Entscheidungsdatum: 19.07.2013
Der 1950 geborene frühere Soldat war seit September 1990 Berufssoldat und zuletzt im September 1999 zum Oberstarzt befördert worden. Mit Ablauf des Juli 2009 wurde er wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
1. Nach Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens mit Verfügung des Bundesministers der Verteidigung vom 9. August 2010 wurde der frühere Soldat auf der Grundlage der Anschuldigungsschrift der Wehrdisziplinaranwaltschaft vom 20. Juli 2011 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 17. April 2012 durch das am selben Tage verkündete Urteil der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd wegen eines Dienstvergehens in den Dienstgrad eines Oberfeldarztes a.D. herabgesetzt. Das schriftliche Urteil wurde mit Gründen am 6. Juni 2012 zu den Akten gebracht.
Gegen das dem früheren Soldaten am 8. Juni 2012 zugestellte Urteil hat er mit am 6. Juli 2012 beim Truppendienstgericht Süd eingegangenem Schriftsatz in vollem Umfang Berufung eingelegt mit dem Ziel eines Freispruchs. Die Berufungsbegründung greift die tatsächlichen Feststellungen des Truppendienstgerichts und deren rechtliche Würdigung als Dienstpflichtverletzungen im Einzelnen an.
2. Unter dem 28. Mai 2013 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass das am 17. April 2012 verkündete Urteil erst am 6. Juni 2012 mit Gründen zu den Akten gelangt war. Sie haben Gelegenheit erhalten, sich zu einer Aufhebung des Urteils und einer Zurückverweisung der Sache wegen eines schweren Verfahrensmangels zu äußern.
Der frühere Soldat tritt einer solchen Entscheidung ausdrücklich nicht entgegen.
Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hat sich gegen eine Zurückverweisung ausgesprochen. Zwar liege ein Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO vor, der auch einen schweren Mangel des Verfahrens begründen möge; dies verlange jedoch nicht zwingend die Zurückverweisung der Sache, weil selbst im Strafverfahren der Fristwahrung Bedeutung nur bei Revisionen (§ 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO) zukäme. Der Senat habe in ständiger Rechtsprechung unter Berufung auf das Beschleunigungsgebot entschieden, dass sowohl bei einer maßnahmebeschränkten als auch bei einer vollumfänglichen Berufung kein Grund bestehe, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen. Da der Soldat in vollem Umfang Berufung eingelegt habe, habe der Senat auch alle Möglichkeiten, das erstinstanzliche Urteil inhaltlich zu überprüfen.
Auf ein entsprechendes Auskunftsersuchen hat der Präsident des Truppendienstgerichts Süd mitgeteilt, dass der für das Verfahren der Vorinstanz zuständige und zwischenzeitlich in den Ruhestand getretene Vorsitzende Richter am Truppendienstgericht zwischen dem 17. April 2012 und dem 22. Mai 2012 weder arbeitsunfähig erkrankt noch urlaubsbedingt abwesend gewesen sei. Die Beteiligten hatten auch hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme.
Die zulässige Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Süd zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung, weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO). Die Entscheidung ergeht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 120 Abs. 1 WDO) in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 WDO). Den Beteiligten ist gemäß § 120 Abs. 2 WDO vor der Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
1. Da das Rechtsmittel in vollem Umfang eingelegt worden ist, hat der Senat uneingeschränkt zu prüfen, ob das Verfahren Mängel im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 Alt. 2 WDO aufweist; dies ist der Fall.
a) Das in der Sache des früheren Soldaten am 17. April 2012 verkündete Urteil des Truppendienstgerichts Süd gelangte am 6. Juni 2012 zu dessen Geschäftsstelle, sodass gegen den gemäß § 91 WDO entsprechend anwendbaren § 275 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 StPO verstoßen wurde; er sieht vor, dass das mit Gründen versehene Urteil spätestens fünf Wochen nach seiner Verkündung zu den Akten zu bringen ist. Umstände gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 StPO, die den Lauf einer längeren Frist ausgelöst hätten, liegen nicht vor. Umstände im Sinne des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO, die ausnahmsweise ein Überschreiten der Frist zulassen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere war der Vorsitzende Richter der Truppendienstkammer als einziger Berufsrichter des Kollegialgremiums in den fünf Wochen nach der Verkündung des Urteils nicht arbeitsunfähig erkrankt (vgl. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 56. Auflage 2013, § 275 Rn. 14 m.w.N.). Auf eine Erkrankung von Kanzlei- oder Geschäftsstellenmitarbeitern kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Es liegt in der Verantwortung der Gerichtsverwaltung, erforderlichenfalls für Vertretung zu sorgen. Durch den Ausfall von Schreibkräften bedingte Fristüberschreitungen sind daher nicht unabwendbar.
b) Der Verfahrensmangel ist schwer im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 Alt. 2 WDO (Urteil vom 16. März 2004 - BVerwG 2 WD 3.04 - BVerwGE 120, 193 <195 f.> = Buchholz 235.01 § 93 WDO 2002 Nr. 1), weil gegen eine gesetzlich zwingende Regelung verstoßen wurde. Sie ist von der Erwägung getragen, dass ein so spät nach der Verkündung abgesetztes Urteil keine Gewähr mehr für eine Übereinstimmung seiner Gründe mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und der Beratung bietet (Urteil vom 31. März 1978 - BVerwG 2 WD 50.77 - BVerwGE 63, 23 <24>).
2. Trotz des schweren Verfahrensmangels ist der Senat nicht gezwungen, das Urteil des Truppendienstgerichts aufzuheben und die Sache an eine andere Kammer zurückzuverweisen (Urteil vom 16. März 2004 a.a.O.). Er hat vielmehr gemäß § 120 Abs. 1 WDO nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden. Der Senat übt das Ermessen zugunsten einer Zurückverweisung an das Truppendienstgericht aus.
Abzuwägen ist auf der einen Seite das - von diesem auch betonte und vom Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 WDO als Beschleunigungsgebot normierte - Interesse des Dienstherrn und grundsätzlich auch des früheren Soldaten an einer das gerichtliche Disziplinarverfahren zeitnah endgültig abschließenden Entscheidung und auf der anderen Seite das Recht des früheren Soldaten darauf, dass über die vom Bund beantragte Disziplinarmaßnahme von den Wehrdienstgerichten unter Beachtung der gesetzlichen, auch seinem Interesse dienenden Verfahrensregelungen befunden wird.
a) Zwar hat der frühere Soldat in vollem Umfang Berufung eingelegt, sodass der Senat eigene Tatsachen- und Schuldfeststellungen treffen könnte. Dadurch unterscheidet sich das vorliegende disziplinargerichtliche Berufungsverfahren von einem strafgerichtlichen Revisionsverfahren, bei dem der Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO gemäß § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO deshalb als absoluter Revisionsgrund ausgewiesen ist, weil das Revisionsgericht ansonsten auf der Grundlage seiner Prüfung entzogener Tat- und Schuldfeststellungen eine Entscheidung treffen müsste, obwohl sie wegen der verfristeten Niederlegung der Urteilsgründe dubios erscheinen (Urteil vom 31. März 1978 a.a.O.). Da in der WDO keine Revision vorgesehen ist, konnte der Gesetzgeber für einen Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO keine dem § 338 Nr. 7 StPO vergleichbare Regelung treffen. Im Übrigen würde das Fehlen einer solchen Regelung jedoch lediglich dagegensprechen, bei einem solchen Verstoß im disziplinargerichtlichen Berufungsverfahren von einer Zurückverweisungspflicht des Rechtsmittelgerichts auszugehen; es würde nichts darüber aussagen, von welchen Erwägungen sich das Rechtsmittelgericht bei seiner zu treffenden Ermessensentscheidung leiten lassen muss. Dass gemäß § 328 StPO im strafgerichtlichen Berufungsverfahren keine generelle Zurückverweisungsmöglichkeit bei schweren Verfahrensfehlern mehr besteht (so Meyer-Goßner a.a.O. § 328 Rn. 4), muss hier unberücksichtigt bleiben, da mit § 120 WDO für das gerichtliche Wehrdisziplinarverfahren eine spezielle Regelung gegeben ist.
b) Allein der Umstand, dass der Senat bei einer uneingeschränkt eingelegten Berufung eigene Tat- und Schuldfeststellungen zu treffen hat (vgl. zu § 275 Abs. 1 StPO: Urteile vom 31. März 1978 a.a.O., vom 23. November 1989 - BVerwG 2 WD 50.86 - UA S. 93
c) Die Dauer des disziplinargerichtlichen Verfahrens ist allerdings auch bei einem Gesetzesverstoß der vorliegenden Art grundsätzlich geeignet, die gerichtliche Abwägungsentscheidung dahingehend zu beeinflussen, von einer Zurückverweisung abzusehen. Das Beschleunigungsgebot ist nicht nur in § 17 Abs. 1 WDO einfachgesetzlich verankert. Der Gesetzgeber hat dort sowohl dem Interesse des Dienstherrn an einer möglichst zeitnahen und damit wirkungsvollen disziplinarischen Ahndung von Dienstvergehen als auch dem Interesse des Soldaten an einer zügigen und für ihn somit möglichst schonenden Klärung der gegen ihn erhobenen Anschuldigung Rechnung getragen und das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG und aus dem objektiv-rechtlichen Rechtsstaatsgebot konkretisiert. Auch dieser abwägungsrelevante Aspekt ist damit verfassungsrechtlich verankert und von hoher Bedeutung (Beschluss vom 19. März 2013 a.a.O. Rn. 25).
d) Vorliegend führt eine Zurückverweisung an die Vorinstanz sowohl wegen des konkreten Gewichts des Gesetzesverstoßes als auch wegen der im Raum stehenden Disziplinarmaßnahme aber nicht zu einer unangemessenen Verzögerung einer Sachentscheidung. Dies gilt umso mehr, als der durch das gerichtliche Disziplinarverfahren belastete frühere Soldat keine Einwände gegen eine Aufhebung und Zurückverweisung geltend gemacht hat (vgl. Urteil vom 19. Januar 2012 - BVerwG 2 WD 5.11 - Buchholz 450.2 § 121 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 23).
Die Überschreitung der gemäß § 275 Abs. 1 StPO zu wahrenden Frist von fünf Wochen um mehr als zwei Wochen ist gravierend und dieser Gesetzesverstoß auch keiner Heilung im Berufungsverfahren zugänglich. Im Raum steht darüber hinaus eine Dienstgradherabsetzung, die für den im Ruhestand befindlichen Soldaten eine dauerhafte Absenkung seiner Versorgungsbezüge bedeuten würde. Bei einer derartig gravierenden Sanktion kommt der rechtsstaatlich einwandfreien Durchführung des Verfahrens besondere Bedeutung zu.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der endgültigen Entscheidung in dieser Sache vorbehalten, § 141 Abs. 1 und 2 WDO, wobei das Truppendienstgericht dem Obsiegen des früheren Soldaten im Rechtsmittelverfahren Rechnung zu tragen hat.