht angegeben war (BGH, Urteil vom 30. Januar 2008 – X ZR 107/04 – GRUR 2008, 597 – Rn. 23 – Betonstraßenfertiger). Keine der vorgenannten Konstellationen betrifft den vorliegenden Fall. Der Senat sieht keine Möglichkeit unter Anwendung dieser Grundsätze Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 die Priorität der L2 zuzubilligen.

88

2.2. In der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts wird die Frage nach der Priorität restriktiv behandelt und insbesondere eine Disclaimerlösung nicht anerkannt. Die Große Beschwerdekammer des EPA (Stellungnahme vom 31. Mai 2001, G 2/98, GRUR Int. 2002, 80 ff.) hat festgestellt, dass durch die Wirkung des Prioritätsrechts gem. Art. 89 EPÜ, die darin besteht, dass der Prioritätstag für die Anwendung des Art. 54 Abs. 2 und 3 EPÜ und Art. 60 Abs. 2 EPÜ als Tag der europäischen Patentanmeldung gilt, kein Nachanmelder begünstigt werden dürfe. Die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäß Art. 88 EPÜ sei nur dann anzuerkennen, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen könne. Nur demjenigen Anmelder stehe das Patent zu, der den beanspruchten Gegenstand in seiner Gesamtheit zuerst offenbart habe (ebenso BGH, a. a. O. – GRUR 2002, 146, 147 - Luftverteiler). Die restriktive Behandlung der Prioritätsfrage durch die Große Beschwerdekammer ist nicht unwidersprochen geblieben (vgl. Drope, Innere Priorität im europäischen Patentsystem, Mitt. 2012, 494 ff.). Sie ist jedoch durch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern (T 1443/05 und T 0680/08) angewendet und vertieft worden. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung „Luftverteiler“ die Auffassung der Großen Beschwerdekammer bestätigt, dass es der Rechtssicherheit der Beurteilung einer wirksamen Prioritätsinanspruchnahme unzuträglich wäre, wenn bei der Nachanmeldung hinzugefügte Merkmale danach zu unterscheiden wären, ob sie Funktion und Wirkung der Erfindung im Sinne des technischen Sinngehalts der ursprünglichen Merkmalskombination beeinflussten oder nicht (vgl. insoweit abweichend BGH, a. a. O., GRUR 2008, 597, 599 – Rdn. 23 – Betonstraßenfertiger). Auch eine - ursprünglich von den Technischen Beschwerdekammern des EPA praktizierte und von der Großen Beschwerdekammer abgelehnte – Unterscheidung nach wesentlichen und unwesentlichen Zusatzmerkmalen, widerspräche den Anforderungen an die Rechtssicherheit. Auch insoweit sieht der Senat keine Möglichkeit zu einer abweichenden Bewertung zu gelangen.

89

2.3. Der Beklagte hat dagegen auf zwei Entscheidungen hingewiesen, die er auf den vorliegenden Fall für anwendbar bzw. übertragbar hält, zum Einen die Entscheidung des Bundespatentgerichts „Prioritätsdisclaimer“ (Beschluss vom 30. April 2003 – 20 W (pat) 63/02, GRUR 2003, 953 ff.) und die Entscheidung des Bundesgerichtshofs „Winkelmesseinrichtung“ (Beschluss vom 21. Oktober 2012 - Xa ZB 14/09, GRUR 2011, 40), die den verwandten Problembereich der unzulässigen Erweiterung der Anmeldung betrifft.

90

Das Bundespatentgericht hat in seiner Entscheidung „Prioritätsdisclaimer“ die Auffassung vertreten, dass ein Patent beschränkt aufrecht erhalten werden könne, obwohl der Patentanspruch ein Merkmal enthält, das über den Inhalt der Prioritätsanmeldung hinausgeht, wenn der Patentanspruch erstens eine in der Prioritätsanmeldung offenbarte patentfähige Unterkombination enthalte und zweitens in den Patentanspruch eine Erklärung des Inhalts aufgenommen werde, dass das in Rede stehende Anspruchsmerkmal über den Inhalt der Prioritätsanmeldung hinausgeht und die Patentfähigkeit bei Berücksichtigung des Zeitrangs der Prioritätsanmeldung nicht stützen kann (ablehnend: Schulte/Moufang, Patentgesetz, 8. Aufl. (2008), § 41 Rn. 41; zustimmend: Fitzner/Beckmann, Patentrechtskommentar, 4. Aufl. (2012), § 41 Rn. 45; Brandt/Busse, PatG, 7. Aufl. (2012), § 41 Rn. 30 a. E., 32; Kraßer, Rudolf, Patentrecht. 6. Aufl., S. 509).

91

Erkennt man den Prioritätsdisclaimer an, so ergibt sich auch eine Veränderung in zeitlicher Hinsicht, nämlich die Zeitrangverschiebung für den Stand der Technik. Darauf hat das Bundespatentgericht ausdrücklich hingewiesen (a. a. O., Rn. 46, Rn. 66). Der Gesamtheit der Merkmale kam nämlich der Zeitrang des (deutschen) Anmeldetags zu, mit der Folge, dass dieser für den maßgeblichen Stand der Technik entscheidend war. Die im Patentanspruch enthaltene Kombination der anderen Merkmale (als sog. Unterkombination bezeichnet) – ohne das später offenbarte einschränkende Merkmal – war dagegen bereits in der Prioritätsanmeldung offenbart. Deshalb sollte für diese als Zeitrang der Anmeldetag der Prioritätsanmeldung gelten, mit der Folge, dass für den maßgeblichen Stand der Technik und die heranzuziehenden Druckschriften auf diesen abzustellen ist, während der Schutzumfang durch das später offenbarte und in den Patentanspruch aufgenommene Merkmal weiter mitbestimmt und beschränkt wird.

92

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs „Winkelmesseinrichtung“ beschäftigt sich mit dem – der Prioritätsfrage – verwandten Problembereich der unzulässigen Erweiterung des Inhalts der Anmeldung (BGH, Beschl. vom 21. Oktober 2012 - Xa ZB 14/09, GRUR 2011, 40 – Winkelmesseinrichtung; vgl. zur Frage des verwandten Problembereichs auch Urt. v. 8. Juli 2010 - Xa ZR 124/07, GRUR 2010, 910 – Rn. 62 – fälschungssicheres Dokument) und deren Folgen. Der Bundesgerichtshof hat für ein deutsches Patent eine solche Möglichkeit gesehen, wie sie auch der ständigen Praxis des Bundespatentgerichts im Rahmen der sog. Disclaimerlösung entspricht (vgl. hierzu auch Senat Urt. v. 3. Juli 2012, 4 Ni 15/10 (EP), 4 Ni 20/10 (EP), GRUR 2013, 609 - Unterdruckverband).

93

2.4. Der Senat hält weder die von der nationalen Rechtsprechung jedenfalls für deutsche Patente anerkannte Disclaimerlösung im Rahmen unzulässiger Erweiterungen entsprechend für anwendbar, noch teilt der Senat die vereinzelt gebliebene Entscheidung des 20. Senats (a. a. O., GRUR 2003, 953 ff.) zum sog. Prioritätsdisclaimer. Bei der Beanspruchung der Priorität nach Art. 87 EPÜ – wie im Übrigen auch nach §§ 40, 41 PatG – geht es um die Erfindungsidentität, die für die Inanspruchnahme der Priorität erforderlich ist. Kann der Patentinhaber nicht den Zeitrang der Priorität in Anspruch nehmen, sondern nur den Anmeldetag der Patentanmeldung, kann sich für ihn ggfls. der entgegenstehende Stand der Technik zur Prüfung der Patentfähigkeit verändern (Art. 138 Abs. 1 lit. a), Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG). Ähnlich zu beurteilen ist die Frage der ursprünglichen Offenbarung von Änderungen im Streitpatent gegenüber der Patentanmeldung.

94

2.4.1. Bei der unzulässigen Erweiterung ist zwar gleichermaßen im Rahmen eines allerdings abweichenden Nichtigkeitsgrundes (Art. 138 Abs. 1 lit. c), Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG) zu prüfen, ob der geltende Patentanspruch eine unzulässige, weil später offenbarte Einschränkung enthält, die über den Inhalt der maßgeblichen Anmeldung (sei es Prioritätsanmeldung, sei es Patentanmeldung) hinausgeht. Im Falle der Winkelmesseinrichtung (BGH, a. a. O., Rn. 18, 19) konnte ein - nicht als zur Erfindung in den ursprünglich eingereichten Unterlagen gehörend offenbartes – Merkmal, dessen Streichung oder Ersetzung zu einer unzulässigen Erweiterung geführt hätte, im Patentanspruch verbleiben, da seine Einfügung zu einer Einschränkung gegenüber dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen geführt hatte (ebenso BPatG, a. a. O., GRUR 2003, 953, III.3.c)). Anders als das Bundespatentgericht hat der Bundesgerichtshof aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er die Einfügung eines Hinweises („nach Art eines Disclaimers“) in einem solchen Fall nicht für erforderlich halte (BGH, a. a. O., Rn. 16). Ferner hat er darauf hingewiesen (a. a. O., Rn. 19), dass sein theoretischer Ansatz möglicherweise mit der Auffassung der Großen Beschwerdekammer des EPA nicht im Einklang stehe, diesem Gesichtspunkt für das deutsche Recht allerdings keine Bedeutung zukomme, da dieses eine Regelung entsprechend Art. 123 Abs. 2 EPÜ nicht kenne.

95

2.4.2. Allerdings unterscheiden sich die für die Frage der Anerkennung eines Prioritätsdisclaimers maßgeblichen Aspekte doch wesentlich hinsichtlich der zu fordernden Anwendungsvoraussetzungen sowohl hinsichtlich der maßgeblichen Aspekte ausreichender Einzelfallgerechtigkeit als auch andererseits der Grenzen einer zu wahrenden Rechtssicherheit.

96

Eröffnete man auch im Rahmen der Priorität die Möglichkeit, bei unveränderter Anspruchsformulierung schutzbeschränkende Erklärungen aufzunehmen, um die erforderliche Identität zwischen Prioritätsdokument und Patentanspruch herzustellen, insbesondere auch um eine etwaige Selbstkollision bei der Patentfähigkeit zu vermeiden, oder aber auch die Vorteile einer Prioritätsinanspruchnahme gegenüber sonstigem Stand der Technik auszuschöpfen, betonte man nicht nur das Bedürfnis einer nur so zu wahrenden Einzelfallgerechtigkeit gegenüber dem formalen Aspekt der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes der Öffentlichkeit. Die Anerkennung eines Prioritätsdisclaimers würde darüber hinaus eine vom Gesetz nicht vorgesehene Begünstigung des Patentinhabers bewirken, die ihm im Sinne eines Wahlrechts eine Entscheidung für oder gegen eine prioritätswahrende Verteidigung des Patents gegen den Stand der Technik ermöglichte.

97

Der Bundesgerichtshof erkennt zwar in seiner Entscheidung „Winkelmesseinrichtung“ ein Bedürfnis nach Korrektur einer sog. uneigentlichen Erweiterung an und stellt die materielle Gerechtigkeit bei der Interessenabwägung über den formellen Aspekt „erweiternder“ Patentansprüche. Das bedeutet, dass unter Zurückstellung formaler Aspekte, die die Große Beschwerdekammer des EPA ihrerseits betont hat, der Gedanke der Einzelfallgerechtigkeit Vorrang erhält. Entsprechend hat das Bundespatentgericht in „Prioritätsdisclaimer“ festgestellt, dass bei der dargelegten Sachlage das Interesse der Allgemeinheit es – im Gegensatz zum Interesse des Patentinhabers – nicht erfordere, ein Patent vollständig zu widerrufen bzw. zu vernichten.

98

Insoweit unterscheidet sich die Frage, ob der Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit eine Korrekturmöglichkeit gebietet, bereits in ihrem Ausgangspunkt. Die Frage einer unzulässigen Erweiterung ist im Prüfungsverfahren vor dem Deutschen Patent- und Markenamt oder dem Europäischen Patentamt vom Patentprüfer bei der Patenterteilung oder bei Änderungen von erteilten Patentansprüchen von Amts wegen zu beachten. Insbesondere wenn der Prüfer die Änderung/Einschränkung eines Merkmals anregt, wird sich der Patentanmelder dieser Anregung schon deshalb nicht verschließen, da er andernfalls kein Patent erhalten wird. Beurteilt das Patentamt oder das Gericht diese Änderung/Einschränkung eines Merkmals später als unzulässig, liegt der Fehler nicht nur im Verantwortungsbereich des Anmelders bzw. Patentinhabers, sondern auch beim Amt oder Gericht. Insoweit ist ein Bedürfnis nach Korrektur anzuerkennen, dem ggfls. durch die Nichtberücksichtigung eines Merkmals, das dennoch im Patentanspruch verbleiben kann, Rechnung zu tragen ist, und welche die Interessen des Patentinhabers nicht überbewertet. Bei der Priorität ist dies anders. In der Praxis werden die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Priorität – wie auch im vorliegenden Fall – vom Europäischen Patentamt bzw. dem Deutschen Patent- und Markenamt nur bei relevantem weiterem Stand der Technik zur Patentfähigkeit geprüft werden, obwohl das Prioritätsdokument selbst zum Stand der Technik werden kann (Kraßer, a. a. O., S. 504; kritisch Drope, Rüdiger, Prioritätsanmeldung Stand der Technik für Prioritätsnachanmeldung?, Mitt. 2011, 406). Der Patentinhaber fertigt die Nachanmeldung in Kenntnis seiner eigenen Voranmeldung und muss bei einer späteren Änderung der Nachanmeldung – sofern er die Priorität in Anspruch nehmen will – seine Voranmeldung und die Kompatibilität der beiden Schriften im Auge behalten. Die Beachtung der Priorität ist deshalb ausschließlich Sache des Patentinhabers, wenn er die Patentansprüche fasst, um eine gewährbare oder bestandsfähige Fassung zu erhalten. Dies bereits spricht für ein geringeres Bedürfnis nach einer durch richterliche Rechtsfortbildung zu schaffenden Korrektur des Gesetzes zum Erhalt einer Priorität mittels Disclaimer.

99

Hinzu kommt jedoch ein weiteres wichtiges Argument: Im Gegensatz zur Anerkennung von Schutzrechtserklärungen bei der Frage unzulässiger Erweiterungen, die als ultima ratio dem Erhalt des Patentanspruchs dienen, besteht im Falle prioritätsschädlicher Merkmale im Patentanspruch bereits keine Situation, welche als ultima ratio die Zulassung von Erklärungen zur Wiederherstellung der Priorität und der damit verbundenen Zeitrangverschiebung als erforderlich erscheinen lässt. Der Patentinhaber erhält nämlich mit der Zuerkennung einer Priorität nur eine zusätzliche, ihm günstige Option im Hinblick auf eine durch das Zeitmoment bedingte Abgrenzung zum Stand der Technik. Die Anerkennung des Prioritätsdisclaimers lässt sich deshalb auch nicht als konsequente Fortführung dieser Rechtsprechung zur unzulässigen Erweiterung ansehen (so aber Brandt/Busse, PatG, 7. Aufl. (2012), § 41 Rn. 30 a. E., 32), sondern bedeutet vielmehr einen qualitativ wesentlich weitreichenderen Eingriff in die gesetzlichen Regelungen und die danach dem Patentinhaber eröffneten Möglichkeiten, umfassenden Patentschutz zu erlangen oder zu erhalten.

100

2. 4. 3. Folgende Beispiele mögen dies noch verdeutlichen, wobei „x“ z. B. für das Merkmal „Folie“ stehen kann, „y“ für ein weiteres Merkmal (z. B. groß) und „z“ für ein ggü „y“ engeres Merkmal (z. B. „3x4m“):

101

Fall A

Fall B

Fall C

Prioritätsdokument offenbart die Merkmalskombination (x, y)

Prioritätsdokument offenbart die Merkmalskombination (x, z)

Prioritätsdokument offenbart die Merkmalskombination (x, y)

Anmeldung offenbart die Merkmalskombination (x, y)

Anmeldung offenbart die Merkmalskombination (x, y)

Anmeldung offenbart die Merkmalskombination (x, y), aber auch (x, z)

Patentanspruch enthält die Merkmalskombination (x, z)

Patentanspruch enthält die Merkmalskombination (x, z)

Patentanspruch enthält die Merkmalskombination (x, z)

102

Fall A:

103

Die Konstellation entspricht im Grundsatz der Entscheidung „Winkelmesseinrichtung“, da das Patent ein gegenüber der Anmeldung zusätzliches beschränkendes Merkmal enthält. Klammert man das Merkmal z im Patent im Sinne dieser – verkürzt als Disclaimerlösung bezeichneten – Lösung unter Aufnahme des Merkmals y in den Anspruch aus, führt dies zu einer Beseitigung der unzulässigen Erweiterung mit der sich anschließenden Frage, welche Bedeutung dies für die in Anspruch genommene Priorität hat. Nimmt man an, dass mit der „Disclaimerlösung“ zugleich auch die Priorität wieder hergestellt ist, so erscheint diese Folgerung konsistent.

104

Fall B:

105

In Fall B dagegen führt die „Disclaimerlösung“ zur Beseitigung der unzulässigen Erweiterung, aber zum Konflikt mit dem Prioritätsdokument, welches das disclaimerte Merkmal z als kumulatives Merkmal enthält und damit für die Inanspruchnahme der Priorität unverzichtbar ist. Ausgehend davon, dass im Fall A der Disclaimer seine Wirkung untrennbar nicht nur bezüglich der unzulässigen Erweiterung entfaltet, sondern zugleich auch hinsichtlich der Prioritätsfrage, wäre die Priorität verloren. Die Prioritätsschrift könnte im schlimmsten Fall zum entgegenstehenden Stand der Technik werden und das Patent ebenfalls vernichten. Dem Patentinhaber bleibt jedoch wie auch im Fall A im Hinblick auf die zwingend zu beseitigende unzulässige Erweiterung keine Wahl.

106

Fall C:

107

Diese Konstellation entspricht der verfahrensgegenständlichen. Eine unzulässige Erweiterung liegt im Gegensatz zu den Beispielen A und B nicht vor, da Patent und Anmeldung eine identische Merkmalskombination aufweisen. Allerdings kann für den geltenden Patentanspruch die Priorität nicht in Anspruch genommen werden. Auch hier ist denkbar, dass die Prioritätsschrift zum entgegenstehenden Stand der Technik wird. Anders als in den Fällen A und B besteht für den Patentinhaber im Hinblick auf eine zur Vernichtung des Patents führende unzulässige Erweiterung der Anmeldung kein Handlungszwang. Relevant ist allein die Frage nach einem möglichen (isolierten) Prioritätsdisclaimer, wenn der Patentinhaber - wie vorliegend – im Hinblick auf den Stand der Technik oder die Gefahr einer Selbstkollision eine entsprechende Notwendigkeit zur Herstellung der erforderlichen Identität zwischen Anspruch und Prioritätsdokument sieht. Lässt man einen Prioritätsdisclaimer bzgl. Merkmal z – auch hier ggfls. unter Aufnahme von Merkmal y – zu, um die Priorität in Anspruch nehmen zu können, so gesteht man dem Patentinhaber ein gesetzlich nicht vorgesehenes Wahlrecht für die ihm im Einzelfall günstigere Vorgehensweise und den maßgeblichen Stand der Technik zu, ohne dass hierzu eine zwingende Notwendigkeit zum Erhalt des Patents besteht.

108

2.5. Aus den vorgenannten Erwägungen lehnt der Senat deshalb die Zulässigkeit des mit den Hilfsanträgen 1 und 2 verfolgten Prioritätsdisclaimers ab, da er mit dem Inhalt des Gesetzes und der darin für das Prioritätsrecht getroffenen gesetzgeberischen Wertung nicht in Einklang steht: Die Verteidigung des Streitpatents im Wege des geänderten Patentanspruchs 2 unter Einbeziehung eines Prioritätsdisclaimers erweist sich danach als unzulässig.

V.

109

1. In der Sache weist der Senat ergänzend zur Frage der Patentfähigkeit von Patentanspruch 1 nach den Hilfsanträgen 1 und dem insoweit enger gefassten Hilfsantrag 2 darauf hin, dass wegen des nicht zulässigen Prioritätsdisclaimers das Streitpatent die Priorität des deutschen Gebrauchsmusters DE 295 15 073 U1 (L2) nicht in Anspruch nehmen kann und dieses damit gem. Art. 54 Abs. 2, 3 EPÜ uneingeschränkter Stand der Technik ist. Der Gegenstand des nach sämtlichen Anträgen verteidigten Patentanspruchs 1 ist danach zwar unbestritten neu, da keine der im Verfahren befindlichen Druckschriften die Verwendung eines Bildprojektors mit allen im Patentanspruch 1 angegebenen Merkmalen, insbesondere Merkmal M5, offenbart, der so verteidigte Patentanspruch 1 erweist sich ausgehend von der Druckschrift L2 in Verbindung mit den Kenntnissen des Fachmanns jedoch als nahegelegt.

110

1.1. So ist aus der L2 (vgl. die Figur 1 mit Beschreibung und den Patentanspruch 1) die Verwendung eines Bildprojektors (Bildgeber 12), einer reflektierenden Fläche (reflektierende Fläche 14) und einer glatten transparenten Folie (transparente, glatte Folie 16), die teilreflektierend ist (vgl. Seite 3, letzter Absatz, wo angegeben ist, dass die Folie 30 bis 50 % des auf sie auftreffenden Lichts reflektieren soll) zum Darstellen von Bildern im Hintergrund einer Bühne oder dergleichen (vgl. Seite 1, erster Absatz) bekannt [= Merkmal M1a], wobei (vgl. den Patentanspruch 1) die reflektierende Fläche (Fläche 14) auf dem Boden (Boden 26) der Bühne (Bühne 24) in deren mittlerem Bereich angeordnet ist [= Merkmal M2] und die Folie (vgl. den Patentanspruch 1, Folie 16) zwischen dem Boden (Boden 26) und der Decke (Decke 28) der Bühne über deren gesamter Breite derart verläuft [= Merkmal M3], dass ihr unteres Ende (vgl. den Patentanspruch 1, unteres Ende 30) an einer Stelle zwischen der reflektierenden Fläche (14) und dem Hintergrund der Bühne (24) [= Merkmal M3a] und ihr oberes Ende (vgl. den Patentanspruch 1, oberes Ende 32) an der Decke (28) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten ist [= Merkmal M3b], und der Bildprojektor (vgl. den Patentanspruch 1, Bildgeber 12) an der Decke (28) vor dem dort gehaltenen oberen Ende (32) der Folie (16) angeordnet [= Merkmale M4 und M4a] und auf die reflektierende Fläche (vgl. den Patentanspruch 1, reflektierende Fläche 14) gerichtet ist [= Merkmal M4b], so dass (vgl. die Figuren 1 bis 3 mit Beschreibung Seite 5, zweiter und dritter Absatz) das vom Bildprojektor (Bildgeber 12) projizierte Licht zuerst von der reflektierenden Fläche (14) teilweise reflektiert wird [= Merkmal M4c], so dass aus dem reflektierten Bild ein virtuelles Bild im Hintergrund der Bühne entsteht (vgl. Seite 5, zweiter Absatz: „Das virtuelle Bild 22 erscheint im Hintergrund der Bühne 24…“) [= Merkmal M4d]. Dabei steht die Folie unter Zugspannung (vgl. den Patentanspruch 5 und Seite 3, letzter Absatz) [= Merkmal M5a].

111

Die konkreten Abmessungen der Folie (16) sind in der Druckschrift L2 nicht angegeben (Merkmal M5). Da die Folie (16) jedoch, wie im Patentanspruch 1 der Druckschrift L2 angegeben ist, zwischen dem Boden und der Decke der Bühne über deren gesamter Breite verlaufen soll, ist es für den Fachmann aufgrund einfacher weiterer Überlegungen eine Selbstverständlichkeit, dass er die Größe der Folie an die Größe der Bühne anpassen muss. Er wird die Größe der Folie entsprechend wählen, um die Bühne damit voll auszufüllen, wobei er aufgrund der üblichen Bühnengrößen die Folie so groß wählen wird, dass sie eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist.

112

1.2. Der weitere im Verfahren befindliche Stand der Technik kann den antragsgemäß verteidigten Gegenstand nach Patentanspruch 1 dagegen nicht nahelegen.

113

1.2.1. Dies gilt auch für die Druckschrift L13: Diese zeigt (vgl. die Figur 6 mit Beschreibung) die Verwendung eines Bildprojektors (Video-Großbildprojektor 14’), einer reflektierenden Fläche (reflektierender Bildschirm 4’) und einer glatten transparenten und teilreflektierenden Scheibe 2 (vgl. Spalte 8, Zeilen 42 bis 44: „…geneigte durchsichtige Scheibe, die so beschichtet ist, dass sie vorzugsweise 15 bis 25 % des auffallenden Lichtes …reflektiert.“) zum Darstellen von Bildern im Hintergrund einer Bühne oder dergleichen (vgl. Spalte 4, Zeilen 26 bis 30: „…ist die Vorrichtung zur Erzeugung von durch Spiegelung entstehenden Luftbildern als eine relativ große, 3 bis 9 m breite und entsprechend tiefe Bühne ausgebildet…“) [= Merkmal M1 bis auf den Unterschied der Verwendung einer Scheibe statt einer Folie]. Eine Bühne ist dabei nur bei den Ausführungsbeispielen gemäß den Figuren 8 bis 15 gezeigt, die Ausführungsbeispiele gemäß den Figuren 1 bis 7 betreffen dagegen lediglich ein (relativ kleines) Display und keine (relativ große) Bühne. Außerdem wird keine Folie verwendet sondern eine teilreflektierende Scheibe. Die reflektierende Fläche (4’) (vgl. die Figur 6) ist auf dem Boden der Bühne (37) in deren mittlerem Bereich angeordnet ist [= Merkmal M2].

114

Die Scheibe (2) (vgl. die Figur 6) verläuft zwischen dem Boden und der Decke des Displays. Über die Breitenabmessung der Scheibe ist nichts ausgesagt [= Merkmal M3 bis auf „Folie“, Bühne“ und „gesamte Breite“]. Ihr unteres Ende (bei der Achse 3, vgl. die Figur 6) ist dabei an einer Stelle zwischen der reflektierenden Fläche (4’) und dem Hintergrund des Displays (beim Luftbild 10, vgl. die Figur 6) gehalten [= Merkmal M3a]. Ihr oberes Ende (vgl. die Figur 6) befindet sich an der Decke an einer weiter vorn liegenden Stelle, ist jedoch unten an der Achse 3 und nicht oben gehalten [= Teile des Merkmals M3b].

115

Der Bildprojektor (14’) ist an der Decke (vgl. die Figur 6) an einer weiter vorn liegenden Stelle gehalten [= Merkmal M4], und der Bildprojektor (14’) ist an der Decke (vgl. die Figur 6) vor dem dort befindlichen oberen Ende der Scheibe angeordnet [= Teile des Merkmals M4a] und auf die reflektierende Fläche (4’, vgl. die Figur 6) gerichtet [= Merkmal M4b], so dass das vom Bildprojektor (14’) projizierte Licht zuerst von der reflektierenden Fläche (4’) teilweise reflektiert wird [= Merkmal M4c], so dass aus dem reflektierten Licht ein virtuelles Bild (Luftbild 10, vgl. die Figur 6) im Hintergrund des Displays entsteht [= Teile des Merkmals M4d].

116

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 unterscheidet sich vom aus der Druckschrift L13 bekannten Stand der Technik dadurch, dass anstelle eines (relativ kleinen) Displays eine (relativ große) Bühne verwendet wird und statt einer teilreflektierenden Scheibe eine teilreflektierende Folie verwendet wird (Merkmal M1), dass die Scheibe unten und nicht oben gehalten wird (Merkmal M3b) und dass die Folie eine Fläche von mindestens 3 m mal 4 m aufweist (Merkmal M5) und unter Zugspannung steht (Merkmal M5a) und über die gesamte Breite der Bühne verläuft (Merkmal M3).

117

Lediglich in den Ausführungsbeispielen der Figuren 8 bis 15 ist eine Bühne gezeigt, diese betreffen jedoch einen anderen Aufbau mit mehreren Spiegeln, wobei ein Umbau in eine Version mit nur einem Spiegel wegen der unterschiedlichen Strahlengänge auch nicht nahegelegt ist.

118

Auch ist es, da der Spiegel unten bei der Drehachse 3 und nicht oben an der Decke gehalten ist, für den Fachmann nicht nahegelegt eine Folie statt einer Glasscheibe zu verwenden, da diese nicht die bei einer Halterung unten und einer Drehbarkeit um die Achse erforderliche Stabilität aufweist, wie sie eine (steife) Glasscheibe hat. Eine Folie wäre für diesen Zweck wegen ihrer Elastizität und mangelnden Steifheit völlig ungeeignet und ist somit für den Fachmann auch nicht nahegelegt. Außerdem sind keinerlei Nachteile einer Scheibe erwähnt und gibt es keinerlei Hinweise diese durch eine Folie zu ersetzen. Insbesondere spielen auch Gewichtsprobleme, bei der die Folie Vorteile hätte, bei den relativ kleinen Displays keine Rolle. Im Übrigen müsste für die erforderliche Steifheit bei einer Folie zusätzlich noch ein stabilisierender Rahmen vorgesehen werden, was jedoch den Aufwand erhöht und was der Fachmann vermeiden wird.

119

Da das Display relativ klein ist, kann auch kein Vortragender hinter der Glasscheibe stehen. Deshalb ist eine Größe des Displays von mindestens 3 mal 4 Metern für den Fachmann auch nicht nahegelegt, da derartig große Displays nicht üblich sind. Somit gibt es für den Fachmann auch keinerlei Anregung, eine Folie zu verwenden, die nur bei derartig großen Abmessungen Vorteile z. B wegen des Gewichts hätte. Eine Zugspannung, wie sie eine derart große Folie benötigt, um sich nicht durchzubiegen, ist bei Glasscheiben ohnehin überflüssig, insbesondere bei den relativ kleinen der Druckschrift L13.

120

1.2.2. Auch die Druckschrift L8 kann den Gegenstand der Patentansprüche 1 nicht nahelegen, da sie eine gänzlich anderen Aufbau zeigt, bei der die reflektierende Fläche nicht auf dem Boden der Bühne angeordnet ist, sondern an einer Wand unter der Bühne und der Diaprojektor auch nicht an der Decke der Bühne sondern unterhalb dieser angeordnet ist. Es gibt für den Fachmann auch keinerlei Hinweise oder Anregungen von diesem Aufbau abzuweichen.

121

Die übrigen im Verfahren befindlichen Druckschriften liegen noch weiter ab. Demzufolge haben sie in der mündlichen Verhandlung auch keine Rolle gespielt.

122

2. Auch die Gegenstände der ausschließlich nach Hauptantrag 2 isoliert verteidigten Unteransprüche 6, 10 – 13 die deshalb einer gesonderten Prüfung bedurften (BPatG, Urteil v. 15. Januar 2013, 4 Ni 13/11 – Dichtungsring, zur Veröffentlichung vorgesehen), sind für den Fachmann nahegelegt.

123

So handelt es sich bei den nach den Unteransprüchen 6 und 10 bis 13 beanspruchten Ausgestaltungen um eine fachübliche Anordnung und Halterung der Folie durch ein Abwickelrohr und die Verwendung von Gitterrahmen oder Einheiten von Gitterrahmen, die bei Bühnen allgemein üblich sind. Vgl. in Druckschrift L13 die Spalte 4, Zeilen 30 bis 32, wo der Aufbau mit leicht zusammenbaubaren Elementen erwähnt ist und die auch in der Gesamtheit ihrer Merkmale unter Einbeziehung der aus den nicht isoliert verteidigten rückbezogenen Unteransprüchen nur eine dem Fachmann nahe gelegte Lehre vermitteln. So sind die in den Unteransprüchen 2, 5, 7, 8 und 9 beanspruchten Ausgestaltungen aus den Unteransprüchen 2, 4, 6, 7 und 8 der Druckschrift L2 bekannt. Die Verwendung eines rechnergesteuerten Lichtverstärkers und eines Spiegels vor dem Projektor, wie in den Unteransprüchen 3 und 4 beansprucht, sind rein handwerkliche Maßnahmen, die der Fachmann nach Belieben ergreifen wird und die auch bereits aus der Druckschrift L13 bekannt sind (vgl. Spalte 4, Zeilen 60 und 61: Lasergraphik- und Computergraphik-Projektionen, Spalte 5, Zeile 11: Video-Großbildprojektor, sowie die Figur 3: Spiegel 15 vor dem Projektor 14).

VI.

124

Als unterlegene Partei hat der Beklagte die Kosten des Rechtsstreits gemäß §§ 84 Abs. 2 PatG i. V. m § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO zu tragen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 99 Abs. 1 PatG, 709 ZPO.