Entscheidungsdatum: 17.05.2018
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 10. Mai 2017 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
Das Kammergericht hat den Angeklagten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision.
I. Der Revision des Angeklagten bleibt - weitgehend aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts aufgeführten Gründen - der Erfolg versagt.
Der näheren Erörterung bedarf nur die Verfahrensrüge, das Kammergericht habe seine Überzeugung von den Tatsachen, die die Bewertung des "Islamischen Staats" (im Folgenden: IS) als terroristischer Vereinigung tragen, nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft (§ 261 StPO), sondern Kenntnisse aus nicht nachvollziehbar und pauschal benannten Entscheidungen und Gutachten, insbesondere aus einem in der Ermittlungsakte befindlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. S. verwertet, die nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden seien.
In dem angefochtenen Urteil hat das Kammergericht auf etwa 19 Seiten Feststellungen zu Historie, Entwicklung, Organisation, Zielen und Handlungen des IS getroffen. In der Beweiswürdigung hat es dazu lediglich ausgeführt, diese seien "sowohl aufgrund der Befassung des Kammergerichts - auch im Rahmen des Austausches von Entscheidungen mit anderen Oberlandesgerichten - mit vergleichbaren Sachverhalten gerichtsbekannt als auch inzwischen allgemeinbekannt".
1. Mit der Stoßrichtung, das Kammergericht habe ein in der Akte befindliches Gutachten des Sachverständigen Dr. S. verwendet, ohne dieses in die Hauptverhandlung eingeführt zu haben, kann die Rüge keinen Erfolg haben: Ob das Tatgericht Beweisstoff, der nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war, tatsächlich verwendet hat, kann nur anhand der Urteilsgründe überprüft werden (KK-Ott, StPO, 7. Aufl., § 261 Rn. 80 mwN). Ausweislich dieser hat das Kammergericht aber die Feststellungen zum IS gerade nicht auf das Sachverständigengutachten gestützt.
2. Soweit die Rüge dahin zu verstehen sein sollte, das Kammergericht habe die als gerichts- bzw. allgemeinkundig behandelten Tatsachen nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, erweist sie sich als unzulässig.
Allerdings muss das Tatgericht, wenn es seiner Überzeugungsbildung Tatsachen zugrunde legen will, zu denen es in der Hauptverhandlung keinen Beweis erhebt, weil es sie für offenkundig hält, in der Hauptverhandlung darauf hinweisen und erörtern, welche Tatsachen es aus welchem Grund als offenkundig zu behandeln gedenkt (vgl. BGH, Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292, 295 f.; vom 10. Januar 1963 - 3 StR 22/62, NJW 1963, 598, 599; vom 3. November 1994 - 1 StR 436/94, NStZ 1995, 246, 247; Beschluss vom 27. Juli 2012 - 1 StR 68/12, NStZ 2013, 121; KK-Ott aaO; LR/Sander, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 171; vgl. zu der Pflicht zur Erörterung in der Hauptverhandlung auch LR/Becker aaO, § 244 Rn. 213 mwN). Soll beanstandet werden, dass dies nicht oder nicht ordnungsgemäß geschehen sei, so erfordert § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO den vollständigen Vortrag der entsprechenden Verfahrensvorgänge (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juni 2013 - 1 StR 146/13, juris; s. auch BGH, Urteil vom 23. Juni 1993 - 3 StR 89/93, BGHSt 39, 239, 240). Daran fehlt es hier. Den vom Vorsitzenden des Strafsenats des Kammergerichts erteilten Hinweis, dass und in welchem Umfang das Gericht Feststellungen zum IS als offenkundig behandeln will, trägt der Beschwerdeführer nicht vor. Der Umfang dessen, was das Kammergericht als offenkundig in der Hauptverhandlung erörtert hat, ergibt sich auch nicht aus den vom Senat von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmenden Urteilsgründen. Der Senat kann deshalb nicht allein anhand des Revisionsvorbringens prüfen, ob die Rüge mit dieser Stoßrichtung Erfolg haben könnte, wenn die behaupteten Verfahrenstatsachen sich so zugetragen hätten; dies führt zur Unzulässigkeit einer insoweit eventuell erhobenen Verfahrensbeanstandung.
3. Etwas anderes könnte nur gelten und der Vortrag des Verfahrensgeschehens insoweit entbehrlich sein, wenn der Beschwerdeführer geltend machen würde, das Kammergericht habe den Rechtsbegriff der Offenkundigkeit verkannt (vgl. BGH, Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292, 296; vom 15. März 1994 - 1 StR 179/93, BGHSt 40, 97, 99; KK-Ott aaO). Mit dieser Stoßrichtung ist die Verfahrensrüge indes nicht erhoben (vgl. zur Erforderlichkeit eines diesbezüglichen Vortrags auch BGH, Urteil vom 10. Januar 1963 - 3 StR 22/62, NJW 1963, 598). Denn dem Rügevorbringen kann nicht die Beanstandung entnommen werden, dass das Kammergericht die als offenkundig behandelten Tatsachen überhaupt als gerichts- bzw. allgemeinkundig angesehen hat; vielmehr rügt der Beschwerdeführer lediglich, der Strafsenat habe die behaupteten Kenntnisse tatsächlich nicht gehabt, sondern einem Sachverständigengutachten oder nicht hinlänglich bezeichneten Entscheidungen entnommen. Darin kann insbesondere nicht die ausreichend bestimmte Behauptung gesehen werden, das Kammergericht sei zu Unrecht von der Allgemeinkundigkeit der Feststellungen zum IS ausgegangen.
II. Der Senat kann deshalb im Ergebnis offen lassen, ob das Vorgehen des Kammergerichts rechtlich zulässig war, Feststellungen als offenkundig zu behandeln, die die rechtliche Würdigung erlaubten, bei dem IS handele es sich um eine terroristische Vereinigung im Ausland im Sinne von § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Er sieht jedoch Anlass zu folgendem Bemerken:
1. a) Soweit das Kammergericht die Feststellungen zum IS als allgemeinkundig behandelt hat, könnte zunächst zweifelhaft sein, ob dies für die Tatsachen zur historischen Entwicklung, der Organisationsstruktur oder den Vorgehensweisen der Vereinigung in allen festgestellten Einzelheiten gilt:
Tatsachen sind allgemein bekannt, wenn es sich um Vorgänge handelt, von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis haben oder über die sie sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten können (BGH, Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292, 293; vom 26. Februar 1980 - 4 StR 700/79, juris Rn. 7; Beschluss vom 29. Januar 1975 - KRB 4/74, BGHSt 26, 56, 59; BVerfG, Beschluss vom 3. November 1959 - 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177, 183; Alsberg/Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl., Rn. 1056; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl., Rn. 19; LR/Becker aaO, § 244 Rn. 204; MüKoStPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn. 215; MüKoStPO/Miebach, § 261 Rn. 25; KK-Ott aaO, § 261 Rn. 11; Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, 1996, S. 13). Das Merkmal der Allgemeinkundigkeit setzt sich mithin aus zwei Elementen zusammen, demjenigen der allgemein vorhandenen Kenntnis bzw. der allgemein zugänglichen Erkenntnisquelle einerseits und der inhaltlichen Richtigkeit der in Betracht kommenden Tatsache andererseits (vgl. Graul aaO, S. 14); dabei stellt der Umstand, dass die Kenntnis von der Tatsache von einer grundsätzlich unbeschränkten Allgemeinheit geteilt wird, zugleich ein gewichtiges Indiz für deren Richtigkeit dar (MüKoStPO/Trüg/Habetha aaO; KK-Krehl aaO, § 244 Rn. 134; Eisenberg aaO, Rn. 17; Graul aaO, S. 25; Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, 1997, S. 129). Zu den genannten Vorgängen gehören neben Gegebenheiten der Außenwelt auch geschichtliche und politische Geschehnisse, sofern sie auf sicher feststellbaren Fakten beruhen, die sich aus allgemein zugänglichen Quellen, Nachschlagewerken, Büchern, Zeitungen oder sonstigen Nachrichtenmitteln wie etwa auch Internetseiten ergeben (LR/Becker aaO; KK-Krehl aaO, § 244 Rn. 132). In diesen Fällen ist indes nicht selten nur der Kern der Tatsachen oder Ereignisse allgemeinkundig, nicht aber die ihm zugrundeliegenden Einzelheiten der Geschehnisse (MüKoStPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn. 219 mwN).
b) Ungeklärt ist darüber hinaus die Frage, ob Tatsachen, die zur Ausfüllung des Tatbestandsmerkmals "terroristische Vereinigung" (§ 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB) notwendig sind, überhaupt als allgemeinkundig behandelt werden dürfen.
Im Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands bzw. die unmittelbar beweiserheblichen Tatsachen könnten grundsätzlich nicht als offenkundig und damit auch nicht als allgemeinkundig behandelt werden; nach dieser Ansicht können nur Indiz- oder Hilfstatsachen als allgemeinkundig gelten (Alsberg/Güntge aaO, Rn. 1067 f.; Eisenberg aaO, Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 244 Rn. 51; HK-StPO-Julius, 5. Aufl., § 244 Rn. 29; Graul aaO, S. 250 ff.; differenzierend MüKoStPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn. 221; vgl. auch LR/Becker aaO, § 244 Rn. 210 Fn. 1103).
Demgegenüber ist in der Rechtsprechung zwar mehrfach entschieden worden, dass jedenfalls unbeschränkt allgemeinkundige Tatsachen auch zur Ausfüllung von Tatbestandsmerkmalen oder anderen unmittelbar für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch erheblichen Umständen herangezogen werden können, etwa ob der Explosionsdruck einer Gaspistole konstruktionsbedingt nach vorne austritt und damit der Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt war (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2014 - 3 StR 451/14, juris Rn. 4 mwN), zur Trommelkapazität eines Revolvers, aus der sich ergab, dass der Versuch fehlgeschlagen war und der Täter nicht mehr strafbefreiend zurücktreten konnte (BGH, Urteil vom 20. September 1989 - 2 StR 251/89, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, fehlgeschlagener 4), zur Frage des für den Tatbestand der Volksverhetzung erheblichen Massenmords an den Juden, vor allem in den Gaskammern von Konzentrationslagern während des 2. Weltkriegs (BGH, Urteil vom 15. März 1994 - 1 StR 179/93, BGHSt 40, 97, 99) oder zu den für die Beurteilung, ob in dem Werturteil "Killertruppe" über die GSG-9 eine Beleidigung zu sehen ist, wesentlichen Umständen der Geiselbefreiung in der Lufthansa-Maschine "Landshut" in Mogadischu im Jahr 1977 (OLG Düsseldorf, Urteil vom 5. Mai 1980 - 5 Ss 209/80, MDR 1980, 868 f.).
Ob die letztgenannten Maßstäbe indes auch auf solche Tatsachen angewendet werden können, die zur Ausfüllung der komplexen Merkmale einer terroristischen Vereinigung herangezogen werden würden, ist fraglich und bislang höchstrichterlich nicht entschieden. Als nicht unproblematisch könnte sich insoweit insbesondere erweisen, dass bei zeitgeschichtlichen Vorgängen jüngerer Zeit regelmäßig besondere Anforderungen an die kritische Überprüfung ihrer Allgemeinkundigkeit und Richtigkeit zu stellen sind, ohne dass dadurch freilich ausgeschlossen ist, auch Tatsachen der jüngsten Geschichte für allgemeinkundig zu halten (Alsberg/Güntge aaO, Rn. 1065 f. mit zahlreichen Beispielen und Nachweisen aus der Rechtsprechung).
2. Soweit das Kammergericht die Tatsachen auch als gerichtskundig behandelt hat, erweist sich dies als rechtlich zweifelhaft:
Durch die Annahme einer Tatsache als offenkundig darf der Grundsatz, dass der Inbegriff der Hauptverhandlung die Grundlage der Feststellungen zu bilden hat, in seinem wesentlichen Inhalt nicht angetastet werden; an seine Stelle darf kein mit den Vorschriften der StPO unvereinbares schriftliches Verfahren treten (BGH, Urteile vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292, 294 f.; vom 9. Dezember 1999 - 5 StR 312/99, BGHSt 45, 354, 358). Grenzen ergeben sich insoweit vor allem aus der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO (BGH, Urteil vom 14. Juli 1954 - 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292, 294 f.; Beschluss vom 29. Januar 1975 - KRB 4/74, BGHSt 26, 56, 61; MüKoStPO/Miebach, § 261 Rn. 27; Buschhorn aaO, S. 129 ff.). Gegen die Behandlung der Tatsachen, die die Merkmale einer terroristischen Vereinigung ausfüllen können, als gerichtskundig spricht über die genannten Bedenken gegen die Behandlung als allgemeinkundig hinaus, dass allein gerichtskundigen Tatsachen die für die Bestimmung des Wahrheitsgehalts bedeutsame Indizwirkung der von einer unbestimmten Vielzahl von Menschen geteilten Allgemeinkundigkeit fehlt; dies legt bei der Behandlung einer unmittelbar beweiserheblichen Tatsache unter Verzicht auf eine förmliche Beweiserhebung als gerichtskundig eine Verletzung der Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO nahe (vgl. Buschhorn aaO, S. 148 f.; ablehnend zur Behandlung von Tatbestandsmerkmalen als gerichtskundig auch LR/Becker aaO, § 244 Rn. 210; insgesamt kritisch zur Gleichbehandlung von allgemeinkundigen und nur gerichtskundigen Tatsachen MüKoStPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn. 222 ff. mwN).
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