Entscheidungsdatum: 26.05.2010
Auf die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 7. Januar 2010 wird das Verfahren eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
Die Entscheidung über die Entschädigung des Verurteilten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Der Unterbringungsbefehl des Landgerichts Aachen vom 10. Dezember 2009 wird aufgehoben. Der Verurteilte ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen.
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur Einstellung des Verfahrens, weil die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung ergibt, dass es für die Verurteilung an der Verfahrensvoraussetzung eines rechtzeitigen Antrags fehlt.
1. Der Verurteilte war vom Landgericht mit Urteil vom 29. November 1995 wegen versuchten Mordes und sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren (Einzelstrafen zwölf Jahre und fünf Jahre) verurteilt worden. Er verbüßte diese Strafe unter Berücksichtigung der am 4. April 1995 begonnenen Untersuchungshaft bis zum 2. April 2009 vollständig. Im Anschluss daran wurde gegen ihn eine Restfreiheitsstrafe von 305 Tagen aus dem Urteil des Amtsgerichts K. vom 25. Juli 1989 vollstreckt. Mit Datum vom 23. Juli 2009 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Am 23. Dezember 2009 wurde der Verurteilte unter Berücksichtigung von Arbeitsleistungen aus der Strafhaft entlassen. Seitdem ist er auf Grund des Unterbringungsbefehls des Landgerichts vom 10. Dezember 2009 vorläufig in der Sicherungsverwahrung untergebracht.
2. Die vollständige Verbüßung der Strafe aus der Anlassverurteilung vor der Stellung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung steht der Fortsetzung des Verfahrens entgegen.
Zwar regeln § 66 b StGB, § 275 a StPO die formellen Anforderungen an die Durchführung des Verfahrens auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht in allen Einzelheiten. § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB ist insoweit zu entnehmen, dass die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinweisenden neuen Tatsachen vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe aus der Anlassverurteilung erkennbar geworden sein müssen. Aus § 275 a Abs. 1 Satz 3 StPO folgt, dass das Verfahren nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft durchgeführt wird. Der Antrag soll spätestens sechs Monate vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung gestellt werden. Wie zu verfahren ist, wenn der Antrag später, gar erst nach Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe aus der Anlassverurteilung gestellt wird, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Allerdings ist der Regelung in Art. 1 a Satz 3 EGStGB zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Antragsfrist nicht für bedeutungslos gehalten hat; in diesem Fall hätte es einer Ausnahmeregelung für die in Satz 1 der Vorschrift angeführten Fälle der Unterbringung besonders gefährlicher Straftäter nach Landesgesetzen, in denen der Vollzug der Strafhaft aus der Anlassverurteilung beendet war, nicht bedurft.
Der Senat hat bereits entschieden, dass die Wiedererlangung der Freiheit nach Vollverbüßung der Haftstrafe aus der Anlassverurteilung einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht entgegensteht (BGHSt 50, 180, 182 ff.). Er hat in jener Entscheidung ausgeführt, dass in der verfahrensrechtlichen Vorschrift des § 275 a StPO das Bestreben deutlich wird, Verfahren über den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu beschleunigen und dem Vertrauensschutz des Verurteilten Rechnung zu tragen. Um sowohl dem gesetzgeberischen Anliegen eines möglichst effektiven Schutzes der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Gewalt- und Sexualstraftätern als auch dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz für den Verurteilten hinreichend Rechnung zu tragen, ist es danach aber erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft dem Verurteilten noch während des Strafvollzugs die Einleitung ihres Prüfungsverfahrens mitteilt und sie den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung stellt, bevor die Strafvollstreckung aus dem Ausgangsverfahren beendet ist (BGHSt 50, 180, 184; 294, 290). An dieser Auffassung hält der Senat fest.
Einer solchen Auslegung der §§ 66 b StGB, 275 a StPO stehen die Gesetzesmaterialien nicht entgegen. Soweit es in der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages weitergehend sogar heißt, dass die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl (§ 275 a Abs. 5 StPO) nur in Betracht komme, solange die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil vollzogen werde bzw. die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil nicht vollständig verbüßt sei (BTDrucks. 15/3346 S. 17; ähnlich auch BTDrucks. 15/2887 S. 12), hat der Senat a.a.O. bereits ausgeführt, dass hiermit nur der Begriff der Tatsachen, die "nach einer Verurteilung ... vor Ende des Vollzuges erkennbar werden", erläutert und der Zeitraum festgelegt werden soll, in dem die neuen Tatsachen erkennbar geworden sein müssen.
Die vom Senat vorgenommene Auslegung von § 66 b StGB, § 275 a StPO ermöglicht es zum einen, bei der Entscheidung über die nachträgliche Maßregelanordnung auch solche für die Gefährlichkeitsprognose wichtigen Tatsachen noch zu berücksichtigen, die erst kurz vor dem Vollzugsende erkennbar werden. Zum anderen wird ausgeschlossen, dass der Verurteilte ohne zeitliche Begrenzung auch nach vollständiger Beendigung der Vollstreckung der Strafe aus der Ausgangsverurteilung noch mit einer nachträglichen Maßregelanordnung rechnen muss. Das Rechtsstaatsprinzip, die Grundrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Bei der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung wird an eine strafrechtlich bereits geahndete Anlasstat aus der Vergangenheit angeknüpft und damit der allgemeine Grundsatz des Vertrauensschutzes im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit zurückgestellt. Die Erwartung des Betroffenen, nach Verbüßung der verhängten Strafe die Freiheit zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zu erlangen, tritt hier gegenüber dem Schutz der Grundrechte potentieller Opfer vor Verletzungen durch potentielle Straftäter zurück. Dem von Verfassungs wegen mit einem hohen Rang ausgestatteten Freiheitsgrundrecht des Betroffenen ist aber durch verfahrensrechtliche Garantien hinreichend Geltung zu verschaffen (BGHSt 50, 284, 290). Dies gebietet es, eine Antragstellung der Staatsanwaltschaft vor vollständiger Verbüßung der Strafhaft aus der Ausgangsverurteilung zu verlangen (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 66 b Rdn. 25; Ullenbruch in MünchKomm-StGB § 66 b Rdn. 62; Zschieschack/Rau JR 2006, 8, 9 f.; Rissing-van Saan in Festschrift für Kay Nehm (2006) S. 191, 197; a.A. Folkers NStZ 2006, 426, 431). Wird der Antrag erst danach gestellt, liegt ein Verfahrenshindernis vor (Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 b Rdn. 185).
3. Die Entscheidung über eine Entschädigung des Verurteilten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen muss dem Landgericht überlassen bleiben. Die Prüfung, ob und in welchem Umfang eine Entschädigung zu gewähren ist, hat sich auf den gesamten Sachverhalt zu erstrecken, der die Strafverfolgungsmaßnahme ausgelöst hat. Die Entscheidung stellt mithin vorrangig eine tatrichterliche Aufgabe dar.
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